Engagierte Fiktion(en)? Neue Perspektiven auf den Frauenroman um 1800

Rezension von Peter Christian Pohl

Maya Gerig:

Jenseits von Tugend und Empfindsamkeit.

Gesellschaftspolitik und Frauenroman um 1800.

Köln u.a.: Böhlau-Verlag 2008.

185 Seiten, ISBN 978–3–412–20099–2, € 29,90

Abstract: In der von Inge Stephan und Sigrid Weigel herausgegebenen Reihe Literatur – Kultur – Geschlecht des Böhlau-Verlags hat Maya Gerig eine Studie zum Frauenroman um 1800 veröffentlicht, die – anders als bisherige Untersuchungen – das Augenmerk auf die politischen und juristischen Bezüge dieser Texte richtet. Auf der Grundlage von 22 ausgewählten repräsentativen Romanen und Erzählungen und gegliedert nach drei zentralen Themenfeldern stellt Gerig Korrelationen zwischen den literarischen Texten und den philosophischen, pädagogischen und juristischen Diskursen in der Zeit zwischen 1771 und 1829 her. Sie legt damit ein übersichtliches und klar strukturiertes Grundlagenwerk vor. Ihre Schlussfolgerung jedoch, der Frauenroman sei als Forum sozialpolitischen Engagements zu betrachten, ist bei näherer Betrachtung nicht haltbar.

Gliederung

Im Vorwort stellt Maya Gerig ihre Hauptthese vor: Entgegen der geläufigen „Kategorisierung der Frauenromane als empfindsame Trivialliteratur“ (S. 5) sei davon auszugehen, dass Schriftstellerinnen wie Sophie von La Roche, Sophie Mereau, Dorothea Schlegel Werke geschaffen hätten, „deren Lektüre die Leserschaft zum Überdenken sowohl der idealen Weiblichkeit als auch der Stellung der Frau in Familie und Gesellschaft anregen will.“ (S. 1)

Nach einer kurzen Einführung zum „Frauenroman im Spiegel von Zeit und Gesellschaft“ exemplifiziert die Autorin ihre These an verschiedenen thematischen Schwerpunkten: Die Abschnitte zu ‚Notzucht, Kindsmord, Abtreibung, häuslicher Gewalt‘ bzw. zu ‚Scheidung, Trennung, Ehelosigkeit‘ bestehen aus prägnanten analytischen Unterkapiteln und jeweils einer Zusammenfassung. Im Ausblick benennt Gerig Aspekte, an denen die Weiterführung ihrer Analyse vorzunehmen wäre. Hierzu zählt sie die Querele zwischen „dem Vorbereiter der weiblichen Emanzipation, Theodor Gottlieb von Hippel“ (S. 158), und dem konservativen Juristen Ernst Brandes sowie den Vergleich mit England und Frankreich. Im Anhang finden sich schließlich Kurzbiographien der Autorinnen und Zusammenfassungen der besprochenen Werke. Sowohl die klare Strukturierung als auch die biographischen Zusatzinformationen erweisen sich als hilfreiche Vorkehrungen. Sie erlauben eine problemorientierte Auseinandersetzung mit einem einzelnen Thema (z. B. Kindsmord) ebenso wie werkgeschichtliche Vertiefungen.

Literaturgeschichtliche Einordnung

Bereits in Gerigs Einführung zum Frauenroman zeichnen sich jedoch zwei Mängel der ansonsten lesenswerten und bereichernden Studie ab. Unklar ist zum einen die theoretische Ausrichtung der Arbeit, die zwischen einer akteurszentrierten Diskursethik und einer subjektnegierenden Diskursanalyse oszilliert, und zum anderen das Verhältnis von Literarizität und gesellschaftlicher Realität. So heißt es, man könne diese literarischen Texte „als gesellschaftspolitische Abhandlungen“ (S. 15, 29) lesen. Als Beweis für die überraschende Gleichsetzung dienen paratextuelle Elemente, Vorworte oder Titel, in denen z. B. auf „das Problem der freien Partnerwahl und der Liebesehe“ (S. 15) Bezug genommen wird. Kurz gesagt lautet das Argument: Weil sie gesellschaftspolitisch relevante Themen verarbeiten, „signalisieren die Texte ihr gesellschaftliches Engagement und machen klar, dass sie weder zur Unterhaltung noch als private Bekenntnisse gelesen werden möchten.“ (Ebenda). Dies wirkt auf die These hin konstruiert. Zudem wirft es eine Reihe von Fragen auf: Ab wann ist ein Roman, der das Thema Ehe behandelt, sozialpolitisch? Ist ein sozialpolitischer Roman zwingend un-trivial?

