Die inszenierte Autorin

Rezension von Michiko Mae

Kristina Iwata-Weickgenannt:

Alles nur Theater?

Gender und Ethnizität bei der japankoreanischen Autorin Yū Miri.

München: Iudicium Verlag 2008.

473 Seiten, ISBN 978–3–89129–827–5, € 39,60

Abstract: Die in Deutschland noch wenig bekannte japankoreanische Schriftstellerin Yū Miri (geb. 1968) gehört zu den heutigen japanischen Erfolgsautor/innen, für die charakteristisch ist, dass sie nicht nur durch ihre literarischen Texte, sondern auch durch ihre exzessive Medienpräsenz in Japan bekannt und erfolgreich geworden sind. Die multimediale Selbstinszenierung als ‚Schriftstellerin Yū Miri‘ erregt in der japanischen Öffentlichkeit und Literaturszene genau so viel Aufmerksamkeit wie ihre literarischen Texte. In ihrem im Münchner Iudicium Verlag erschienenen Buch gibt Iwata-Weickgenannt nicht nur einen umfassenden Überblick über die literarischen Werke Yūs, die zwischen 1994 und 2005 publiziert wurden, sondern sie macht zugleich auch die medialen ‚Yū Miri‘ -Repräsentationen zum Thema ihrer Analysen. Im ersten Hauptteil ihres Buchs gibt Iwata-Weickgenannt einen sehr guten Einblick in das Umfeld, aus dem sich Yūs Identitätsbildungsproblematik als japankoreanische Schriftstellerin ergibt. Der zweite Hauptteil des Buchs wird in seinem Aufbau durch die drei Phasen des Selbstfindungsprozesses, genauer der Selbsterfindung der ‚Schriftstellerin Yū Miri‘ in ihren Werken und ihren medialen Selbstinszenierungen strukturiert. Es gelingt Iwata-Weickgenannt sehr überzeugend, das Sichtbarmachen der performativen Konstruiertheit von Identität im Werk und Leben Yūs herauszuarbeiten. Sie zeigt dabei auch, dass das Konzept der Performativität ein sehr geeigneter Bezugsrahmen für die Analyse von Identitätsbildungsprozessen ist.

Yū Miri und die japankoreanische Literatur

Die sehr umfassende und detaillierte Darstellung des soziokulturellen, historischen, politischen und literarisch-medialen Kontextes und der Problematik der Japankoreaner/-innen in der japanischen Gesellschaft im ersten Hauptteil des Buchs von Iwata-Weickgenannt ist für deutsche Leser/-innen notwendig, um Yūs Texte angemessen interpretieren und verstehen zu können. Die Japankoreaner/-innen – Anfang des 20. Jahrhunderts auf Arbeitssuche nach Japan gekommen – bilden dort die größte Ausländergruppe; ihre rechtlichen Benachteiligungen wurden nach und nach abgeschafft, sie sind aber bis heute nicht wirklich in die japanische Gesellschaft integriert. Während die erste Generation gegen ihre Diskriminierung in der japanischen Gesellschaft hart ankämpfen musste, dabei aber an ihrer klaren koreanischen Identität festhielt, wurde diese Identität für die zweite und dritte Generation immer fragwürdiger Die Literatur der japankoreanischen Schriftsteller/-innen wandelte sich entsprechend und entfaltete sich in einer komplexen Vielfalt.

Als in Japan geborene Japankoreanerin der zweiten Generation wird Yū mit ihrem literarischen Werk von der Rezeption auf die Tradition und das Genre der sogenannten japankoreanischen Literatur (zainichi bungaku) festgelegt, die von Iwata-Weickgenannt kompetent und umfassend vorgestellt wird. Yū selbst wehrt sich aber vehement gegen diese festlegende Zuschreibung ihres Werkes und gegen die Totalisierung eines Teilaspekts ihrer Person. Wenn man eine solche Konstellation als Ausgangspunkt nimmt, dann ist mit der Analyse und Interpretation des Werkes und der Person Yūs eine höchst spannende und aufschlussreiche Aufgabe gestellt, die weit über den Bereich der Japanforschung hinausgeht.

