Westliche und muslimische Geschlechter?

Rezension von Stanislawa Paulus

Ursula Mihçiyazgan:

Der Irrtum im Geschlecht.

Eine Studie zu Subjektpositionen im westlichen und im muslimischen Diskurs.

Bielefeld: transcript-Verlag 2008.

286 Seiten, ISBN 978–3–89942–815–5, € 29,80

Abstract: Mihçiyazgan geht der Frage nach wie Differenzen in männlichen und weiblichen Subjektkonstutionen im Westen und im Islam empirisch erfasst werden können. Hierbei verfolgt sie eine antiessentialitische Perspektive, in der sie sich zentral auf Judith Butler und Michel Foucault bezieht. Über beide hinausgehend entwickelt sie ein Modell pluraler Diskurse, mit dessen Hilfe kulturelle bedingte Geschlechterkonstruktionen verstehbar werden. Anhand einer Untersuchung von Interviews, in der sie interaktionsanalytische und diskursanalytische Herangehensweisen verbindet, macht sie unterschiedliche Zonen des Sagbaren und Unsagbaren in westlichen und muslimischen Geschlechterdiskursen sichtbar.

Kulturspezifische Geschlechterkonstitutionen

„Ist es Ihnen schon mal passiert, dass sie dachten, jemand sei eine Frau und es war ein Mann, oder dass Sie dachten, jemand sei ein Mann und es war eine Frau?“ (S. 42)

„Hiç basina böyle bir sey geldi mi: Kadin diye bakarken erkek çikti veya erkek diye bakarken kadin çikti?“ (S. 43)

Mit diesen Interviewfragen hat sich Ursula Mihçiyazgan auf den Weg gemacht, kulturelle Differenzen in der Konstitution des vergeschlechtlichten Subjektes zu untersuchen. In Rekurs auf Judith Butlers Ablehnung einer universal gedachten Kategorie ‚Frau‘ sowie auf ihren Hinweis, dass Geschlechtsidentität niemals herausgelöst aus den „kulturellen Vernetzungen […], in denen sie beständig hervorgebracht und aufrechterhalten wird“ (Butler, Judith: Das Unbehagen der Geschlechter. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1991, S. 7), betrachtet werden kann, zielt Mihçiyazgan darauf, eine Differenz der Konstruktion von Zweigeschlechtlichkeit im westlichen und islamischen Diskurs aufzuzeigen. Hierbei verfolgt sie eine antiessentialistische und diskurstheoretische Perspektive. Ihre Forschungsfrage formuliert sie wie folgt: „Worin unterscheiden sich die Darstellungen der Wahrnehmungen eines fremden Körpers von Deutsch und Türkisch sprechenden Frauen und Männern“ (S. 42)?

Diese Fragestellung wirft einige Kritik hinsichtlich des Anspruchs einer antiessentialistischen Perspektive auf, u. a. scheint hierin die Gegebenheit von zwei Geschlechtern und von eingrenzbaren Kulturen vorausgesetzt. Mihçiyazgan arbeitet jedoch mit der Kritik an ihren Voraussetzungen: In Anschluss an eine Darstellung feministischer Auseinandersetzungen um die Kategorie Geschlecht – von Irigary über den Streit um Differenz (vgl. Benhabib, Sheyla et al.: Der Streit um Differenz. Frankfurt a. M.: Fischer 1993) zu Butler – akzentuiert die Autorin ihre Forschungsfrage neu. Sie lenkt die Aufmerksamkeit ihrer Analysen auf die vergeschlechtlichte Selbstkonstitution der Interviewten im Reden über die abgefragte Situation. Mit einem Überblick über verschiedene Dimensionen postkolonialer und feministischer Kritik am Kulturkonzept distanziert sich Mihçiyazgan zudem von der Annahme gegebener Kulturen, da diese unweigerlich mit Differenzkonstruktionen und Hierarchisierungen einhergehe. Anschließend zeichnet sie verschiedene Subjektkonzepte im Konstruktivismus und in diskurstheoretischen Ansätzen nach. Foucault und Butler folgend, versteht sie das Subjekt als Effekt von Diskursen und betont dessen diskursimmanente Position.

Das Modell der Trennungslinien

Um fassbar zu machen, dass es außerhalb der westlichen Kultur historisch bedingte Denk- und Erfahrungshorizonte gibt, die bedeutsam für die Subjektbildung seien, entwirft Mihçiyazgan ein Modell der Trennungslinien (vgl. S. 13 ff., S. 272). Sexualitäts- und Geschlechterauffassungen divergierten zwischen dem Westen und dem Islam. Westliche Vorstellungen zeichneten sich durch eine horizontale Geist-Körper-Trennung des Subjekts aus, in der Sexualität als etwas Niederes abgewertet werde. Das westliche Subjekt konstituiere sich in einer Wissensbildung über Sexualität, d. h. über eine scientia sexualis (Foucault) als Begehrenssubjekt. Das muslimische Subjekt sei hingegen durch eine vertikale Geschlechtertrennung charakterisiert. Sexualität gelte als vitale, zu lebende Energie und als Vorgeschmack auf das Paradies. Um diese zu zügeln, sei eine soziale Trennung der Geschlechter in einem Zwei-Körper-Schema als Vorsichtsmaßnahme wesentlich. Das muslimische Subjekt konstituiere sich hierin als Praxissubjekt der Liebeskunst.

