Marlen Bidwell-Steiner, Ursula Wagner (Hg.):
Freiheit und Geschlecht.
Offene Beziehungen, Prekäre Verhältnisse.
Innsbruck u.a.: StudienVerlag 2008.
216 Seiten, ISBN 978–3–7065–4523–5, € 24,00
Abstract: Freiheit und Gleichheit gehören in modernen Gesellschaften zu den gleichermaßen positiven wie unbestimmten Grundwerten. Die Autorinnen untersuchen in ihren Beiträgen, die in vier Schwerpunkte – Staat, Markt, Recht/Eigentum und Liebe/Sexualität – gegliedert sind, wie ‚Freiheit‘ im Kontext neoliberaler Transformationen auf eine im Vergleich mit der fordistisch organisierten Gesellschaft neue Weise diskursiviert, institutionalisiert und reguliert wird und wie sich dabei das Verhältnis von Freiheit und Geschlecht neu figuriert. Neben den Veränderungen in Geschlechterverhältnissen und praktizierten Geschlechterarrangements stehen die Möglichkeiten feministischer geschlechterpolitischer Interventionen im Mittelpunkt des Interesses.
Wie Gleichheit gehört auch Freiheit zu den grundlegenden Werten, die das Selbstverständnis moderner Gesellschaften und ihrer Mitglieder prägen. Diese Werte haben einerseits eine positive Färbung, sind jedoch andererseits inhaltlich eher unbestimmt – Dominanz bzw. Bestimmtheit gewinnen beide immer in historisch-konkreten Figurationen, die die einzelnen Phasen der Moderne kennzeichnen. Dementsprechend fragen die Autorinnen dieses Bandes aus verschiedenen wissenschaftlichen bzw. praktisch-politischen Perspektiven, welches Verständnis von Freiheit aktuell, in der neoliberal geprägten Transformation der fordistischen Gesellschaft, vorherrscht. Dabei gehen sie von zwei Grundannahmen aus: zum einen, dass eine Verschiebung des Verständnisses von Freiheit – im Sinne eines öffentlichen Handelns in einem öffentlichen Raum (vgl. S. 11) – hin zu einem entpolitisierten, in den privaten Raum verwiesenen Freiheitsbegriff stattfindet; zum anderen, dass Freiheit und Geschlecht institutionell und normativ miteinander verknüpft sind und die beobachtbare Verschiebung im Freiheitsverständnis auch bisherige Geschlechterarrangements in Frage stellt. Die im Buch versammelten Analysen der gegenwärtigen Transformationen, die im Zeichen der ‚neuen Freiheit‘ des Neoliberalismus stehen, zielen darauf ab, „Auswege“ aus jener „Logik“ (S. 10) zu vermessen, die dem gesellschaftlichen Umbau scheinbar zwingend innewohnt, d. h. nach politischen Handlungs- und feministischen Interventionsmöglichkeiten unter diesen Bedingungen zu suchen. Foucaults Verständnis von moderner Macht und modernen Regierungsformen (Gouvernementalität) liefert dabei für etliche der Autorinnen den theoretisch-konzeptionellen Rahmen.
In den ersten drei Aufsätzen wird das Verhältnis von Staat und ‚neuer Freiheit‘ diskutiert. Birgit Sauer skizziert, wie und weshalb „Freiheit und Autonomie, Bevölkerung und Generativität […] offensichtlich ganz zentrale Begriffe in der derzeitigen Neugestaltung des Verhältnisses von Staat, Gesellschaft, Ökonomie und Privatheit sowie der Neusituierung von BürgerInnen in diesem Verhältnis [sind]“ (S. 17) und weshalb „Geschlecht, Generativität, Verwandtschaft und Familie […] so zentral für die derzeitigen Gesellschafts- und Politikverhältnisse sind bzw. warum sie diskursiv so aufgewertet werden“ (S. 18). Sie macht „drei Dimensionen der Transformation von Staatlichkeit“ aus (S. 22) – die internationale, die nationale Ebene sowie die Gouvernementalisierung der staatlichen Souveränität – und zeigt, dass alle drei Dimensionen ‚vergeschlechtlicht‘ und gekennzeichnet sind durch die jeweiligen Spannungsverhältnisse zwischen Freisetzung von bisherigen Geschlechterkodierungen und neuen, erweiterten Handlungsmöglichkeiten (hier insbesondere für Frauen) einerseits und Sicherung bzw. (Wieder-)Herstellung hierarchischer Geschlechterverhältnisse andererseits.
Gundula Ludwig vertieft den bei Sauer bereits entwickelten Gedanken der Gouvernementalisierung. Anknüpfend an Foucault arbeitet sie heraus, dass der Staat im engeren Sinne, aber vor allem auch der weit verstandene Bereich staatlicher Machtausübung (der eine Vielzahl von „mikro- und makropolitischen Praktiken“ [S. 39] des ‚Regierens‘ einschließt) wichtige Institutionen der Konstruktion der Zweigeschlechtlichkeit und der vergeschlechtlichten ‚Anrufung‘ der Subjekte sind. Sie zeigt, dass das „neoliberale Projekt […] neue Subjektivierungsformen hervor[bringt]“ (S. 43), die z. B. auch Frauen als „unternehmerisches Selbst“ (S. 43) ansprechen, die zugleich aber diese scheinbar geschlechtsneutrale Anrufung der Subjekte als Unternehmer ihrer selbst begrenzen bzw. zurücknehmen, indem „Zuschreibungen wie Emotionalität und Fürsorge weiterhin als weibliche Eigenschaften forciert werden“ (S. 44). „Der Grundwiderspruch, dass die Reproduktion der Gesellschaft notwendig zugleich über staatliche Regulierungen in privater Form geregelt ist, bleibt weiterhin zentral in der Beziehung zwischen Staat und Geschlecht und mithin in der vergeschlechtlichten Subjektivierung“ (S. 44). Alexandra Weiss schließlich kontrastiert das fordistische und das post-fordistische Staatsbürgerregime, fragt nach deren je eigener „geschlechtsspezifischer ‚Schlagseite‘„ (S. 50) und nach Möglichkeiten zivilgesellschaftlichen Protestes unter veränderten Bedingungen.
