Anette Dietrich:
Weiße Weiblichkeiten.
Konstruktionen von „Rasse“ und Geschlecht im deutschen Kolonialismus.
Bielefeld: transcript-Verlag 2007.
428 Seiten, ISBN 978–3–89942–807–0, € 29,80
Abstract: Die Geschichte der deutschen Nation, ihres kolonialen Projektes sowie des Rassismus wurde bislang jeweils als eine Geschichte der systematischen Exklusion von Frauen geschrieben. Neuere Forschungen haben demgegenüber auf das Engagement und die Beteiligung weißer Frauen in Kolonie und Metropole hingewiesen. Anette Dietrich geht in ihrer sehr dichten und gründlich recherchierten Monographie noch einen Schritt weiter: Sie untersucht die konzeptionellen Verbindungen zwischen den Debatten um Emanzipation, den Identitätsentwürfen der bürgerlichen Frauenbewegung und den Diskursen um Nation, Kolonie und ‚Rasse‘.
In ihrem 1913 erschienenen Buch Die deutsche Frau im Auslande und in den Schutzgebieten plädierte die Kolonialaktivistin Leonore Nießen-Deiters vehement für ein aktiveres Engagement der bürgerlichen Frauenbewegung im deutschen Kolonialprojekt. Die Beteiligung an diesem für die Nation als Ganzes überaus bedeutsamen Unternehmen sei die beste Möglichkeit, die eigenen Forderungen nach sozialer und rechtlicher Gleichberechtigung durchzusetzen. „Begreift aber die deutsche Frauenwelt frühzeitig und klar die ungeheure Bedeutung des Interesses für das Auslandsdeutschtum, die Bedeutung dieses Interesses für die Stellung unsrer Nation draußen in der Welt, so widerlegt sie damit allein schon den Glauben, dass es der Frau an weitschauendem Gemeinsinn mangele. Und widerlegt andererseits stillschweigend den Verdacht der ‚Staatsfeindlichkeit‘, den ihr der notwendige Kampf um berechtigte Ansprüche im Lande selbst in so manchen Köpfen einbringt. (Leonore Nießen-Deiters: Die deutsche Frau im Auslande und in den Schutzgebieten. Nach Originalberichten aus fünf Erdteilen. Berlin: Fleischel, 1913, S. 295.)
Handelte es sich um eine vereinzelte Stimme? Griffen die Vertreterinnen der bürgerlichen Frauenbewegung ihren Vorschlag auf? Und falls ja, handelte sich dabei um ein reines Zweckverhältnis, oder existierten konzeptionelle Gemeinsamkeiten zwischen Kolonialismus und bürgerlich-weiblicher Emanzipationsbewegung? Anette Dietrich geht in ihrer Studie genau dieser Verbindung zwischen den von der bürgerlichen Frauenbewegung erhobenen Emanzipationsforderungen und dem deutschen Kolonialismus nach. Oder anders formuliert: Die Autorin untersucht, „wie emanzipative Konzepte in rassifizierte und koloniale Strukturen eingebunden waren und dadurch bestimmte Identitätsangebote bereitstellten.“ (S. 17) Dabei richtet Dietrich ihr besonderes Augenmerk auf den Körper, den sie als „elementare[n] Ort der Einschreibung bzw. Materialisierung rassifizierender, kolonialer, vergeschlechtlichter und klassifizierter Herrschaftspraxen“ (S. 17) begreift.
Ausgehend von dieser Fragestellung gliedert Dietrich ihre Analyse in sechs Kapitel. In einem ersten Schritt referiert sie den theoretischen und konzeptionellen Hintergrund ihrer Studie, der von den Arbeiten der Postcolonial Studies sowie der Critical Whiteness Studies gebildet wird. Die Autorin ordnet auf diese Weise ihre Studie in den Kontext einer Forschung ein, deren Ziel es ist, die gesellschaftliche Normalität von „Weiß-Sein“ aufzulösen sowie die dahinterstehenden „Konstruktionsprozesse von rassifizierten Subjektpositionen, gesellschaftliche Dominanzstrukturen und deren Verschleierung sichtbar zu machen.“ (S. 47)
Anette Dietrich widmet sich im zweiten Kapitel der Rekonstruktion des Verhältnisses zwischen Nation und den beiden Kategorien ‚Rasse‘ und Geschlecht. Dabei betont sie, dass der bisherige Forschungsfokus auf die Mechanismen der geschlechterspezifischen Exklusion von Frauen ihre gleichzeitige Inklusion „aufgrund ihrer Klasse und der Zugehörigkeit zum nationalen Kollektiv bzw. zur weißen ‚Rasse‘„ sowie ihre „privilegierte gesellschaftliche Stellung“ innerhalb dieses Kollektivs „verschleiert“ hat. (S. 70) Im anschließenden dritten Kapitel beleuchtet die Autorin die Geschichte des deutschen Kolonialprojekts. Sie schließt sich dabei der Auffassung der neueren Forschung an, die davon ausgeht, dass die Wirkmächtigkeit des deutschen Kolonialprojekts über die politische Kolonialherrschaft hinausging und vor allem im kulturellen Bereich zu verorten ist. Der Repräsentation von Geschlecht kam dabei, so Dietrich, besondere Bedeutung zu. Ganz ähnlich wie im vorangegangenen Abschnitt zur Nation verweist die Autorin auch hier darauf, dass Frauen, obwohl auf den ersten Blick vom männlichen Eroberungsprojekt ausgeschlossen, am Kolonialismus partizipierten. „Kolonialphantasien“ waren „nicht nur vom Anspruch weißer männlicher Dominanz geprägt; auch Frauen repräsentierten sich in Texten als weiß, deutsch und als Teil der europäischen zivilisatorischen Überlegenheit.“ (S. 101) Das vierte Kapitel nutzt die Autorin, um das Verhältnis zwischen Rassismus und Kolonialismus in seiner historischen Entwicklung eingehender zu beleuchten. Den Schwerpunkt ihrer Überlegungen bildet dabei die „Biologisierung der gesellschaftlichen Verhältnisse“ (S. 153), die zeitlich mit dem Aufstieg des Kaiserreiches zur Weltmacht zusammenfiel. Unter Rückgriff auf Michel Foucaults Konzept der Bio-Macht untersucht Dietrich exemplarisch die Diskurse um Hygiene, Bevölkerungspolitik und Arbeit sowie um die sogenannten „Mischehen“. Ihr Ziel ist es dabei, die Bedeutung rassistischer Konzepte auch über den kolonialen Kontext hinaus zu verdeutlichen.
