Sybille van der Walt, Christoph Menke (Hg.):
Die Unversehrtheit des Körpers.
Geschichte und Theorie eines elementaren Menschenrechts.
Frankfurt am Main u.a.: Campus Verlag 2007.
280 Seiten, ISBN 978–3–593–38341–5, € 29,90
Abstract: Gibt es einen Anspruch des Menschen auf physische und psychische Integrität? Wie hat sich ein solcher Anspruch entwickelt und auf welchen Grundsätzen kann er beruhen? Das Menschenrecht auf die Unversehrtheit des Körpers wird im vorliegenden Sammelband sowohl aus geschichtlicher, literaturtheoretischer, politischer als auch aus islamwissenschaftlicher, soziologischer und juristischer Perspektive beleuchtet. Dabei setzen sich die Autoren und Autorinnen mit den derzeit vorliegenden Argumentationsfiguren zur Begründung der Menschenrechte als elementarem Recht auseinander und leisten mit ihren Analysen, Kritiken und Konfrontationen einen innovativen Beitrag zu den aktuellen Debatten um Folter, körperlicher Unversehrtheit und Verantwortung.
Die Idee zu dem insgesamt elf Beiträge umfassenden Sammelband geht auf eine Tagung mit dem gleichnamigen Titel am Max-Weber-Kolleg für kultur- und sozialwissenschaftliche Studien an der Universität Erfurt im Dezember 2005 zurück. In ihrem einleitenden Beitrag arbeitet Sybille van der Walt heraus, inwiefern vor allem nach den Ereignissen um den 11. September, in deren Folge sich Debatten um die Enttabuisierung von Folter entspannen und es schließlich in Abu Ghraib und Guantanamo Bay zu einer Form von Gewalt gegen Menschen kam, die „unser Wissen über das Spektrum des Möglichen in erschütterndem Maße erweitert“ (S. 7) hat, es einen neuen Begründungsbedarf für das Menschenrecht auf körperliche Unversehrtheit gibt. Der Spalt, der allgegenwärtig zwischen der Existenz von Rechtsnormen und ihrer Einhaltung klafft, wird durch die aktuellen Debatten nicht nur thematisiert, sondern gleichermaßen zunehmend produziert; damit stellt er zugleich die zumindest intellektuelle Vereinbarung der internationalen Staatengemeinschaft über den Verzicht von Gewalt und Folter in Frage. Diese Infragestellung produktiv auszuloten und neue Begründungsfiguren argumentativ zu erschließen, sieht van der Walt als eine Chance, die körperliche Unversehrtheit als ein elementares Recht zu rechtfertigen.
Thomas L. Haskel geht in seinem Beitrag der Frage nach, inwieweit der Kapitalismus in einen Zusammenhang mit der Sensibilisierung für menschenrechtliche Belange zu bringen ist. Dabei extrahiert er zunächst verschiedene Voraussetzungen einer humanitären Gesinnung, wie die Herausbildung von ethischen Maximen, nach denen es richtig ist, Fremden zu helfen, oder die Fähigkeit, sich als kausal beteiligt am Leiden eines Anderen zu betrachten. Ein Einfluss des Kapitalismus lässt sich, so Haskels These, mentalitäts- und moralgeschichtlich dahingehend nachweisen, dass die zunehmenden Ansprüche an das vergesellschaftete Subjekt im Hinblick auf seine wirtschaftliche Funktion – wie die Fähigkeit, Versprechen einzuhalten oder sich um die Folgen seines Handelns zu kümmern – den Effekt zeitigten, dass sich humanitäre Gesinnungsstrukturen ausprägen konnten. Hierbei sei es unabdingbar, dass die Menschen ein Rezeptwissen darüber erlangen, wie genau zu helfen ist, damit die Möglichkeit zu helfen überhaupt (intellektuell wie auch praktisch) wahrgenommen werden kann.
Elisabeth B. Clark untersucht den Diskurs der amerikanischen Antisklaverei-Literatur des 19. Jahrhunderts. Sie unterscheidet mehrere geschichtliche Phasen, die sich durch den Gebrauch je spezifischer Topoi und Genres auszeichnen. So zeigt sie, dass um 1830 bis 1860 Augenzeugenberichte dominierten, die vor allem „das grausige Leid des Körpers“ (S. 61) dokumentieren. Diese Beschreibungen, die thematisierten, dass auch Sklaven Gefühle haben und Schmerzen erleiden können, eröffneten unter anderem in einem Wechselspiel mit religiösen und medizinischen Diskursformationen die Möglichkeit für die Anerkennung der Sklaven als gleichwertige Menschen, denen laut amerikanischer Verfassung Grundrechte zugebilligt werden müssen. Clark erläutert: „Die Schilderung der Schmerzen eines Sklaven war ein Beleg für die Ähnlichkeit des menschlichen Körpers über rassische Grenzen hinweg“ (S. 71). Sie vertritt insofern gegenüber Haskel die These, dass die Wahrnehmung von physischem Schmerz und nicht der Kapitalismus als Voraussetzung der Ausprägung einer humanitären Gesinnung gesehen werden kann.