Unter sehr schwierigen familiären Bedingungen aufgewachsen, sieht Yū schon früh das Schreiben und die eigene literarische Imagination als den einzigen Weg, mit ihren Problemen umzugehen. Sie merkt, dass es ihr in ihrer schwierigen Situation nur möglich sein würde, ihr Selbst zu stabilisieren, wenn sie mit einer ganz eigenen Sprache die sie umgebende Realität „verfremden“ und neu konstruieren und dabei ihre eigene Person in diesen Prozess mit einbeziehen würde (S. 37). Diese engste Verknüpfung zwischen literarischer Produktion und eigenem Leben – „mir bleibt nichts als zu schreiben“ (Yū, zitiert S. 41) – macht es notwendig, dass Iwata-Weickgenannt in ihrer umfassenden Untersuchung nicht nur die literarischen, sondern auch die medialen ‚Yū Miri‘-Repräsentationen und „Authentizitätsdiskurse“ zum Thema macht. Durch die Überlagerung und das Ineinandergreifen literarischer und medialer Selbstthematisierungen ist das Herausarbeiten der „Selbstinszenierungsabsichten“ Yūs allerdings ein sehr schwieriges Unterfangen.

Von einer „Weder-noch“-Identität zu einer „Sowohl-als-auch“-Identität

Als zentrales Problem zeigt sich dabei die Problematik der Identitätsbildung, die für Yū ein Prozess der Selbstfindung, genauer der Selbsterfindung wird; dieser Prozess entwickelt sich in drei Phasen. In der ersten dieser Phasen erfährt sich Yū, wie viele ihrer Protagonistinnen auch, als ‚heimatlos‘; aus einer Position der „Ablehnung [ihres] Selbst“ heraus sei sie Schriftstellerin geworden. Diese Selbstpositionierung in einer umfassenden ‚Zugehörigkeitslosigkeit‘ führt bei Yū zu einer entsprechend radikalen Ablehnung und Zurückweisung aller Identifikationen und Identitätskategorien. Und in genau dieser „Leerstelle“, wie Iwata-Weickgenannt sagt, verankert Yū ihr Schreiben: „Schriftsteller/innen dürfen meiner Auffassung nach nirgendwo dazugehören, sie müssen sich weitab von der Gesellschaft oder irgendwo auf einer Grenzlinie positionieren. […] Eben dieser Standpunkt des ‚weder noch‘ ist es, den ich mir bewahren möchte“ (Yū, zitiert S. 200).

Yū nimmt hier also die unbeteiligte Beobachterposition einer Schriftstellerin ein. Diese Position kann man als einen „Ort jenseits der [identitären] Kategorien“ sehen, aber eine wirkliche Befreiung und Überwindung von ethnisch-nationalen und kulturellen Kategorien bedeutet dies weder für die Autorin noch für ihre frühen Protagonistinnen. Die negative Identitätsbildung des „ich bin keine Koreanerin“ und „ich bin keine Japanerin“ verweist jeweils auf ein eindeutiges Sein bzw. Nichtsein und macht so die Bildung einer offenen Identität unmöglich. Es kann hier in dieser Kürze und Abstraktheit nur angedeutet werden, wie subtil und auf hohem wissenschaftlichem Niveau analysierend und interpretierend die Verfasserin die Problematik der Selbstdefinition Yūs und ihrer Protagonistinnen aus deren Position der Marginalität und diskriminierten Minorität entwickelt.

Ein Hauptthema dieser Analysen Iwata-Weickgenannts und der Texte Yūs ist die Familie als Ort der Identitätsfindung. Denn nicht nur in der Frage der ethnisch-kulturellen Identitätsbildung, sondern gerade auch in den damit verbundenen vielfältigen Familienproblemen bis hin zum endgültigen familiären Scheitern zeigen sich die Auswirkungen der Minderheitenposition bei den Identitätskonstruktionen der Protagonistinnen Yūs. Besonders interessant ist dabei der Übergang von einer abweisenden Haltung gegen alles Familiäre hin zu einem neuen Verständnis von Familie durch die eigene Mutterschaft Yūs. Damit wird auch die geschlechtliche Kodierung ethnisch-kultureller und nationaler Identitätskonstruktion deutlich. Mit diesem Übergang vollzieht sich bei Yū nicht nur ein erzähltechnischer Wechsel von der Tochter- zur Mutterperspektive; es zeigt sich darin auch eine Sehnsucht nach Zugehörigkeit und Verwurzelung. Als Mutter musste sie eine Entscheidung über die Staatsangehörigkeit ihres Sohnes treffen, und damit wurde für sie nicht nur die Wirkmächtigkeit der identitären Konzepte Nation, Ethnie, Kultur, Sprache etc. erfahrbar, sondern auch die Bedeutung von deren Kongruenz und Kohärenz als Vorbedingung einer problemlosen Identitätsfindung. Diese identitären Konstruktionen werden ja gelebt und gerade von Menschen in einer marginalen und minoritären Position in ihrer Unentrinnbarkeit erfahren. Iwata-Weickgenannt deutet hier eine latente Kapitulation vor dem hegemonialen japanischen Kulturdiskurs an, die von Yū erst in der dritten Phase ihres literarischen Schaffens aufgebrochen und überwunden werden kann.

