„Gefühlsgemeinschaft“ – Autobiographische Erinnerungen an den BDM und der Erinnerungsdiskurs

Rezension von Leonie Wagner

Gisela Miller-Kipp:

„Der Führer braucht mich“.

Der Bund Deutscher Mädel (BDM): Lebenserinnerungen und Erinnerungsdiskurs.

Weinheim u.a.: Juventa Verlag 2007.

215 Seiten, ISBN 978–3–7799–1135–7, € 18,50

Abstract: Gisela Miller-Kipp dokumentiert und analysiert 27 Auszüge aus veröffentlichten Erinnerungen ehemaliger BDM-Mitglieder mit dem Ziel, deren Empfindungen und Gefühle zu rekonstruieren. Dabei sind interessante Einblicke möglich, die jedoch die von der Autorin intendierte Repräsentativität nicht einlösen (können). Zudem handelt es sich um Erinnerungen und damit um retrospektiv vorgenommene Konstruktionen, die meist noch mit dem Ziel einer Veröffentlichung aufgeschrieben wurden. Der Band liefert insofern wichtige Anregungen, ist aber in wissenschaftlicher Hinsicht nicht zufriedenstellend.

Gisela Miller-Kipp beschäftigt sich seit mehreren Jahren u. a. mit dem „Bund Deutscher Mädel“ (BDM) und hat in diesem Zusammenhang verschiedene Beiträge vorgelegt. 2001 hat sie eine Quellen- und Dokumentensammlung zur Geschichte des Bundes unter dem Titel „Auch Du gehörst dem Führer“ (Weinheim u. a.: Juventa) veröffentlicht. Der im letzten Jahr publizierte Band „Der Führer braucht mich“ knüpft an diese Veröffentlichung an und erweitert gleichzeitig die Perspektive: Gegenstand sind hier die Erinnerungen ehemaliger BDM-Mitglieder.

Erinnerungsliteratur und wissenschaftlicher Diskurs

Nach dem Boom von Erinnerungsliteratur u.a. von Frauen zu ihrem Leben im und zu ihrem Erleben des Nationalsozialismus unternimmt die Autorin damit einen verdienstvollen Systematisierungsversuch, in dem der Erinnerungs- mit dem wissenschaftlichen Diskurs zusammengeführt wird. Gisela Miller-Kipp will „politisch blinder und historisch naiver Annäherung“ (S. 7) – wie sie beispielsweise die Webseite http://reenacting.bdmhistory.com betreibt – entgegentreten und insbesondere den „Nachgeborenen“ ein „Begreifen dessen, […] was die damals eigentlich erlebt haben‘“ (S. 5), ermöglichen. Hierzu hat sie Ausschnitte aus 27 Erinnerungsdokumenten ausgewählt und durch verschiedene Analyse- und Interpretationsschritte gerahmt.

Im ersten Kapitel gibt Gisela Miller-Kipp einen kurzen und informativen Überblick über Entwicklung, Struktur und Funktion des BDM. Das zweite Kapitel ist einerseits dem „Erinnerungsbetrieb“ (S. 23) gewidmet und dient daneben zur Einführung in die ausgewählten Erinnerungstexte auf der Grundlage von Kategorien (z. B. „Zweifel und Enttäuschung“, „Begeisterung, Gefühlsrausch“, „Selbstentfaltung“, „Innere Opposition“). Dabei wird in der Regel jeweils ein Textauszug einer Kategorie zugeordnet und z.T. auf (wenige) andere verwiesen. Die Lektüre erweist sich hier als etwas sperrig, da die einzelnen Texte der Leserin ja noch nicht bekannt sind – wenn sie sich an die vorgeschlagene Kapitelreihung hält. Insofern ist bei einer vertiefenden Auseinandersetzung ein häufigeres Rückblättern nötig.

Kapitel 3, das „Herzstück des Bandes“ (S. 55), versammelt die 27 „Ego-Dokumente“, die jeweils mit Überschriften versehen sind, die eine bestimmte Interpretation der Gefühlslagen vorschlagen. In einer Fußnote werden der beschriebene Zeitraum und die (vermutliche) Entstehungszeit sowie die Quelle genannt. Die Auswahl der Texte erfolgte auf der Grundlage einer „Erhebung der gesamten Erinnerungsliteratur zu Kindheit und Jugend im ‚Dritten Reich‘„ (S. 30) und deren Durchsicht nach Texten von Mädchen zum BDM. Allerdings werden die Texte in Auszügen und damit auch mit verschiedenen Auslassungen wiedergegeben. Damit wird teilweise die Komplexität der Texte bzw. Erinnerungen reduziert, wobei die Auswahl der Stücke nicht hinreichend erläutert wird. Eine andere Lektüre der Gesamttexte könnte insofern auch zu anderen Ergebnissen und Erkenntnissen kommen. Dennoch – die Texte bieten bisweilen einen guten Einblick in verschiedene Facetten des Erlebens des BDM und insofern einige Anregungen zum Weiter- oder auch Wiederlesen.

