Gruppenrechte versus Frauen-/Menschenrechte?

Rezension von Annegret Ergenzinger

Birgit Sauer, Sabine Strasser (Hg.):

Zwangsfreiheiten.

Multikulturalität und Feminismus.

Wien: Promedia Verlag & Südwind 2008.

260 Seiten, ISBN 978–3–85371–283–2, € 24,90

Abstract: Aus feministischer Sicht werden Konflikte zwischen Frauenrechten als Menschenrecht und Gruppenrechten der kulturellen Selbstbestimmung in mehrkulturellen Gesellschaften in Europa verhandelt. Sachverständige, Aktivistinnen und Wissenschaftler/-innen thematisieren die am häufigsten in der Öffentlichkeit diskutierten Spannungen: Genitalbeschneidung von Frauen, Zwangsverheiratungen, Ehrenmord, Frauenhandel und Kopftuchzwang werden als Reibungen zwischen Individual- und Gruppenrechten, zwischen Minderheits- und Mehrheitsgesellschaft diskursiv und empirisch gerahmt und an die Autonomie der betroffenen Frauen zurückgebunden.

Recht und Diskurs

Aus juristischer Sicht erörtert Elisabeth Holzleithner, welche Rechte ethnischen, religiösen und kulturellen Gruppen und welche Rechte Einzelnen in multikulturellen Gesellschaften in Europa zukommen (sollen). Das Recht bzw. der Staat habe die Aufgabe, Bedingungen von Autonomie als Abwesenheit von Diskriminierung, Zwang und Manipulation auf der einen und als Realisierung von Lebensmöglichkeiten auf der anderen Seite zu garantieren – und zwar sowohl für Gruppen wie für Einzelne. Während häufig bereits bestehende religiös-kulturelle Regelungen ausreichen würden, um z. B. Nichtdiskriminierung und Vereinigungsfreiheit für eine Gruppe und ihre einzelnen Mitglieder zu garantieren, bildeten Regelungen eine Grauzone, die einzelne Mitglieder einer Minderheitengruppe staatlicherseits vor vermeintlichem oder tatsächlichem Gruppenzwang schützen sollen. Ein Beispiel seien die widersprüchlichen Kopftuchregelungen in Europa, die Gruppenzwang unterstellten und selbst Diskriminierungen von betroffenen Frauen durch das Kopftuchverbot nach sich zögen. Die Autorin hält fest, dass das Verhältnis von kollektiver und individueller Autonomie nicht ein für alle Mal zu klären ist. Die Komplexität der Problemstellungen gebiete Falllösungen, die die jeweiligen Kontexte berücksichtigen müssten.

Als eine staatliche Eingriffsmöglichkeit stellt Tamar Citak das österreichische Gewaltschutzgesetz und die Interventionsstelle gegen Gewalt in der Familie – eine Opferschutzeinrichtung – vor, kommt aber zu dem Schluss, dass diese vorbildlichen Maßnahmen für Migrantinnen nur wenig greifen. Als Hauptursache nennt sie Restriktionen, denen diese in Österreich (und nicht nur dort) unterliegen: Weil viele kein eigenständiges Aufenthaltsrecht, kein eigenes Einkommen, keine deutschen Sprachkenntnisse besitzen, müssten sie letztendlich das Land verlassen, wenn sie sich hilfesuchend an eine öffentliche Einrichtung wenden. Strukturelle Gewalt schaffe Verletzungsoffenheit und eben nicht Opferschutz.

Auch Gamze Ongin macht aus der Perspektive einer Beratungseinrichtung strukturelle Bedingungen dafür verantwortlich, dass Zwangsheiraten nicht effektiv bekämpft werden können. Im Vergleich zum öffentlichen Umgang mit diesem Problem in der Türkei stellt sie fest, dass es im europäischen ‚Sensations‘diskurs darum geht, die Migrantinnen als Opfer ihrer mitgebrachten Gewaltkultur gegenüber der eigenen gewaltlosen Kultur zu markern und damit von der eigenen strukturellen Gewalt, der Fremdengesetzgebung, abzulenken.