Aus gesellschafts-, geschlechter- und medientheoretischer Perspektive weist die Studie Lücken auf. Gerig wertet die phänomenalen Charakteristika des Frauenromans emphatisch als Engagement, hinterfragt aber nicht deren Zustandekommen. Christoph Kucklick (Das unmoralische Geschlecht. Zur Genese der negativen Andrologie. Frankfurt a. M. 2008) etwa zeigt demgegenüber die Notwendigkeit negativer Codierungen des Männlichen für die sich konstituierende bürgerliche Welt. Diese Negativkonnotationen sind Gemeingut des Sprechens vom Geschlecht um 1800, weshalb ihre Aktualisierung, wie in der Beschreibung des Vergewaltigers in den Werken von Julie Berger, Dorothea Liebeskind und Sophie von La Roche (Gerigs Beispiel), keineswegs als Engagement der Autorinnen einzig subjekttheoretisch aufzuwerten ist. Interessanter wäre es, die Verwendung von sich widersprechenden binären Typologien im Kontext gesellschaftlicher Evolution einzubetten und daraus die verschiedenen Sprecherpositionen abzuleiten.

Zudem bezieht sich Gerig in Bezug auf den Briefroman, der in der Hälfte ihres Untersuchungsmaterials Spuren zeitigt, nicht etwa auf die erschöpfende Arbeit von Albrecht Koschorke (Körperströme und Schriftverkehr. Mediologie des 18. Jahrhunderts. München 1999), der die funktionale Notwendigkeit des Briefromans im 18. Jahrhundert erörtert, sondern verortet ihn im Rekurs auf Jürgen Habermas‘ Habilitationsschrift Strukturwandel der Öffentlichkeit (Frankfurt a. M.1962) als „publikumsbezogene Privatheit“ (Habermas, zitiert nach Gerig, S. 17). Sowohl Autorinnen als auch deren Figuren seien öffentliches Gut. Solchermaßen unterminierten sie die strengen Dichotomien Mann-Frau, Öffentlichkeit-Privatheit. Doch ohne die angesprochene Klärung der problematischen Relation von Fiktion und Faktizität für die Zeit um 1800 wirkt die behauptete Subversion von Privatheit und Öffentlichkeit aufgesetzt.

Unzucht

Im ersten Analyseabschnitt nähert sich die Verfasserin dem Phänomenbereich von Notzucht und Kindsmord über die literarischen Werke Goethes, Schillers und über den juristischen Diskurs. Sie verdeutlicht, dass Frauen im Gegensatz zur hegemonialen Meinung andere Tatmotivationen in den Vordergrund rücken. Bei ihnen stehen die sozialen Unterschiede und die männliche Täterschaft im Vordergrund – eine wichtige Beobachtung, durch die Gerig ihre These bestätigt sieht, „dass Autorinnen um 1800 den Roman als Plattform für die Darlegung ihres sozialpolitischen Engagements instrumentalisieren“ (S. 76). Die Literatur von Frauen trete „in einen Dialog mit der öffentlichen, philosophischen Diskussion, mit den Alltagstexten der Gerichtsprotokolle und mit dem juristischen Diskurs“ (S. 75 f.). Aus der Diskursethik ist plötzlich eine Diskursanalyse geworden. Dass die Autorinnen als Agenten erscheinen, die eine literarische Form instrumentalisieren, erstaunt. Es scheint ganz so, als habe man es hier mit einem gegenläufigen Essentialismus zu tun. Handeln die Autorinnen sozialpolitisch gegen eine neutral-männliche Diskursmacht? Oder ergreifen und entfalten sie die Themen, die sich aus dem Diskurs ergeben? Solange die Differenz zwischen weiblicher Autorfunktion (Foucault) und intentionaler Praxis offen bleibt, kann der Frauenroman weder als Selbstermächtigung noch als Instrumentalisierung des Romans gedeutet werden.