Durch ihre strikte Zurückweisung jeglicher identitärer Festlegung hatte Yū vor allem in ihrer ersten Schaffensphase eine produktive Auseinandersetzung mit ihrem eigenen ethnischen und familiären Hintergrund vermieden. Nun aber, in dem Hauptwerk der dritten Schaffensphase, dem Roman Hachigatsu no hate (Am Ende des August, 2004) befasst sie sich mit ihrem koreanischen Familienhintergrund und ihrer Zugehörigkeit zur japankoreanischen Minderheit und reflektiert zugleich den damit verbundenen Prozess einer neuen Identitätsbildung.Wie Iwata-Weickgenannt überzeugend herausarbeitet, gibt Yū in diesem Roman ihre neutrale Beobachterposition auf und revidiert ihre anfängliche Selbstverortung „jenseits“ aller Identitätskategorien. Das heißt aber nicht, dass sie damit ihre grundsätzliche Ablehnung einer zuschreibenden und vereinnahmenden Festlegung auf eine bestimmte Identität, z.B. die als eine japankoreanische Autorin, aufgegeben hätte, auch wenn sie in dem Roman Hachigatsu no hate, der größtenteils im von den Japanern besetzten Korea spielt, virtuos mit typischen Elementen der japankoreanischen Literatur umgeht. Während in den früheren Texten Yūs Protagonistinnen von dem „Gefühl einer allumfassenden Heimatlosigkeit“ beherrscht sind und z. B. die Identifikation einer dieser Protagonistinnen als ‚Yū Miri‘ für einen selbstbestimmten Neubeginn steht und als Versuch beschrieben wird, „das ‚Ich‘ in einem ausdrücklich literarischen Kontext neu zu erfinden“ (S. 370), wird jetzt der Name ‚Yū Miri‘ als von den Ahnen übernommenes Erbe verstanden und zugleich als eine auf die Zukunft gerichtete Berufung. Nur so kann sie, wie ihr Schamaninnen offenbaren, den Untergang ihres Familienclans und ihres Sohnes abwenden und „sich selbst beginnen“. Während einerseits Yū Miri in dem Roman als Schamanin beauftragt wird, „die Seele ihrer [koreanischen] Familie“ zu retten, bleibt sie andererseits als ledige Mutter eines Sohnes mit japanischer Nationalität weiterhin mit Japan verbunden. Es zeigt sich hier, wie Iwata-Weickgenannt sagt, „eine hybride, doppelt japanisch-koreanisch konnotierte Identität“ (S. 371); aber damit komme nicht eine Vermischung beider Identitäten und Kulturen zum Ausdruck, sondern ihre Zusammenführung und harmonische Verbindung im Sinne eines „Sowohl-als-auch“. Diese „Sowohl-als-auch“-Identität könne als eine transkulturelle Identitätskonstruktion verstanden werden. Allerdings scheint mir diese Annahme, dass eine solche transkulturelle Identität im Roman Hachigatsu no hate wirklich realisiert wird, nicht eindeutig geklärt zu sein. Es bleibt deshalb eine spannende, aber noch offene Frage, ob sich Yūs Literatur wirklich in die Richtung der Transkulturalität, d. h. eines neuen Denkens von und eines neuen Umgangs mit Identität und Differenz weiterentwickeln wird.