Kultur und Gewalt

Gegen einen derartigen essentialistischen unhistorischen Kulturbegriff, der in multikulturellen Gesellschaften Europas in einen gefährlichen kulturalistischen Gewaltbegriff gemündet sei, wendet sich Birgit Sauer: Gewalt werde so zur Gewalt der ‚Anderen‘. Minderheiten, insbesondere Frauen der ‚Anderen‘ würden zu hilflosen Opfern stilisiert, die auch gegen ihren Willen aus ihrer Unterdrückung befreit werden müssten. Die Autorin plädiert für einen nichtkulturalistischen feministischen Gewaltbegriff, der neben symbolisch-kultureller auch direkte Gewalt und strukturelle Gewalt – wie sie u. a. durch Armut, fehlende Erwerbs- und Bildungschancen, weibliche ökonomische Abhängigkeit, Aufenthaltsrestriktionen und staatsbürgerliche Unmündigkeit entstehe (S. 56) – integriert. Strukturelle und kulturelle Ungleichheiten seien als intersektionelle positionale und kulturelle Differenzen nach Iris Marion Young (2003) in die Analyse von Gewalt gegen eingewanderte Frauen einzubeziehen. Auf gesellschaftlicher Ebene müsse die Sicht der Betroffenen berücksichtigt werden. Die Stimme und Repräsentation von Migrantinnen in der Mehrheitsgesellschaft und auch in der eigenen Gruppe sei gewichtig zu machen. Ihre Entscheidung, aus einer Gemeinschaft auszusteigen, um sich von Gewalt zu befreien, müsse begleitet sein von strukturellen gesellschaftlichen Bedingungen, die den Ausstieg überhaupt möglich machten.

Christa Markom und Ines Rössl untersuchen den Exit, also den Ausstieg aus Zwangssituationen und -mitgliedschaften am Beispiel von Zwangsverheiratungen. Den Ausstieg als eindeutigen Bruch mit bisherigen Lebenskonzepten und Zugehörigkeiten zu definieren und Flucht als einzige Handlungsalternative darzustellen, halten die Autorinnen für zu starr. Im Abgleich mit Expertinneninterviews konzipieren sie den Exit aus Zwangsehen als Prozess. Die Bedingungen bzw. individuellen, sozialen und normativen Kosten eines Ausstiegs seien sehr unterschiedlich und könnten auch besagen, dass das Mädchen in der Familie bleibe, weil sie sich mit ihrer Stimme durchsetzen oder nach dem Exit wieder Kontakt zur Familie aufnehmen könne. Diese Sicht, die nicht nur den Ausstieg, sondern auch Bleibenkönnen in Betracht zieht, ist anschlussfähig an Albert O. Hirschmans Konzept von „Exit, Voice and Loyality“.

Gewalt im Namen der Ehre

Sabine Strasser zeichnet zunächst in ihrem Beitrag die Diskurskarrieren von Ehre in Europa nach. Ehre wird hier als Teil von kulturellen Traditionen verstanden, deren Bewahrung bzw. Wiederherstellung notwendigerweise an Kontrolle bzw. Gewalt gegen Frauen geknüpft sei. Gewalt im Namen der Ehre oder sogenannte traditionelle Gewalt führe in diesem Verständnis aber nicht nur zu einer Dichotomisierung von Kultur als gewaltvoll, patriarchalisch, islamisch, terroristisch für die Einwanderergruppe und als gewaltfrei, geschlechteregalitär für die einheimische Mehrheitsgruppe. Der fremdenfeindliche Diskurs mache zudem Kultur zu einem unabänderbaren, und starren, monolithischen Gebilde, eine verzerrte Perspektive, die auch gleichermaßen in der multikulturalistischen Debatte eingenommen werde. Zwar seien Kulturen in der Praxis nicht so flüchtig und rasch veränderbar, wie im Dekonstruktivismus gedacht, doch seien sie auch nie aus einem Guss. Mitglieder einzelner Kulturen würden sich nach außen eher als einheitlich darstellen und den Mainstream repräsentieren. Nach innen agierten sie jedoch flexibel, vielstimmig und zeigten, dass Identitäten ständig ausgehandelt würden. Auch die diversen Konzepte der Ehre seien deshalb besser von innen als vielfältige Praktiken der Anerkennung zu erschließen. Für deren Untersuchung schlägt Strasser das Konzept eines schwachen, empirischen Kulturrelativismus vor. Über einen empirisch-praktischen Zugang werde nicht nur das Ideal des Wertekanons rekonstruierbar, sondern auch abweichende und minoritäre Positionen aus dem Inneren der Gruppe. Die Umsetzung von Ehre in der Praxis könne ohnehin recht weit vom Ideal entfernt sein.

