Christine Thon:
Frauenbewegung im Wandel der Generationen.
Eine Studie über Geschlechterkonstruktionen in biographischen Erzählungen.
Bielefeld: transcript-Verlag 2008.
488 Seiten, ISBN 978–3–89942–845–2, € 36,80
Abstract: Die Autorin dieser lesenswerten Studie fragt nach dem Einfluss der Neuen Frauenbewegung auf den sozialen Wandel und begibt sich zu diesem Zweck auf Spurensuche mittels intergenerationaler biographisch-narrativer Interviews mit Frauen aus drei Generationen. Den ausführlichen Analysen dieser Interviews vorangestellt sind ein historischer Abriss der Neuen Frauenbewegung sowie eine umfangreiche Darstellung des theoretisch-konzeptionellen Rahmens des empirischen Teils.
Es ist nicht zu übersehen, dass die Möglichkeiten für Frauen, ihr Leben zu gestalten, in den letzten Jahrzehnten vielfältiger geworden sind. Christine Thon, Jahrgang 1972 und wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Flensburg, geht in ihrer Dissertation von der Voraussetzung aus, dass zwischen dem „bereits vollzogenen, sich vollziehenden oder noch zu vollziehenden“ (S. 10) sozialen Wandel und den Leistungen der Frauenbewegung ein Zusammenhang besteht. Sie möchte zum einen den sozialen Wandel im Generationenvergleich mittels eines biographieanalytischen Ansatzes herausarbeiten – und dabei sowohl Veränderungen als auch „Beharrungstendenzen“ (S. 60) nachweisen. Zum anderen hat sie sich der schwierigen Aufgabe angenommen, entsprechende Einflüsse der Frauenbewegung zu rekonstruieren.
Die Studie ist in vier Teile gegliedert. Der erste Teil umfasst Bilanzierungsversuche der westdeutschen Neuen Frauenbewegung und Ausführungen zum aktuellen Diskussions- und Forschungsstand. Der zweite Teil bildet den theoretisch-konzeptionellen Rahmen und widmet sich ausführlich den Begriffen Generation, Biographie und Geschlecht. Es werden Fragestellung und Gegenstandsbereich dargelegt. Teil drei ist der Auswertung der empirischen Studie gewidmet und wird von einem theoretischen Block eingeleitet, der Methodologie und Methoden offenlegt. Im Anschluss daran werden die Ergebnisse präsentiert und interpretiert, bevor in Teil vier ein Resümee gezogen wird.
Befragt wurden jeweils drei Frauen, die zueinander in einem Mutter-Tochter-Verhältnis stehen. In direkter Auseinandersetzung mit dem Material entwickelt Thon das Konzept der biographischen Kontexte, um die Ergebnisse überschaubar darstellen zu können. Dabei handelt es sich um „soziale oder ‚Sinn-Kontexte‘„ (S. 143), die in der Erzählsituation von den Interviewpartnerinnen stets aufgerufen werden und sich aufgrund ständiger Bezugnahme wie ein roter Faden durch die Lebensgeschichte ziehen. Die ausgewählten Kontexte nennt die Verfasserin „Zusammen-Leben“, „Berufs-Leben“ und „Anders-Leben“. Sie sollen dazu dienen, über die Generationen hinweg charakteristische Veränderungen nachzuweisen. Darüber hinaus sollen sie die Herstellung eines politischen Zusammenhangs ermöglichen, da diese Kontexte zugleich Themenbereiche wichtiger Forderungen der Neuen Frauenbewegung repräsentieren. Dieses Konzept erweist sich im Folgenden als überaus brauchbar.
