Nadja Lehmann:
Migrantinnen im Frauenhaus. .
Biographische Perspektiven auf Gewalterfahrungen.
Opladen u.a.: Verlag Barbara Budrich 2008.
330 Seiten, ISBN: 978–3–86649–159–5, € 33,00
Abstract: Nadja Lehmann zeigt mit ihrer Untersuchung zu Migrantinnen im Frauenhaus, welche Bedeutung intersektionelle Herangehensweisen für die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Problem der häuslichen Gewalt und hier insbesondere für die Forschung zu Gewalt gegen Migrantinnen haben. Sie setzt der im deutschen wissenschaftlichen und öffentlichen Diskurs noch immer so bedeutenden „Kulturdefizithypothese“, in der die häusliche Gewalt gegen Migrantinnen als in der Kultur des jeweiligen Herkunftslandes begründet angesehen wird, den Nachweis entgegen, dass dieser Gewalt vielschichtigere Ursachen zugrunde liegen.
In ihrer Einleitung verweist die Autorin auf die Bedeutung gewaltförmiger Strukturen im Geschlechterverhältnis und auf diesbezügliche Forschungsdefizite, beschreibt zugleich die besondere Situation, in der sich Migrantinnen mit Gewalterfahrungen befinden, und führt in die Besonderheiten der Frauenhausarbeit ein, die gewissermaßen das ‚Setting‘ ihrer Forschung bildet. Sie zeichnet die Entstehung der Frauenhäuser im Rahmen der neuen Frauenbewegung der 1970er Jahre nach. Durch diese gelangte Gewalt gegen Frauen überhaupt erst aus dem privaten Raum in das öffentliche Bewusstsein. Zugleich macht die Autorin deutlich, dass der mit der Entstehung der Frauenhäuser verbundene Diskurs zur ‚Frau als Opfer‘ problematisch ist, da dieser eine Homogenisierung der Gruppe ‚Frau‘ vornehme, die in realen gesellschaftlichen Verhältnissen keine Entsprechung finde. Außerdem lasse er andere relevante Unterdrückungsverhältnisse wie ‚Rasse‘, Ethnizität, Klasse etc. unbeachtet, so dass folglich auch die besondere Situation von Migrantinnen mit Gewalterfahrungen nicht adäquat erfasst werden könne. Nadja Lehmann unterstreicht, dass sie in erster Linie eine intersektionelle Perspektive einnehmen möchte, die nicht allein auf Gewalt gegen Frauen als Ausdruck unterdrückender Geschlechterverhältnisse rekurriert, sondern die andere gesellschaftliche Macht- und Herrschaftsstrukturen einbezieht.
In ihren theoretischen Ausführungen geht Lehmann zunächst auf den deutschen Diskurs ein. Hier hält sie fest, dass die Diskussion zur Situation von Migrantinnen im Frauenhaus in Deutschland noch immer durch die „Kulturdefizithypothese“ der ersten Phase der Migrantinnenforschung geprägt ist, die Ursachen für das Auftreten von häuslicher Gewalt bei Migrantinnen also überwiegend in kulturellen Defiziten gesehen werden. Die Autorin hält dem entgegen, dass zum einen ein Teil der betroffenen Migrantinnen Gewalt in einer Beziehung zu einem deutschen Mann erlebt habe und dass zum anderen ausgeblendet werde, dass die Erfahrungen von häuslicher Gewalt oft in Zusammenhang mit den besonderen Bedingungen der Migration stehen.
Sich abgrenzend von dieser eingeschränkten Sichtweise befasst sich die Autorin mit internationalen Analysen zu gewaltbetroffenen Migrantinnen. Vor allem Forschungen aus den USA werden von ihr als besonders gewinnbringend für den deutschen Diskurs dargestellt. Dort hat sich ‚Race‘ als wissenschaftliche Analysekategorie parallel zur Analysekategorie ‚Geschlecht‘ entwickelt. Die Einbeziehung der Kategorie ‚Race‘ richtet sich kritisch gegen eine universalisierende Geschlechterperspektive und ermöglicht eine intersektionelle Perspektive. Dabei hebt die Autorin hervor, dass durchaus auch in vielen US-amerikanischen Studien eine kulturalisierende Perspektive eingenommen wird, dass aber – anders als in Deutschland – dort deutlicher Kritik an diesem Ansatz formuliert wird und die Intersektionsanalyse mit ihrer Verknüpfung verschiedener Ungleichheitsstrukturen deutlich mehr Raum einnimmt, als dies für den deutschen Diskurs gilt.
