Integrale Interdependenz – Komplexitätsmaximierung in den Gender Studies

Rezension von Aline Oloff

Katharina Walgenbach, Gabriele Dietze, Antje Hornscheidt, Kerstin Palm:

Gender als interdependente Kategorie.

Neue Perspektiven auf Intersektionalität, Diversität und Heterogenität.

Opladen u.a.: Verlag Barbara Budrich 2007.

192 Seiten, ISBN 978–3–86649–131–1, € 19,90

Abstract: Die Frage, wie das Verhältnis von Gender zu weiteren sozialen Kategorisierungen zu konzeptualisieren ist, wird in den deutschsprachigen Gender Studies derzeit heiß diskutiert. Der vorliegende Band stellt eine Intervention in diese Debatte dar und leistet dabei vor allem zweierlei: Zum einen liefern die Aufsätze interessante Zusammenfassungen verschiedener Diskussionsverläufe und daraus hervorgehender Konzepte, zum anderen legen die Autorinnen selbst einen Entwurf vor, wie Kategorien sozialer Ungleichheit, Marginalisierung und Normalisierung in ihrer Komplexität erfasst und analysiert werden können – indem nämlich Gender selbst als inderdependente Kategorie gefasst wird.

Das Buchprojekt

In der gemeinsamen Einleitung stellen die Herausgeberinnen ihr kollektives Buchprojekt als einen Beitrag zur Debatte um Intersektionalität und Interdependenzen in den Gender Studies vor und verorten es gleichzeitig in den Diskussionen, die zu dieser Problematik im Gender-Studies-Studiengang an der Humboldt-Universität über mehrere Jahre hinweg geführt worden sind und weiterhin geführt werden. Neben der Aufbereitung der politischen Genealogien der Debatte und verschiedener theoretischer Zugänge wird hier die Konzeptualisierung von Gender als in sich interdependenter Kategorie angekündigt bzw. als allen Beiträgen zugrunde liegend ausgewiesen. Dieser Ankündigung werden die einzelnen Aufsätze in unterschiedlicher Weise gerecht. Daher wird im Folgenden zunächst auf die Darstellungen der verschiedenen Diskussionsverläufe eingegangen und daran anschließend in die konzeptuellen Erörterungen eingeführt.

Politische Genealogien der akademischen Debatten

Entgegen der sonst üblichen Ursprungserzählung, welche kritische Interventionen Schwarzer Frauen im angloamerikanischen Kontext an die Anfänge der Interdependenz- bzw. Intersektionalitätsdiskussion setzt, weist Katharina Walgenbach am Beispiel von Clara Zetkin und Mathilde Vaerting nach, dass es bereits lange vor den 1970er Jahren Bemühungen gab, verschiedene Dominanzverhältnisse zusammenzudenken. Ebenso sind hinsichtlich des Ursprungsortes alternative Erzählungen möglich, wie an den akademischen und politischen Interventionen von marginalisierten Frauen und Feministinnen im bundesdeutschen Kontext deutlich wird, mit denen Walgenbach ihren historischen Debattenrückblick fortsetzt. An Beispielen wie der Kontroverse um den § 218 oder der Auseinandersetzung mit Gewalt wird hier sehr eindrucksvoll dargestellt, wie heterogen die Positionen frauenbewegter Frauen in der BRD waren (und sind) und an welche reichen Traditionen in der akademischen Interdependenzdebatte angeknüpft werden kann.

Intersektionalität queeren – queere Analysen intersektional betrachten

Ein anderes Feld der Diskussion und Theorieentwicklung steht im Zentrum des Beitrags von Gabriele Dietze, Elahe Haschemi Yekani und Beatrice Michaelis, die das Verhältnis von Intersektionalität und Queer Theory ausloten. In einem ersten Schritt identifizieren sie Gemeinsamkeiten und Unterschiede der beiden Perspektiven, um sie dann als „korrektive Methodologien“ (S. 108) füreinander zu entwerfen: Intersektionalität würde durch einen queeren Blick für die Problematik der Kategorisierungen sensibilisiert, und queere Analysen wären durch einen intersektionalen Blick aufmerksamer für überindividuelle Hierarchisierungen und soziale Ungleichheiten. Eine sehr informative Darstellung erster Ansätze queerer Intersektionalitäten im angloamerikanischen und im deutschsprachigen Raum ergänzt diese methodologischen Überlegungen mit konkreten Beispielen.

Objektivismuskritik und multiple Subjekte

Ging es in den bisher dargestellten Diskussionsfeldern vornehmlich um die Analyse von Dominanzverhältnissen bzw. den Umgang mit Untersuchungsgegenstand und Material, so kreisen die Überlegungen und theoretischen Entwürfe im Bereich der Gender-and-Sciences-Studies um die Frage der Subjektpositionen. Inwiefern hier im Zuge von Objektivismuskritik auch Interdependenztheorie entwickelt worden ist, zeigt Kerstin Palm auf anschauliche Weise. Ihr Beitrag zeichnet zunächst die feministische Epistemologiedebatte und deren Erweiterung um Differenzkonzepte seit den 1970er Jahren nach, um schließlich den Multiple-subject-Begriff von Sandra Harding und die Entwürfe von Donna Haraway (‚verkörperte Vision‘, ‚aktive Objekte‘) als epistemologische Interdependenzkonzepte zu diskutieren. Dass es durchaus Versuche gibt, die Epistemologien von Harding und Haraway umzusetzen und für die naturwissenschaftliche Wissensproduktion produktiv zu machen, demonstrieren die spannenden Arbeiten von Biolog_innen, die Palm abschließend anführt.