Bei den interviewten Familienmitgliedern finden sich teils markante intergenerationale Unterschiede. Während für die Ideen der Frauenbewegung insbesondere bei den Großmüttern oftmals „keinerlei Widerhall“ (S. 279) konstatiert werden kann, sind sie in biographischen Erzählungen der jüngeren Generation beispielsweise in der „Sensibilität für eine egalitäre Gestaltung der Zweierbeziehung“ (S. 222) und dem Wissen um die Bedeutung finanzieller Eigenständigkeit zu entdecken. Die Tatsache, dass die interviewten Töchter allesamt Hochschulreife besitzen, bringt Thon insofern mit der Frauenbewegung in Verbindung, als der Zugang zu Bildung und Arbeit schon eines der Kernthemen der Ersten Frauenbewegung war und von der Neuen Frauenbewegung konsequent weitergeführt wurde. Auch Einstellungsveränderungen im Bereich „Zusammen-Leben“ werden mit der Prominenz des Themas in der Frauenbewegung in Verbindung gebracht, die die Familie „sozusagen als Klassengesellschaft im Kleinen“ (S. 151) entlarvt hatte.
Bereits zu Beginn der Arbeit erwähnt die Autorin, dass der angenommene Zusammenhang zwischen sozialem Wandel und der Frauenbewegung „nicht zwangsläufig ein direkter, kausaler ist“ und spricht von der „Schwierigkeit, angesichts umfassender gesellschaftlicher Modernisierungsprozesse unterschiedliche Einflüsse voneinander zu separieren“ (S. 46). Ebenso ist ihr die Problematik des Verhältnisses zwischen „erlebter und erzählter Lebensgeschichte“ grundsätzlich bewusst: Es wird als „hoch komplex“ (S. 139) erkannt und eingehend erörtert. Dennoch bekommt man im weiteren Verlauf den Eindruck, dass Thon diese Komplexität bei der Bearbeitung ihrer Forschungsfrage nicht adäquat berücksichtigen konnte.
Als schwierig erweist sich beispielsweise die Interpretation der Interviews einer Familie, die sich insgesamt als religiös bezeichnet und religiöse Argumente für eine „Unterordnung der Frau unter den Mann und gegen Abtreibung und Homosexualität“ (S. 229) anführt. Wenn die Ehe samt traditioneller geschlechtsspezifischer Aufgabenverteilung als etwas „Gottgewolltes“ (S. 235) gesehen und den folgenden Generationen auch so vermittelt wird, ist das eine sehr starke Traditionslinie. Wie möchte man das in nicht religiös motivierte Darstellungen integrieren und hier den Einfluss oder Nicht-Einfluss der Frauenbewegung bewerten? Mit „Religiosität“ wurde eine Variable eingeführt, die sich schwer in das Gebilde kausaler Zusammenhänge einfügen lässt, das die Autorin gerne vorgeführt hätte.
Thon legt ihre Vorgehensweise bei Suche und Auswahl des Samples detailliert offen. Äußerst problematisch ist jedoch die Anzahl der Interviewpartnerinnen. Es wurden lediglich Interviews mit sechs Familien (sechs Großmüttern, sechs Müttern und sieben Töchtern) geführt. Von diesen wiederum wurden nur drei Familien zur Analyse herangezogen, also neun Interviews. Es liegt auf der Hand, dass dies keine repräsentative Anzahl sein kann. Zudem wurden im Zuge der „sukzessive[n] Konstruktion des Samples“ (S. 131) offenbar bewusst nur jene Interviews aufgenommen, die in ein vorab erstelltes Schema passten.
Die Gründe, weshalb ein intergenerationaler Vergleich sinnvoll ist, werden von der Autorin gut nachvollziehbar dargelegt. Folgerichtig wäre dann, dass die Frauen in jeweils dem gleichen Alter befragt werden. Wenn also die Großmutter einer Familie zum Zeitpunkt des Interviews 65 war, so sollte das Interview mit der Tochter wiederholt werden, wenn sie ebenfalls 65 ist, usw. Denn beispielsweise macht es im Hinblick auf die mehrmals erwähnte „Negativfolie“ (S. 260), die die Mütter oft für die Töchter bilden, sehr wohl einen Unterschied, ob man im Alter von 30 Jahren oder aber im Alter von 60 Jahren über Erlebtes spricht. Während der Wunsch nach Abgrenzung von der Herkunftsfamilie als ein Wesen der Jugend bezeichnet werden kann, verliert dieses Motiv mit zunehmendem Alter meist an Bedeutung. In diesem Sinne wäre eine Fortführung der Interviews als Langzeitstudie von großem Interesse.