In einem Zwischenfazit beurteilt Lehmann den deutschen feministischen Gewaltdiskurs als wenig differenziert und nicht kontextualisiert und kritisiert, dass er dadurch von einem homogenen Gesamtsubjekt ‚Frau‘ ausgehe. Sie fordert eine Differenzierung und Pluralisierung und verweist auf dekonstruktivistische Feminismen, die mittlerweile auch in Deutschland als paradigmatisch für die feministische Theoriebildung gelten können. Besonders geht die Autorin hier auf die Theorie Judith Butlers ein und stellt Bezüge zum feministischen Poststrukturalismus und zur Machttheorie Michel Foucaults her, die es ermöglichen, Frauen nicht nur als Opfer unterdrückender gesellschaftlicher Strukturen zu betrachten, sondern ihnen den Status handelnder Subjekte zurückgeben. Dieser Status der Frau als handelndes Subjekt wirft auch die Frage der Täterinnenschaft auf, die in der feministischen Forschung vor allem in den 1980er und 1990er Jahren kontrovers diskutiert wurde. Der Kritik an diesem Ansatz von Seiten der feministischen Gewaltforschung, dass in dieser Perspektive die Verantwortung für Gewalthandlungen nicht mehr klar definiert sei und der erkämpfte politische Handlungsspielraum wieder verloren gehe, begegnet die Autorin mit dem Verweis darauf, dass die Thematisierung von Frauen als Opfern und Männern als Tätern strukturelle Gewaltverhältnisse vereindeutige und die komplexen Zusammenhänge von Gewalthandeln verdecke, die insbesondere für die Situation von Migrantinnen gelten.
Im nächsten Teil der Arbeit präsentiert die Autorin ihren methodischen Zugang: die qualitative Biographieforschung, wie sie etwa in den Arbeiten von Gabriele Rosenthal verwendet wird. Biographien werden hier als Lebensgeschichten verstanden, die in den gesellschaftlichen Kontext eingebettet werden, um darüber eine Generalisierung des Einzelfalls möglich zu machen. Besonders betont Nadja Lehmann, dass die Biographieforschung eine „Doppelperspektive“ in den biographischen Interviews sichtbar machen kann, da die Interviewten nicht nur ihr eigenes Erleben beschreiben, sondern ihre biographischen Konstruktionen zugleich auch in relevanten gesellschaftlichen Diskursen verorten und dadurch die dort vorhandenen Machtstrukturen reflektieren. Die Autorin verfolgt hierbei die zentrale Fragestellung, wie sich Frauen mit der Gewalterfahrung im biographischen Kontext auseinandersetzen, welche biographischen Konstruktionen sie dazu entwickeln, welche Bewältigungsstrategien sie haben, welchen Einfluss das Geschlechterverhältnis hat und welche Bedeutung andere Gewalt- und Unterdrückungserfahrungen für die Auseinandersetzung mit der Gewalterfahrung in der Paarbeziehung haben.
Dazu führte die Autorin zwischen 1999 und 2004 15 offene Interviews mit Frauen, die zwischen 21 und 50 Jahren alt waren und unterschiedliche Herkunftskontexte hatten, und wertete diese mit Hilfe der objektiven Hermeneutik bzw. der biographischen Fallrekonstruktion nach Gabriele Rosenthal aus. Die Autorin verweist darauf, dass zur Auswertung der Interviews – orientiert an der „grounded theory“ – eine systematische Auswahl getroffen wurde, die eine komparative Analyse auf Grundlage des maximalen Vergleichs ermöglichte.
Im Anschluss an ihre Ausführungen zum methodischen Zugang präsentiert die Autorin drei Einzelfalldarstellungen, die feinanalytisch von ihr bearbeitet wurden und schlüssig von ihr dargestellt werden. Dabei zeigt die Autorin verschiedene Unterdrückungs- und Gewalterfahrungen, die nicht allein im Geschlechterverhältnis begründet liegen, sondern häufig aus einem Konglomerat an verschiedenen Unterdrückungsmechanismen bestehen. Die Autorin fasst ihre Ergebnisse schließlich in einer Typologie zusammen, die sich aus drei Haupttypen zusammensetzt; die Thematisierung der Gewalterfahrung wird zum einen auf gesellschaftlicher Ebene verortet, zum zweiten auf der Ebene der Herkunftsfamilie und zum dritten als singuläre Ausgrenzungs- und Unterdrückungserfahrung interpretiert. Die Autorin diskutiert diese Typologie vor dem Hintergrund ihrer zu Beginn der Untersuchung eingeführten theoretischen Überlegungen, wobei sie insbesondere die Bedeutung der Intersektionalität, also das Zusammenspiel verschiedener gesellschaftlicher Unterdrückungserfahrungen, immer wieder hervorhebt.
Insgesamt hätte die Rückkopplung der Ergebnisse dieser ansonsten sehr ausführlichen und reflektierten Untersuchung an den theoretischen Rahmen ausführlicher sein können. Vor allem die Auseinandersetzung mit machttheoretischen Überlegungen, wie sie in der theoretischen Grundlegung der Untersuchung vorgestellt werden, fehlt in der Betrachtung der Ergebnisse fast völlig. Dennoch bleibt hervorzuheben, dass hier eine Verbindung zwischen feministischer Gewaltforschung und Migrationsforschung geknüpft wird und dass sich die Autorin zudem kritisch mit der im öffentlichen Diskurs noch immer hegemonialen Kulturdefizithypothese auseinandersetzt und die Bedeutung eines intersektionalen Zugangs betont, der nicht nur für die akademische Bearbeitung dieses Themas von Bedeutung ist, sondern auch für die Arbeit mit den betroffenen Frauen selbst.
URN urn:nbn:de:0114-qn093206
Dipl.-Soz. Christina Herkommer
Freie Universität Berlin, Institut für Soziologie, Homepage: http://www.polsoz.fu-berlin.de/soziologie/mitarbeiter/c_akademische/herkommer.html
E-Mail: herkom@zedat.fu-berlin.de
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