Oliver Holz (Hg.):
Jungenpädagogik und Jungenarbeit in Europa.
Standortbestimmung, Trends, Untersuchungsergebnisse.
Münster u.a.: Waxmann Verlag 2008.
200 Seiten, ISBN 978–3–8309–1942–1, € 24,90
Abstract: Der vorliegende Sammelband gibt Einblicke in Jungen betreffende pädagogische Diskussionen in zehn überwiegend kleinen europäischen Ländern. Er enthält zwölf Beiträge zu unterschiedlichen Diskussionssträngen, die aber nicht unbedingt den Stand der Dinge in den jeweiligen Ländern repräsentieren. Die Auswahl an Themen und Aspekten erscheint willkürlich, schulische Perspektiven überwiegen. Die fachliche Qualität der Beiträge und der Diskussion ist unterschiedlich, teilweise sehr schlecht.
An sich keine schlechte Idee: Gedacht war dieses Buch wohl als eine Art europäische Bestandsaufnahme: „Standortbestimmung, Trends, Untersuchungsergebnisse“ – das verspricht viel. Aber wenn sich dann herausstellt, dass die Orte, an denen gesucht wird, und die Menschen, die suchen, nicht die richtigen sind? Irgendetwas scheint bei diesem Buch gründlich schiefgegangen zu sein. Aber beginnen wir mit dem Löblichen. Durch das Buch erhalten wir entlang eines sehr grob umrissenen Themas – irgendwie: ‚Jungen‘ und ‚Pädagogik‘ – Einblicke in pädagogische Segmente einiger Länder der EU. Wir erfahren etwas darüber, wie sehr unterschiedliche Menschen aus dem pädagogischen Bereich ein offenbar für viele der Beteiligten neues Thema angehen und was sie dabei so erleben und vorfinden. Die Qualität der Beiträge ist sehr unterschiedlich. So zeigen sich, wenn danach gesucht wird, manche interessanten Fünkchen, aber vor allem viele offene Fragen. Und vielleicht kann an diesem Buch nachgezeichnet werden, was alles falsch gemacht werden kann. Damit wäre aber auch schon alles Positive gesagt.
Das Buch ist eine Mogelpackung: Es hält nicht, was Titel und Klappentext versprechen. Das ist ärgerlich und wirkt schädlich, weil es der Wirklichkeit nicht gerecht wird. Wer darauf vertraut, hier dem Stand der Dinge zu begegnen, wird sich erschüttert abwenden. Über weite Strecken handelt das Buch, eines der Projektergebnisse des EU-Projektes „Kleine Helden in Not- Jungen auf der Suche nach ihren Identitäten“, nicht von „Jungenpädagogik und Jungenarbeit“, sondern es dreht sich um Lehrpläne und Schule, und dazu noch speziell um die Grundschule; das mag dem Interesse des EU-Projektes entsprechen, hätte aber wenigstens in den Titel gehört oder im Text erklärt werden müssen – außer einem mageren Hinweis auf das Projekt (auf S. 10) ist davon nichts zu finden. Der Band gibt keinen Überblick über Europa oder die europäischen Länder, sondern gibt Einblicke in zehn einzelne Länder (Frankreich und Italien beispielsweise sind nicht dabei), wobei die Auswahl nicht begründet wird. Dabei treffen Welten aufeinander, die sich (auch) aufgrund der verschiedenen wirtschaftlichen und kulturellen Bedingungen schwer in Verbindung bringen lassen. Das kann spannend sein, aber auch beliebig werden, wie es hier der Fall ist.