Die unzureichende Samplegröße hat Konsequenzen für die Aussagekraft der gesamten Arbeit. Um den Rahmen dieser Rezension nicht zu sprengen, soll hier lediglich ein Beispiel angeführt werden: Wohl angesichts des in Teil eins von der Autorin erwähnten Problems der „unpolitischen Töchter“ (S. 51), womit die Kritik der Protagonistinnen der Neuen Frauenbewegung an der vermeintlich unpolitischen Haltung der jüngeren Generation gemeint ist, sieht sich Thon dazu veranlasst, ein Kapitel über „Politik als Kontext“ einzuschieben. In diesem werden auf 43 Seiten jene zwei (!) Interviewpartnerinnen miteinander verglichen, die sich als einzige als „politisiert“ betrachten. Es handelt sich dabei um eine Angehörige der Mutter- und eine Angehörige der Tochtergeneration, jedoch aus unterschiedlichen Familien. Die Ergebnisse dieses Vergleichs werden in unzulässiger Weise auf die Allgemeinheit übertragen. Aus der Tatsache, dass sich zwischen den beiden Frauen wenig Gemeinsamkeiten finden, wird gefolgert: „Daraus ergibt sich die Konsequenz, dass es nicht nur darum gehen kann, wie ‚politisch‘ oder ‚unpolitisch‘ ältere oder jüngere Frauen sind oder wie sie ‚politisiert‘ werden können, weil dies sehr Unterschiedliches bedeuten kann und zunächst in seiner Differenziertheit wahrgenommen werden muss.“ (S. 397) Dies aus der Befragung von exakt zwei Frauen unterschiedlicher Generationen, unterschiedlicher Familien und vermutlich unterschiedlicher sozialer sowie geographischer Umgebungen zu folgern, ist mehr als gewagt. Es überrascht umso mehr, als Thon selbst in einer früheren Arbeit davon ausging, die ostdeutsche bzw. westdeutsche Herkunft habe für die jeweilige Konstruktion von Geschlecht eine wichtige Bedeutung. Woher die Interviewpartnerinnen stammen, wird in der vorliegenden Studie hingegen überhaupt nicht erwähnt.
Es soll nun nicht der Eindruck entstehen, die Dissertation von Christine Thon sei nicht lesenswert, im Gegenteil: Die Interpretationen der biographischen Erzählungen fallen sehr ausführlich aus, enthalten interessante Gedankengänge und sind spannend zu lesen. Die Autorin hat sich offensichtlich sehr viel Literatur angeeignet, durchaus auch aktuelle, mit der sie sich intensiv auseinandersetzt und die sie sorgfältig zitiert. Negativ vermerkt werden muss, dass Überschriften ab dem dritten Grad im Inhaltsverzeichnis fehlen, was eine Orientierung erschwert. Ebenso wären beispielsweise ein Überblick über das Sample und tabellarische Kurzbiographien der Interviewpartnerinnen im Anhang sehr hilfreich gewesen.
Der beträchtliche Umfang dieser Arbeit erklärt sich zum Teil aus der präzisen und ausführlichen Schreibweise der Autorin. Zum anderen dürfte sie allerdings auch Schwierigkeiten mit der thematischen Rahmensetzung gehabt haben; so ufert beispielsweise der gesamte Teil eins der Arbeit etwas aus. Bei einigen Unterkapiteln von Teil drei wird außerdem nicht klar, was das Geschilderte mit den Fragestellungen zu tun haben soll.
Die in dieser Studie vorgestellten Spuren intergenerationalen Wandels samt der Anknüpfungsversuche an die Frauenbewegung erscheinen aufgrund von Samplegröße und Sampleauswahl beliebig und lassen verallgemeinernde Rückschlüsse nicht zu. Die von Thon gestellte Forschungsfrage muss daher unbeantwortet bleiben. Diese Arbeit verfolgt jedoch sehr gute Ansätze, daher wäre eine Fortsetzung im Sinne einer zahlenmäßigen Ausweitung sowie oben erläuterten Korrektur des Samples in Bezug auf die Alterssituation von großem Interesse.
URN urn:nbn:de:0114-qn093174
Mag. Bernadette Gotthardt
E-Mail: bernadette.gotthardt@gmx.at
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