Was ist eine Kategorie?

In den meisten wissenschaftlichen Verhandlungen wird allerdings nicht danach gefragt, unter welchen Bedingungen überhaupt über Interdependenz und Intersektionalität gesprochen und nachgedacht werden kann. Diese Feststellung dient Antje Hornscheidt als Ausgangspunkt, um aus linguistischer Perspektive und ausgehend von einem pragmatischen Verständnis von Sprache danach zu fragen, was überhaupt den Status einer Kategorie erlangt und wie der Prozess der Kategorisierung auf der Ebene der Sprache – genauer: der (machtvollen) Sprachnutzung – verläuft. In sprachlichen Benennungspraktiken wird sich auf Benennungskonventionen bezogen, womit soziale Ordnungsmuster permanent reproduziert und bestätigt werden. Bennungskonventionen bzw. kategoriale Benennungen sind wiederum sprachliche Einheiten, die sich in einem Aushandlungsprozess als wirkmächtige Bedeutungen durchsetzen und irgendwann unabhängig vom jeweiligen Kontext Gültigkeit besitzen. Das Sprechen über Gender und Interdependenzen in den deutschsprachigen Gender Studies identifiziert Hornscheidt als eine solche Konventionalisierung, die es zu reflektieren gilt: „Welche gesellschaftlichen und kognitiven Mechanismen führen zu einer Vorstellung von benennbaren und klar trennbaren Kategorien und von Gender als interdependenter Kategorie und welche Effekte zeitigt diese Vorstellung?“ (S. 82)

Gender als inderdependente Kategorie

Den häufig zweifelhaften Umgang mit Kategorien in der Debatte über Interdependenzen kritisiert auch Katharina Walgenbach. Im Anschluss an den oben erwähnten sehr informativen Debattenrückblick problematisiert sie anhand verschiedener Beispiele die begrifflichen Modelle, die Kategorien addieren und kombinieren. Diese würden Kategorien als isolierte, sich gegenseitig ausschließende Entitäten fassen, was wiederum die Vorstellung eines ‚genuinen Kerns‘ sozialer Kategorien perpetuiere (vgl. S. 59). Ihr ist demgegenüber wichtig, Kategorien als Ergebnisse situierter Hervorbringungen zu verstehen, von denen einige strukturelle Dominanz ausüben, indem sie Gesellschaft grundlegend strukturieren und die Lebenschancen von Individuen prägen. Dieses Verständnis liegt auch ihrem Entwurf von Gender als interdependenter Kategorie zugrunde. Sie definiert Gender als soziale Kategorie, die Ungleichheiten zwischen Männern und Frauen produziert und legitimiert, wobei sich – Gender interdependent gedacht – die sozialen Ungleichheiten nicht mehr eindimensional in Oben und Unten, Täter und Opfer, privilegiert und benachteiligt abbilden lassen, sondern sich vielmehr unterschiedlichste Positionierungen in einer multidimensionalen Machtmatrix ergeben. Neben der Möglichkeit, komplexe Beziehungen von Dominanz und Subordination zu erfassen, wird mit der Konzeption von Gender als interdependenter Kategorie zudem die Aufzählung von Kategorien obsolet. Diese werden quasi in das Innere der Kategorie verlagert, was die Vorstellung eines ‚genuinen Kerns‘ der Kategorie ad absurdum führt. Welche Aspekte der komplexen „internen Architektur“ (S. 63) der Kategorie Gender in einer Analyse letzten Endes fokussiert werden, wird wiederum vom jeweiligen Erkenntnisinteresse, dem Untersuchungsgegenstand sowie dem vorliegenden Material entscheidend beeinflusst.

Reflexivität und machtsensible Transdisziplinarität

Grundlegende Voraussetzung für das in Walgenbachs Beitrag entworfene Programm der Arbeit an und mit interdependenten Kategorien ist die Entwicklung einer machtsensiblen Transdisziplinarität, so die Autorinnen bereits in der gemeinsamen Einleitung. Nicht allein diese überaus komplexe Aufgabe erfordere den Dialog mit anderen (disziplinären) Perspektiven, sondern die Gefahr blinder Flecken, die bezogen auf eigene Privilegien und machtvolle Positionen leicht entstehen könnten, machten die permanente dialogische Reflexion des eigenen Standortes unabdingbar. Diesem Anspruch an Reflexivität und Transparenz folgen die Autorinnen vor allem in der Einleitung, welche das Buchprojekt überzeugend als Produktion situierten Wissens kenntlich macht.

Komplexitätsmaximierung

Nach der Lektüre des Buches lässt sich erahnen, was die Arbeit an und mit interdependenten Kategorien vor allem bedeutet: Komplexitätsmaximierung. Wie das Programm jedoch in konkreten Forschungsprojekten umgesetzt werden kann, wird an dieser Stelle allenfalls angedeutet. Die Stärke des Bandes liegt daher ohne Zweifel in der Breite der dargestellten Diskussions- und Theoriestränge. Für Anwendungshinweise bleibt auf die Fortsetzung dieses kollektiven Denk- und Publikationsprojektes zu hoffen.

URN urn:nbn:de:0114-qn093266

Aline Oloff

Berlin, Humboldt-Universität, Graduiertenkolleg „Geschlecht als Wissenskategorie“

E-Mail: aline_oloff@hotmail.com

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