Im fünften Abschnitt der Studie rekonstruiert Dietrich die Rolle, die weiße Frauen im kolonialen Projekt spielten, sei es als kolonialpolitische Aktivistin oder als „Farmersfrau“. Besonders ausführlich diskutiert sie die in der Literatur vertretene These von der weiblichen (Mit-)Täterinnenschaft und kommt zu dem Schluss, dass die bisherige Diskussion der Komplexität der kolonialen Situation nicht gerecht wird. Statt zu fragen, ob Frauen Komplizinnen oder Opfer gewesen seien, gehe es darum, zu untersuchen, „an welcher Stelle der Bezug auf ‚Rasse‘ und Weiß-Sein zu einer Ermächtigung von weißen Frauen führte“ (S. 292). Im letzten inhaltlichen Kapitel fokussiert Dietrich auf die Debatten der bürgerlichen Frauenbewegung und deren Bezüge auf koloniale und rassistische Diskurse in besonderen Diskussionsfeldern wie Haushaltsführung, Hygiene, Sittlichkeit oder ‚Rassenmischung‘. Diese, so die Autorin, spielten sowohl im Kolonialdiskurs als auch in den Schriften der bürgerlichen Frauenbewegung eine zentrale Rolle, wenn es um die Bestimmung weiblicher Identität ging. Zusammenfassend kommt Anette Dietrich zu dem Ergebnis: „Diskurse der bürgerlichen Frauenbewegung korrespondierten mit den kolonialrassistischen Konstruktionen weißer Weiblichkeit und verbanden mittels der Thematisierung von Sittlichkeit, Sexualmoral und Hygiene die Sorge um den gesunden ‚Volks‘- und ‚Gesellschaftskörper‘ mit sozialdarwinistischen und rassenhygienischen Motiven.“ (S. 379)
Wer aufgrund des Titels des Buchs eine traditionelle historiographische Studie erwartet, wird überrascht sein. Quellenarbeit liefert die Autorin lediglich in den beiden letzten Kapiteln, die gegenüber einer mehr als doppelt so langen Darstellung der Forschungsdiskussion zunächst etwas verloren wirken; mit Die Frau, Die Frauenbewegung, Mutterschutz und der Die Neue Generation wurden dafür allerdings einschlägige Publikationen als Quellengrundlage ausgewählt. Im ersten Teil legt die Autorin eine systematische Zusammenfassung und Diskussion des Forschungsstandes vor – und hier liegt die wirkliche Stärke der Arbeit. Pointiert und kenntnisreich gibt Dietrichs Werk Leserinnen und Lesern einerseits die Möglichkeit, sich ein Bild über den aktuellen Stand der wissenschaftlichen Debatte zu verschaffen, während sie andererseits stets kritisch Stellung bezieht und auf blinde Flecken in der Fachliteratur hinweist. Geschickt zieht sie die Fäden aus so unterschiedlichen Kontexten wie der Rassismus- oder der Nationalismusforschung zusammen.
Die Involvierung weißer deutscher Frauen in das nationale Kolonialprojekt ist in den letzten Jahren mehrfach untersucht worden. Abgesehen von der sozialhistorisch orientierten Pionierarbeit Schwarze Frau, weiße Herrin. Frauenleben in den deutschen Kolonien von Martha Mamozai (1989) sind hier ganz besonders die Studien von Karen Smidt (1999), Lora Wildenthal (2001), Rosa Schneider (2003) und Katharina Walgenbach (2005) zu nennen. In diesen Untersuchungen wurde sowohl der Aktivismus weißer Frauen in der Kolonialbewegung, die Position deutscher Frauen in der – nach klassenspezifischen und rassistischen Kriterien hierarchisch gegliederten – Gesellschaft der Kolonien (vor allem Deutsch-Südwestafrikas) sowie die Konstruktion der weißen Frau im kolonialen Diskurs rekonstruiert. Warum also noch ein Buch zu diesem Thema? Dietrichs Studie verfolgt im Gegensatz zu den bislang vorliegenden Untersuchungen mit der Wechselwirkung zwischen Feminismus und Kolonialrassismus eine sehr viel grundsätzlichere Frage und stößt damit in eine Forschungslücke, die angesichts aktueller politischer Debatten um Kopftuch, Moscheebau oder sogenannte Ehrenmorde und der Notwendigkeit einer selbstkritischen anti-rassistischen Positionierung der feministischen Bewegung in diesen Auseinandersetzungen umso schmerzlicher ist. Denn, wie Dietrich unter Bezug auf Gayatri Spivak formuliert: [R]assistische „Privilegien zu verlernen bedeutet […], sich ihrer bewusst zu werden.“ (S. 381)
URN urn:nbn:de:0114-qn093053
Eva Bischoff, M.A.
Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn – Nordamerikastudienprogramm, Homepage: http://www.nap-uni-bonn.de/facultystaff/faculty/evabischoff
E-Mail: ebischof@uni-koeln.de
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