Dieser Untersuchungsmaxime folgt auch Unni Wikan, die den Ehrenmord an Fadime Sahindal, einer schwedisch-kurdischen Studentin, rekonstruiert. Sie beschreibt die Verstrickungen und Zwänge der Familienmitglieder bzw. der Großfamilie, die das Ideal des Ehrekonzepts – den Ehrenmord – vor den Augen der Clanöffentlichkeit, aber auch der Medienöffentlichkeit schließlich umsetzen müssen, um ihre Ehre wiederzugewinnen – ihre Tochter war eine Verbindung zu einem Schweden eingegangen. Gleichzeitig werden durch die sorgfältige Rekonstruktion der Praxis gewaltfreie Handlungsformen sichtbar gemacht, die die verlorene Ehre hätten zurückbringen können.

Physische und strukturelle Gewalt

Corinna Milborn und Sawitri Saharso befassen sich jeweils mit Genitalbeschneidung bzw. Genitalverstümmelung von Frauen und den Folgen für die Mädchen und Frauen. Das Thema dieser weltweit praktizierten Praktiken werde in der Öffentlichkeit als Medium von Mehrheits- wie von Minderheitenseite genutzt, um durch Grenzziehungen zwischen Identitäten des Eigenen und des abzulehnenden Anderen bzw. Fremden zu unterscheiden. Der wichtigste Konsens der beiden Autorinnen besteht darin, dass die (potentiell) betroffenen Töchter und Eltern im Zentrum einer effektiven und materiell gut unterstützten Präventionsarbeit stehen sollten und die Stimme der Betroffenen gehört werden solle, wobei eine Zusammenarbeit von indigenen und internationalen Frauenorganisationen unverzichtbar sei. Während aber Milborn das gesetzliche Verbot der Körperverletzung durchgesetzt sehen will, ohne die Opfer zu verprellen oder zu traumatisieren, geht Saharso davon aus, dass zur Abschaffung der Genitalbeschneidung ein Verbot kontraproduktiv ist. Präventionsarbeit solle zudem die Praktiken und nicht die Kulturen verurteilen.

Cristina Boidi und Faika Anna El-Nagashi stellen als sachkundige Vertreterinnen einer Frauen- und Migrantinnenorganisation fest, dass trotz der Verabschiedung der Konventionen gegen Frauenhandel von UN (2000) und EU (2005), die Menschenhandel bekämpfen und Opferschutz gewähren sollen, viele unrühmliche Sichten im westlichen und feministischen Diskurs überlebt haben. In der öffentlichen Wahrnehmung werde noch immer Frauenhandel mit Prostitution gleichgesetzt, obwohl er sich doch auch z. B. auf weibliches Hauspersonal erstrecke. Betroffene von Frauenhandel seien entweder ahnungslose Opfer oder den männlichen Tätern zuzurechnen, sofern sie zunächst freiwillig in Sexarbeit eingewilligt hätten. Diese verzerrte Sicht von ethnisch Anderen, die entweder als Opfer oder Täter in einem kriminellen Kontext verortet seien (S. 188), verstelle den Blick für die realen Verbrechen, Ausbeutungsmechanismen und Lebensbedingungen. Die Subjektperspektive sei auch heute für die Arbeit mit Betroffenen anzumahnen, sie habe nicht nur in historischen Diskursen und Konventionen zu Frauenhandel gefehlt, wie auch Jürgen Nautz in einem weiteren historischen Beitrag zum Thema wiederholt. Häufig werde auch die Verschränkung mit der Migranten- und Zuwanderungspolitik übersehen. Die wenigen Opferschutzeinrichtungen könnten Betroffene von Frauenhandel nur eingeschränkt zu Empowerment ermutigen, weil strukturelle Hilfen fehlten: Aufenthaltsberechtigung und von Ehemännern unabhängige Aufenthaltstitel.

Kopftuchstreit

Zeynap Elibol analysiert den Kopftuchstreit aus einer Perspektive des islamischen Feminismus. Das Kopftuch werde von Gegnern und Befürwortern politisch instrumentalisiert, obwohl Kleidungsvorschriften kein Grundelement des Islam seien. Die Autonomie von muslimischen Frauen – nicht nur – in dieser Frage sei entscheidend. Frauen, die sich freiwillig für das Kopftuch entschieden hätten, verbänden mit dem Tragen des Kopftuches ihre Emanzipation und Loslösung vom Patriarchat, die Distanz zur männlich dominierten Welt ermögliche ihnen eine Entfaltung im eigenen Raum. Im Islam werde die Wahrnehmung von Frauenrechten durch das Tragen eines Kopftuches nicht verhindert, und die Energie solle– auch in Europa – besser darauf gerichtet werden, dass weibliche Befreiung von männlichen Fremdzuschreibungen und herabsetzenden Selbstzuschreibungen aller Art durch Chancengleichheit in Bildung, Beruf und Öffentlichkeit möglich werde.