Performativität als Sichtbarmachen der Konstruiertheit der Identität

Am Ende ihres Buchs versucht Iwata-Weickgenannt, die vielen Analyse- und Argumentationsstränge, die sie in ihrer Untersuchung entwickelt hat, zusammenzuführen, ohne dabei die Brüche und Widersprüche aufzulösen; vielmehr will sie die Veränderungen, aber auch Kontinuitäten in den ‚Yū Miri‘-Repräsentationen und -Inszenierungsstrategien aufzeigen. Durchgehendes Thema ist die Selbstfindung, aber weniger als eine Selbstentdeckung, sondern eher als eine Selbsterfindung. Und wenn es bei den Analysekategorien vor allem um Ethnizität (koreanische und/oder japanische Zugehörigkeit) und Gender (geschlechtlich kodierte Familie und Mutterrolle) geht, dann sind diese Kategorien auf Parameter bezogen, die aufzeigen, wie in Yūs Texten und medialen Selbstzeugnissen ‚Identität‘ und ‚Differenz‘ als konstruiert sichtbar gemacht und als was sie imaginiert werden. Von Anfang an spielt dabei für die Subjektkonstitution in den Texten wie im Leben Yūs das „Gesehen-werden“ eine zentrale Rolle, aber gleichzeitig auch das „Zu-sehen-geben“ (S. 421). Für Yū ist „alles nur Fiktion“, und das ermöglicht es ihr, die „Vergangenheit neu zu schreiben“ und damit auch die Kontrolle über die Gegenwart zu gewinnen, ihr eigenes Selbst als ‚Werk‘ zu begreifen. Zu Recht weist Iwata-Weickgenannt an dieser Stelle darauf hin, dass diese Identitätskonstruktion kein Ausdruck einer absoluten Freiheit, sondern eher eines unausweichlichen Zwangs ist, des Zwangs, sich selbst ständig (neu) erfinden zu müssen, und dies sogar als Frage von Leben und Tod: „Doch wenn es mir eines Tages nicht mehr gelingen sollte, die ‚Schriftstellerin Yū Miri‘ zu spielen, ist die Stunde meines Todes gekommen. Mir bleibt daher nichts, als die ‚Autorin Yū Miri‘ zu leben“ (Yū, zitiert S. 424). ‚Leben‘, ‚Inszenierung‘ und ‚Autorschaft‘ sind also bei Yū unauflöslich miteinander verbunden.

Was heißt es nun, wenn Iwata-Weickgenannt dieses Sichtbarmachen der Konstruiertheit von Identität im Werk und Leben Yūs unter die Titel gebende Frage: „Alles nur Theater?“ stellt? Es bedeutet, dass es hier um die Funktion von Literatur und Medien als Orte schriftstellerischer Selbstinszenierung geht (S. 199). Und da bei Yū die Verwebung zwischen ‚Leben‘ und ‚Werk‘ besonders eng ist, kann die Verfasserin den faszinierenden Versuch unternehmen, in ihren Analysen die literarischen und die medialen ‚Yū Miri‘-Repräsentationen als gleichermaßen literaturwissenschaftlich analysierbare Texte zu betrachten. Die Unterscheidung zwischen ‚Wahrheit‘ (Wirklichkeit) und ‚Erfindung‘ (Fiktion) verliert damit ihre analytische Bedeutung, und es kommt eine Kategorie ins Spiel, die in den heutigen Kulturwissenschaften eine immer wichtigere Rolle spielt: die Performativität. Viele von Yūs Aussagen, in denen häufig Ausdrücke aus der Theatersprache vorkommen, können nach Iwata-Weickgenannt bezogen werden auf eine inszenierende, eine schauspielernd darstellende und eine aufgeführte Identität(skonstitution). Sie werden damit zu Manifestationen von Theatralität, ein Konzept, das um 1900 entstanden ist und nicht nur auf das Theater bezogen ist, sondern als „Kultur erzeugendes und die Kulturgeschichte vorantreibendes Prinzip“ (Erika Fischer-Lichte, zitiert S. 33) verstanden wird. Es umfasst die Elemente Aufführung/Performance, Inszenierung, Darstellung, Körperlichkeit, Ausdruck, Wahrnehmung und Medialität und bildet so einen geeigneten Bezugsrahmen für Identitätsbildungsprozesse, verstanden als (Selbst-)Inszenierungen – z. B. im Sinne von doing gender.

Fazit

Durch die Weise, wie Yū Miri mit dem Zwang, sich als ‚Andere‘ ständig mit den Problemen der (Selbst-)Inszenierung auseinandersetzen zu müssen, umgeht und wie sie daraus ihre Literatur entwickelt, lässt sich die ‚Schriftstellerin Yū Miri‘ geradezu als eine Verkörperung der Theatralität und Performativität sehen. Sie ist deshalb ein exemplarischer und sehr aufschlussreicher Fall für die heutige Problematik der Identitätsbildung in der japanischen Medien- und Eventkultur, aber auch in einer zunehmend durch Migration und Multikulturalität geprägten Gesellschaft, die durch die Auflösung traditioneller und durch die Vielfalt neuer Familien- und Lebensformen charakterisiert ist. Sie als wichtige Vertreterin dieser Kultur und Gesellschaft und der heutigen japanischen Literatur den deutschsprachigen Leser/-innen in einer so umfassenden, spannenden und vor allem wissenschaftlich kompetenten Weise zugänglich zu machen, ist ein großes Verdienst der Autorin Iwata-Weickgenannt und ihres Buchs.

URN urn:nbn:de:0114-qn093224

Prof. Dr. Dr. h.c. Michiko Mae

Düsseldorf/Heinrich-Heine-Universität/Lehrstuhl Modernes Japan I

E-Mail: mae@uni-duesseldorf.de

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