Wenn schon die Situation inhomogen ist, hätte es ein, zwei klare Fragestellungen gebraucht, die sowohl die Projektpartner als auch die sonstigen Beteiligten verstehen und weiterbringen (z. B. Lehrerinnen und Lehrer, Schüler, Schulverwaltung) als auch für die Leserinnen und Leser nachvollziehbar sind. Die aber gibt es nicht. Eine Fokussierung auf das Thema Sportunterricht mit Jungen, das in einem anschlussfähigen Beitrag aus Spanien zur Sprache kommt, wäre beispielsweise möglich gewesen – und auch interessant: denn hier gibt es in den ansonsten führenden europäischen Industrienationen gravierende Mängel und erheblichen Entwicklungsbedarf. Oder es hätte als verbindende Dimension gut die Frage nach einer Entwicklung der Genderperspektive und ihrer Bedingungen in den Blick genommen werden können – etwa mit der Frage, inwieweit Genderdifferenzierung gewissermaßen ein Luxusthema ist, das dann ins Spiel kommt, wenn anderes abgearbeitet wurde (ähnlich wie bei weiteren Themen der Ausdifferenzierung, z. B. Umwelt, Migration). Oder der Umgang mit der Spannung zwischen Gleichheit und Differenz (als Pendelbewegung, die auch mit sozialer Entwicklung zusammenhängt). Oder die Frage, ob der Prozess in Gesellschaften, die sich aus einer traditionell patriarchalen Form heraus entwickeln, notwendigerweise erst über die Gleichberechtigung der Frau und feministische Pädagogik gehen muss, um im Anschluss Jungen und Männer als besondere Zielgruppe zu entdecken. Oder wie politische Systeme und Gesellschaftsordnungen sich direkt auf Genderpädagogik auswirken. Solche Fragestellungen muss man sich mühsam zusammensuchen, kommt aber nicht besonders weit, weil sie eher zufällig auftauchen und nicht vertieft werden.
Das Buch entspricht mit wenigen Ausnahmen nicht dem Stand der fachlichen Diskussion zur Jungenpädagogik, sondern liegt auf dem Niveau der Anfänge von vor über zwanzig Jahren. Aus dieser Zeit stammt auch die Einleitung zur Einführung: Grönemeyers „Männer“. Warum wird diese Schnulze zitiert, ohne wenigstens den Grund dafür zu erwähnen: ist der Song für irgendetwas ein Beleg (außer für Phantasielosigkeit bei Pädagogen)? Was soll das in einem Fachbuch im Jahr 2008? Wenn die Autoren dann noch populären Zuschreibungen aufsitzen („Machos und Weicheier“) kann von Fachlichkeit keine Rede mehr sein.
Ausgangspunkt des Buchs ist eine wirre Themensammlung, der unstrukturierte Charakter zieht sich durch. Nicht einmal der Untersuchungsgegenstand ist präzise bestimmt: Was wird unter „Jungenarbeit“ oder „Jungenpädagogik“ verstanden? So wirkt das Buch wie eine bunt zusammengewürfelte Auswahl an Themen und Aspekten, ein roter Faden ist nicht erkennbar. Da tauchen plötzlich unvermittelt Pfadfinder und rote Falken auf (sind die in Österreich besonders wichtig?) und verschwinden genauso schnell wieder, da wird herumgestochert und auch mal hochwissenschaftlich statistisch erhoben, allerdings mit extrem fragwürdigen Dimensionen, z. B. „Weiblichkeit zeigen“, „Männlichkeit zeigen“ als Qualität von Lehrern. „Männlichkeit zeigen“ als Item: Was, bitte, wird denn darunter verstanden? Und versteht die Kollegin in Cordoba darunter dasselbe wie die Kollegin in Budapest oder der Minderheiten-Kollege in Weimar? Das ist Pseudo¬wissenschaft.