Ebenfalls anhand des Kopftuchstreits untersuchen Nora Gresch und Leila Hadj Abdou die Wirkungen von unterschiedlichen Gleichheitsverständnissen im liberalen, im multikulturellen und im postkolonialen feministischen Diskurs. Anhand des kulturell gemachten Unterschieds zwischen kopftuchtragenden und barhäuptigen Frauen werde die unterdrückerische Praxis von Zuwanderergruppen den angeblichen Gleichheitspraxen der Einheimischen gegenübergestellt. Die Kulturalisierung von Geschlechterungleichheit reproduziere weitere alte Ungleichheitsstrukturen, die mithilfe der Theorie der positionalen und kulturellen Differenz (Young 2003) intersektionell verbunden werden könnten.

Schlussfolgerungen

Johannes Heiss zeichnet in seinem Aufsatz historische Diskurse nach, die Anderen abzuwerten und das Eigene durch Grenzziehungen jeglicher Art aufzuwerten. Er kommt zu dem deprimierenden Schluss, dass wir alle auch heute Identität und deshalb Abgrenzungen bräuchten und die Anderen ausschließlich mit vor gefassten (eurozentristischen) Meinungen wahrnehmen könnten. Nur durch nachträgliche Reflexion dieses Tatbestandes könne „diese unglückliche Situation einigermaßen entschärft“ werden (S. 235). Die Möglichkeit, Andere als anders wahrzunehmen, also Grenzen zu ziehen, ohne Fremdes abzuwerten und Eigenes damit aufzuwerten, bleibt allerdings außer Betracht.

Im abschließenden Beitrag fasst Anne Phillips die gängigen Lösungsstrategien des Dilemmas, Gruppen- und Individualrechte zu vereinbaren, zunächst in zwei Argumentationsfiguren zusammen. Die erste Figur der „RichterInnen“ bringe Gruppen- und Menschenrechte in eine Hierarchie: In der feministischen Literatur werde dem Recht der Frauen gewöhnlich Vorrang gegeben (manchmal in ungewollter Koalition mit rassistischen Positionen), jenseits davon spielten oft Gruppenrechte die größere Rolle. Diese Lösungsstrategie unterlegt die Normen der Dominanzkultur. Für die zweite Figur der „DemokratInnen“ sei die deliberative Argumentation maßgeblicher Lösungsweg. Im Dialog zwischen und innerhalb von Mehr- und Minderheitsgruppen werde die Antwort auf Wertekonflikte zwischen Gruppen- und Individualrechten gefunden, was aber von der Autorin als konfliktverstärkend und außerdem zu umständlich eingeschätzt wird. An beiden Ansätzen sei aber hauptsächlich zu kritisieren, dass sie die Wertekonflikte über- und die politischen Konflikte völlig unterschätzten. Ann Phillips hält deshalb eine dritte Argumentationsfigur, die der „politischen AktivistInnen“, für zentral. Diese könnten z. B. das Thema der Zwangsheirat von einer Politik der Zuwanderungsbegrenzung fernhalten oder verstünden es, Geschlechterparität nicht für eine Politik der Militärinterventionen missbrauchbar zu machen. Auch die Anrufung von „traditioneller Kultur“ verbiete sich aus dieser Perspektive, trenne sie doch Geschlecht von Kultur und werde auf diese Weise Gewalt gegen Frauen zu Kultur.

Fazit

Der gemeinsame Startpunkt der fünfzehn Beiträge ist zunächst das Verwerfen von dominanten Diskursen: Weder die ignorante Toleranz von Menschenrechtsverletzungen im Namen von kulturellen Gruppenrechten noch die Indienstnahme der Idee der Geschlechtergleichheit/Geschlechtergleichwertigkeit für Rassismen aller Art taugt als Antwort auf Probleme multikultureller Gesellschaften. Die vorgeschlagenen und gegangenen Wege verschränken Individual-/Frauenrechte und Gruppenrechte auf unterschiedliche Weise. Alle Beiträge genügen jedoch den selbst aufgestellten methodologischen und politischen Anforderungen in diesem Feld: Sie verlangen nach politischer, sozialer und kultureller Kontextsensibilität, die Probleme werden in Macht-Strukturen und Macht-Diskurse eingebettet und müssen sich als empirisch gesättigt beweisen. Nicht zuletzt werden die Stimmen der betroffenen Frauen zentral.

URN urn:nbn:de:0114-qn093159

Annegret Ergenzinger

Institut für Biographie- und Kulturanalyse (ibika)

E-Mail: ergenzin@uni-bremen.de

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