Gewalt in der Familie

Neuerlich über die juristischen Debatten und die literarischen Texte von Männern nähert sich Gerig dem zweiten Themenfeld. Hier wird deutlich, dass Frauenromane einen differenzierten Einblick in den weiblichen Lebensalltag ermöglichen. Durch ihre Darstellung von körperlicher Züchtigung, psychischem Druck und Vergewaltigung erweitern sie den Horizont der Öffentlichkeit. Dass Marianne Ehrmann und Therese Huber die Gewichtung von Öffentlichkeit und Privatheit verschöben, indem sie private Details und tabuisierte Phänomene (wie Abtreibung) literarisch vermitteln, leuchtet mir dagegen nicht ein. Darüber hinaus wird zwar in den Texten der Vergewaltiger als verwerflicher Mann beschrieben und ein Akzent auf die weibliche Wehrhaftigkeit gesetzt. Aber diese Akzentuierungen sind nicht neu; sie liegen nur diametral zur Ehrenrettung des vergewaltigenden Mannes und der weiblichen Wehrlosigkeit in männlichen literarischen Texten (siehe Kleists Marquise von O.).

Ehescheidung

Über die philosophischen und religiösen Schriften zur Ehescheidung, die um 1800 Konjunktur haben, findet Gerig den Zugang zum letzten Diskursfeld. Im Zuge der Säkularisierung geht die Kontrolle über Eheschließung und Scheidung in die Hand der bürgerlichen Autoritäten über. Kenntnisreich arbeitet Gerig an den Schriften von Theodor Gottlieb von Hippel, Adolph Freiherr von Knigge und Wilhelm Traugott Krug diesen Übergang heraus. Am literarischen Umgang mit der Thematik belegt sie eindrucksvoll, dass Frauenromane auf der Höhe ihrer Zeit waren. Auf vielschichtige Weise behandeln sie die Frage, „ob für die Frau in der zeitgenössischen Gesellschaft eine Existenz außerhalb ihrer Bestimmung als Gattin, Mutter und Hausfrau wünsch- und realisierbar sei.“ (S. 156) Aktuelle gesetzliche Veränderungen und deren mögliche Effekte werden im literarischen Diskurs entfaltet, und der Frauenroman öffnet den Blick für die lebensweltlich unhaltbaren Umstände, wie ökonomische Ungewissheit, rechtliche Abhängigkeit und patriarchalischer Zwang, denen sich Frauen konfrontiert sahen.

Gesamteindruck der Arbeit

Maya Gerig hat – trotz der hier betonten Schwächen – ein Grundlagenwerk vorgelegt. Durch ihre kluge Quellenwahl und ihre subtilen Interpretationen vermittelt sie eine Übersicht zur Thematik, die späteren literaturwissenschaftlichen Arbeiten zum Frauenroman sowie zu Gender-orientierten Forschungen zur Entstehung der modernen Geschlechtersemantik hilfreich sein werden. Die großen Stärken der Arbeit liegen dabei einerseits in der konsequenten und unprätentiösen Umsetzung des Vorhabens. Zum anderen bietet die klare Struktur – der problemkonzentrierte Umgang mit den Gegenständen, die Binnendifferenzierung der Kapitel, die Korrelation von öffentlichen Diskursen und literarischem Werk – eine Reihe von Anknüpfungspunkten. Ausgeblieben sind eine Reflexion der eigenen theoretischen Grundannahmen und deren Abgleichung mit weiteren Theoriearrangements. Schließlich wäre eine genauere Widerspiegelung des Diskurses negativer Männlichkeit und positiver Weiblichkeit um 1800 sinnvoll gewesen, wie er sich 1816 im deutschsprachigen Raum bei Ernst Heinrich Kosengarte und bereits 1798 bei Jakob Sprengel finden lässt.

URN urn:nbn:de:0114-qn093280

Peter Christian Pohl M.A.

Universität Bremen/Fachbereich 9 Kulturwissenschaften, Homepage: http://www.peter-c-pohl.de

E-Mail: pe_po1@uni-bremen.de

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