Pluralität von Diskursen

Mihçiyazgan versteht religiös-kulturelle Differenzen als diskursiv bedingte. Sie verweist auf unterschiedliche Regeln (Foucault) bzw. Befehle (Butler) für ein intelligibles Reden als Subjekt (S. 193 ff.). Um als verstehbare Person Geltung beanspruchen zu können, müsse der Befehl, als Frau oder als Mann zu sprechen, befolgt werden. Anhand von Interviewanalysen, die sie mithilfe einer Methodenkombination aus Interaktions- und Diskursanalyse durchführt, zeigt Mihçiyazgan darüber hinaus für türkische und deutsche Personen divergente Regeln des vergeschlechtlichten Redens auf. Sie betont das Vorhandensein einer Pluralität von Diskursen, in denen sich Subjekte in Hinblick auf ein gegengeschlechtliches Objekt unterschiedlich positionieren müssten; auch Foucault und Butler seien von einer Vielzahl von Diskursen ausgegangen, hätten dieser in ihren Analysen jedoch nicht systematisch Rechnung getragen. Mihçiyazgan zielt darauf ab, diese Lücke zu schließen, indem sie Diskurse als unterschiedliche Felder konzipiert, die Schnittmengen des Sagbaren oder Unsagbaren bilden, in Teilen jedoch immer unvereinbar bleiben (vgl. S. 222 ff.). Entsprechend entstünden Subjektpositionen, die im muslimischen Diskurs intelligibel, im westlichen hingegen ausgegrenzt seien (vgl. S. 235 ff.). Sie arbeitet heraus, dass muslimische Frauen einer Regel folgen, die ihnen sowohl im muslimischen wie im westlichen Diskurs Intelligibilität ermögliche. Beide Diskurse beinhalteten für eine weibliche Position die Regel der Distanz bzw. des Desinteresses an einem männlichen Objekt. Die Regeln der Subjektivierung muslimischer Männer erschienen im westlichen Diskurs hingegen unverstehbar, was zu deren Ausgrenzung führe. Begründet liege dies in dem Befehl der westlich-männlichen Subjektivierung, aus einer Distanz Interesse am gegengeschlechtlichten Objekt zu bekunden. Die männliche muslimische Subjektbildung erfordere hingegen eine gelungene Annäherung an dieses Objekt. Die diskursive Ausgegrenztheit muslimischer Männlichkeit aus dem westlichen Diskurs befördere ein Potenzial (überwiegend nicht gewalttätiger) islamistischer (Selbst)Behauptungsstrategien (vgl. S. 267).

Fazit

Eine Stärke von Mihçiyazgans Studie liegt darin, dass sie die Wirksamkeit unterschiedlicher Regeln der Subjektivierung an einem (lokalen) Ort aufzeigt. Deutlich wird, dass diejenigen, die in mehreren Diskursen sprechen müssen, u. U. in ein unauflösbares Dilemma geraten, da sie aufgrund unvereinbarer Befehle des intelligiblen Sprechens immer gleichzeitig in einem Diskurs das Sagbare und in einem anderen das sanktionierte Unsagbare sagen (vgl. S. 268). Dies rückt eine diskursive Dimension sozialer Ausgrenzung ins Licht. Mihçiyazgan leistet zudem einen Beitrag zur Diskussion der Diskursanalyse als eigenständiger Methode der qualitativen Sozialforschung und eröffnet die Möglichkeit einer präziseren Konzeptualisierung des Ineinandergreifens von Diskursen.

Ihr Modell fasst Grenzziehungen des Sagbaren jedoch zu statisch und eindimensional. Intelligibilität stellt sich prozesshaft und kontextabhängig her. Sie ist nicht nur kulturell eingelassen, in ihr sind auch Wirkungen von „ethnischen, sexuellen, regionalen und klassenspezifischen Modalitäten“ (Butler 1991, S. 18) zu finden. Vergeschlechtlichung findet zudem nicht nur in Bezug auf ein Begehrens- bzw. Liebesobjekt statt. Diese Vielschichtigkeit macht es schwierig, von spezifischen Subjektpositionen in einem westlichen oder einem muslimischen Diskurs auszugehen, und erfordert ebenso, die These der islamistischen Antwort muslimischer Männer auf westliche Ausgrenzungen differenziert zu überprüfen. Bei Annahme statischer diskursiver Grenzen westlicher und muslimischer Sagbarkeiten droht die Gefahr, antiessentialistisch gedachte Differenzen erneut auf kulturalistische, hierarchisierende Weise festzuschreiben.

URN urn:nbn:de:0114-qn093279

Stanislawa Paulus

Leuphana Universität Lüneburg, Institut für Kommunikationswissenschaft und Medienkultur, Homepage: http://www.leuphana.de/ifkm

E-Mail: spaulus@uni.leuphana.de

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