Die folgenden drei Beiträge gehen den Auswirkungen der ‚Ökonomisierung des Sozialen‘ auf Geschlechterverhältnisse nach. Gabriele Michalitsch skizziert Verschiebungen im Verhältnis von Öffentlichem und Privatem, die „Reorganisation des Dispositivs Öffentlich/Privat“ (S. 65) durch mehrfach dimensionierte Prozesse der Privatisierung und damit einhergehende alt/neue Maskulinismen. Margareta Kreimer zeigt, in welche Kontexte auf der Makroebene, insbesondere der Familienpolitik, individuelles ‚Bargaining‘ in privaten Haushalten eingebunden ist, und beschreibt am Beispiel der Elternkarenz, wie Vergeschlechtlichungsprozesse aktuell wirken. Eva Blimlinger legt am Beispiel der Projektarbeit dar, wie aus dem Typus der autonomen Projekte der 1970er Jahre, der nicht zuletzt von der Frauenbewegung als „Gegenentwurf zu etablierten Institutionen und Unternehmen gedacht“ (S. 100) gewesen war, eine prekäre und feminisierte Form der Arbeitsorganisation geworden ist.
Die folgenden Artikel zum Schwerpunkt ‚Recht/Eigentum‘ sind stärker als die vorhergehenden historisch bzw. ethnologisch orientiert. Thematisiert wird, wie die Ungleichbehandlung der Geschlechter seit den Kodifizierungen des 19. Jahrhunderts in den verschiedenen Rechtsgebieten auf ungleichzeitige, widersprüchliche Weise festgeschrieben wurde (Irene Faber), sie rekonstruieren „the gendered nature of liberty in the early United States“ (Astrid M. Fellner) und gehen den Ursachen von legitimer und illegitimer Gewalt in einer indigenen Gemeinde in Mexiko (Patricia Zuckerhut) bzw. den Auswirkungen der Privatisierung von Boden auf Geschlechterverhältnisse in einem afrikanischen Land (Birgit Englert) nach.
Im letzten Teil, dem Schwerpunkt ‚Liebe/Sexualität‘, geht es wieder stärker um Entwicklungen, die (west-)europäische Gesellschaften betreffen. Katharina Miko zeigt, dass die hier beobachtbaren vielfältigen Familienformen durch „Apriori“ (S. 173) wie Hegemonie der Heterosexualität, Monogamie u. a. gekennzeichnet sind, die eher auf ein „Jonglieren mit bekannten Aspekten des familiären Lebens“ (S. 173) verweisen als auf veränderte Konstruktionen. Susanne Hochreiter demonstriert, dass und wie eine vormals emanzipatorische Schwulen- und Lesbenpolitik in neoliberale Diskurse und Politiken integriert wird/werden kann. Cordula Höbart und Johanna Reithner schließlich fragen, welche „Mechanismen des Neoliberalismus“ (S. 211) bei Etablierung der Sexarbeiterin als ‚femina oeconomica‘, als Unternehmerin ihrer selbst wirksam werden und wie hier Prekarisierung, Entgrenzungen von privat-öffentlich und kulturelle Konstruktion weiblicher Sexualität zusammenwirken.
Der Band vermittelt ein vielfältiges und differenziertes Bild von Zusammenhängen zwischen Freiheit und Geschlecht in neoliberalen Kontexten. Das macht aber auch in gewisser Weise seine Schwäche aus: das konzeptionelle Band zwischen den Beiträgen, das insbesondere in den ersten Artikeln sichtbar war, geht, je empirisch-konkreter die Artikel werden, verloren. Die eher systematisch-theoretisch orientierten Artikel der ersten Teile wiederum schärfen zwar in mancherlei Hinsicht den Blick für Verschiebungen und ihre Auswirkungen auf bisherige Geschlechterverhältnisse bzw. -arrangements. Sie gehen aber kaum über die Position eines Vergleichs der neoliberalen Transformationen mit den Konstrukten und Institutionalisierungen der fordistischen Gesellschaft hinaus, was zwangsläufig die Perspektive eines Verlustes nach sich zieht. Das führt ebenso zwangsläufig dazu, dass Schlussfolgerungen über erweiterte (politische) Handlungsmöglichkeiten von Frauen sowie über mehr Geschlechtergerechtigkeit bzw. -demokratie eher abstrakt, unvermittelt angehängt an das ‚Negativszenario‘ erscheinen.
URN urn:nbn:de:0114-qn093113
Prof. em. Dr. Irene Dölling
E-Mail: doelling@uni-potsdam.de
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