Oder die Perspektive auf Jungen: Jeder weiß, dass es die Jungen nicht gibt. Im Buch blitzen Differenzierungen selten auf, ein Zeichen dafür, dass Jungen nicht als Individuen wahrgenommen werden. Damit bleiben die Beiträge selbstverschuldet an der Oberfläche und beinhalten auch nur Oberflächliches. Es sind einfach nicht „die“ Jungen: wenn ein Drittel der Jungen in Deutschland auf demselben Leistungsniveau ist wie der Durchschnitt der Mädchen (S. 74), ist das ein Beleg dafür, dass Junge-Sein und gute schulische Leistungen durchaus zusammenpassen können. Heraus kommt ein scheinempathischer Blick auf Jungen; zwischen den Zeilen wird mitgeteilt, dass Mädchen doch besser sind, angepasster an die Moderne, den Herausforderungen entsprechen, die (unhinterfragt) gesetzt sind. Da fällt die verzerrende Einseitigkeit schon fast nicht mehr auf: Nur die Erwachsenenperspektive wird abgefragt, die Sicht der Jungen fehlt gänzlich. Es finden sich Sätze wie: „das Bild des Mannes von heute [ist] ambivalent und [wird] zum Problem. Eltern tun sich schwer in der Erziehung ihrer Jungen, Lehrer wissen nicht mehr ein noch aus und die Jungen selbst versuchen sich in macho-haftem Gehabe, um stark zu wirken. Aber richtig gelingen will es ihnen nicht“ (S. 19 f.). Mit Verlaub, eine solch triviale Vereinfachung geht einfach nicht. Hat der Autor Jungen je gesehen und wahrgenommen? Unhinterfragt werden die Schwierigkeiten mit dem Männlichen den Jungen zugeschanzt. Dass das eigentliche Problem Erwachsene, Lehrerinnen und Lehrer haben, wird nicht einmal angedacht.
Und dann die Konzentration auf Schule. Bekanntlich stellt die Schule ja ein ganz spezielles Thema der Pädagogik dar. Wenn es schon über weite Strecken um Schule und Jungenpädagogik geht, wäre ein wenig kritische Selbstreflexion in Bezug auf den schulischen Ausschnitt des ‚Jungeseins‘ angebracht, auch in Bezug auf die Frage, inwieweit die Institution Schule dieses maßgeblich (mit-)produziert. Schule ist eine rigide Institution, eingezwängt zwischen politischen Ideologien, Verwaltungszwängen und Veränderungsunwilligkeit. Sie hinkt bei geschlechterpädagogischen Entwicklungen immer schon hinterher. Vollgepackte Stundenpläne und winzige pädagogische Spielräume sind kennzeichnend. Weshalb soll gerade hier pädagogische Innovation erwartet werden? Auch für Jungen stellt Schule einen ganz speziellen Lebensraum dar, der Geschlecht produziert und als Bühne für Genderkonstruktionen dient. Wie können diese Aspekte vergessen werden? Interessant ist doch, wie Schule die männlichen Ambivalenzen selbst mit herstellt, die als Ursache für die Schwierigkeiten vieler Jungen mit dem Männlich-Sein bezeichnet werden. Der Sport¬unterricht – meist der einzige Ort, an dem in der Schule Jungenarbeit (homogen) stattfinden könnte – betont und benotet Konkurrenz und Leistung. Vielfalt an Körperlichkeiten ist im Jungensport kaum gegeben (Entspannung, Eleganz, Ausdruck…). An keiner Stelle gibt es diesen kritisch-reflektierenden Blick auf die Schule. Stattdessen beschränkt man sich oft auf die Soll-Ebene: Untersucht werden Lehrpläne in der Ausbildung von Grundschul-Lehrkräften. Wie hängen die mit der Wirklichkeit zusammen? Zu viele blinde Pädagogenflecken – und das ist peinlich.
Mit diesen falschen Perspektiven stellt das Produkt nicht mehr dar als den mageren Bericht eines schlechten EU-Projekts. Solche gibt es ja zur Genüge, meistens verschwinden sie in den Tiefen der EU-Bürokratie, und das ist auch gut so. Die große Frage aber bleibt: Warum muss dieses Material als Buch veröffentlich werden? Und warum nur einer der Aufsätze im ansonsten durchgängig deutschsprachigen Buch in Englisch abgedruckt wurde, erschließt sich mir nicht und wird auch nicht erklärt.
Kurzum: Das Buch ist ein Ärgernis und sollte einfach ganz schnell vergessen werden.
URN urn:nbn:de:0114-qn093361
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