„Gefühlsgemeinschaft BDM“?

In Kapitel 4 nimmt Gisela Miller-Kipp dann eine vergleichende Interpretation der Dokumente vor, deren Ergebnisse durch die Überschrift „Kollektives und individuelles Erleben, Identitätsbildung und Gefühlslagen – Umriss einer Gefühlsgeschichte des BDM“ bereits angedeutet werden. In der Analyse erkennt Miller-Kipp eine „Gefühlsgemeinschaft“ über unterschiedliche Geburts- und damit BDM-Jahrgänge hinweg, was als Quintessenz nicht neu ist, aber durch die Dokumente neu belegt wird: Die meisten Autorinnen haben die Angebote des BDM (Sport, Lieder, Wanderungen) und die mit der scheinbar eigenständigen Jugendkultur verbundene Aufwertung gerne angenommen – und dabei den „Dienst“ und die politische Vereinnahmung ausgeblendet. Diese Angebote und ihre Annahme wurden häufig individuell ausgedeutet und führten bei einigen Mädchen zu einem Kompetenzzuwachs. Individuelle und kollektive Identitätsbildung – so Miller-Kipps Resümee – haben sich hier gleichermaßen vollzogen. „Die Subjektentwicklung ging nicht nur ‚weg vom eigenen Ich‘ (Klaus), sondern auch hin zum eigenen Ich“ (S. 179). Ob aus diesem Erfahrungshintergrund tatsächlich aber „Sprengstoff für die klassische Geschlechterdifferenz“ (S. 185) entstand, ist doch eher anzuzweifeln. Nach dem jetzigen Kenntnisstand war es ja eher nicht die ‚BDM-Generation‘, die tradierte Formen von Weiblichkeit später in Frage stellte.

Kritisch anzumerken ist auch, dass hier nicht „[d]ie Mädchen im BDM“ (S. 19) sich äußern, sondern eben nur die Texte derjenigen vorliegen, die aus unterschiedlichen Gründen zu diesem Thema Erinnerungen veröffentlicht haben. Angesichts von ca. 3,5 Millionen Mitgliedern im Jahr 1939 sollte die Auswahl von 27 Dokumenten hier doch zu etwas größerer Vorsicht mahnen. Und wenn Gisela Miller-Kipp den von ihr vorgelegten Band als „Erinnerungserzählung der weiblichen Jugend sowie der und zur Kindheit und Jugendzeit im ‚Dritten Reich‘„ (S. 24) bezeichnet, kann sie doch offensichtlich nur von denjenigen sprechen, die nicht aufgrund rassistischer, antisemitischer oder sonstiger Kriterien von der Mitgliedschaft ausgeschlossen waren.

Die Autorin weist zwar selbst auf einige Probleme in der Rezeption von Erinnerungstexten hin, die nachträglich verfasst wurden (z. B. Selbstreferentialität des Erinnerungsdiskurses), und versucht im fünften Kapitel verschiedene Einwände zu entkräften, dennoch geht sie davon aus, dass hinsichtlich des „Gesamtdokumentes“ (S. 193) die von ihr vorgelegten Interpretationen haltbar sind, dass sich eben herauslesen lässt, „was die weibliche Jugend seinerzeit im BDM erlebt und empfunden“ (Umschlagtext) hat. Erinnerungen sind aber eben dies: Erinnerungen. Und auch erinnerte Gefühle holen den Moment des Erlebnisses nicht ein, sie sind retrospektiv und in der Regel bei Veröffentlichungen auch intentional motiviert. Die nach 1945 geschriebenen bzw. veröffentlichten Texte spiegeln somit eher die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus und dem eigenen Verhalten zwischen 1933 und 1945, als dass sich die konkreten Gefühlslagen einfach aus ihnen ablesen ließen. Hierfür wäre dann doch mehr an konkreter Quellenkritik und Analyse am Einzeldokument notwendig. So schwankt der Band scheinbar zwischen zwei Zielgruppen: Den interessierten ‚Nachgeborenen‘, denen durch die analytische Rahmung eine Handreichung für das Verständnis der Texte gegeben werden soll, und interessierten Forscherinnen zum Nationalsozialismus, die diese Zusammenstellung aber eher nicht zufriedenstellen kann.

URN urn:nbn:de:0114-qn093352

Prof. Dr. Leonie Wagner

HAWK – Fachhochschule Hildesheim-Holzminden-Göttingen, Fak. Soziale Arbeit und Gesundheit, Homepage: http://netdirekt.de/leoniewagner/

E-Mail: leonie.wagner@hawk-hhg.de

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