Der Beitrag von Abdullah Ahmed An-Na´im befasst sich auf der Grundlage eines Vergleichs mit dem islamischen Strafrecht, der Scharia, mit der Frage, in welcher Weise die Diskursformation der Menschenrechte eurozentristische Argumentations- und Legitimitationsfiguren beinhaltet. Diese Konfrontation betont zum einen deutlich, dass Schmerz und physische Integrität keine ontologischen Seinsgegebenheiten darstellen, sondern vielmehr kulturell konstruiert sind. Zum anderen zeigt dieser Beitrag auf, dass bei dem Versuch, Menschenrechte in islamischen Ländern einzuführen, nicht an den gesunden Menschenverstand oder die Vernunft der Anderen appelliert werden kann. Es muss vielmehr darum gehen, einerseits den kulturellen Kontext als solchen anzuerkennen und andererseits langfristig Verschiebungen auf diskursiver Ebene herbeizuführen, um innerhalb des Systems des islamischen Strafrechts legitime Möglichkeiten zu eröffnen, die Scharia abweichend von aktuellen Ausdeutungen zu interpretieren, welche die bisherigen Verletzungen der Menschenrechte (im westlichen Verständnis) nicht länger tolerieren.
Birgit Krawietz setzt sich mit der Scharia als spiritueller Erbauungsschrift auseinander und macht dabei deutlich, dass diese durchaus eine Vielzahl von Anknüpfungspunkten für Argumentationen bietet, die für ein Recht auf körperliche Unversehrtheit sprechen. Sie zeigt am Umgang der Scharia mit ethischen Fragen, wie Organtransplantation, Abtreibung oder auch dem Geschlechterverständnis, dass es lohnt, sich mit der islamischen Tradition in einen innerkulturellen Dialog zu begeben und auf diese Weise gemeinsame Antworten zu erarbeiten.
Dagegen beschäftigt sich der Beitrag von Wolfgang Vögele mit der evangelischen Theologie und ihrer zögerlich einsetzenden Öffnung für die phänomenologische Anthropologie. Er stellt ein neu erwachtes Interesse am Körper fest und führt dieses auf die Ablösung der reduktionistischen Leib-Seele-Unterscheidung durch die Leibesphänomenologie zurück. Im Zuge dieser Veränderungen in der protestantischen Theologie kommen Vögele zufolge die Anthropologie der Menschenwürde, die Lehre von der Gottesebenbildlichkeit und die protestantische Freiheit im „menschenrechtlichen Schutz der freien Entfaltung der Person, die grundsätzlich an die körperliche Existenz gebunden ist“ (S. 148) zusammen.
Einen anderen interessanten Aspekt der kulturellen Symboliken körperlicher Unversehrtheit nimmt Sabine Sielke in den Blick. Sie untersucht die Fotografien der Folterszenen aus Abu Ghraib und Guantanamo Bay und erschließt die Lesart, dass diese Fotografien deutlich machen, dass Menschenrechte weiter ein umkämpftes Terrain darstellen. Dabei rekurriert sie gleichzeitig auf Susan Sontags Beiträge zur Fotografie und die darin dargestellte „Grammatik des Sehens“. So wird gezeigt, dass die Bilder stets einer Erklärung oder auch einer Kontextualisierung bedürfen, die ihnen Sinn verleiht. Diese Angewiesenheit auf Kontextualisierung macht für Sielke zugleich den fragilen Angriffspunkt der Subversion aus: „Gleichzeitig […] erzählen Fotos eigene Geschichten, indem sie andere Bilder zitieren und erinnern. Und auf diese Weise durchkreuzen sie das eigentliche Ziel der Folter, den Gefolterten zum Sprachrohr seiner Folterer zu machen“ (S. 158).
Ausgehend von einer Analyse kultureller Symboliken beschäftigt sich Gesa Ziemer mit der Wirkkraft von Wahrnehmungsstrukturen. Dabei geht es ihr vor allem darum, aufzuzeigen, dass in das Konzept der Menschenrechte immer bereits ein spezifisches Subjektverständnis eingeschrieben ist, das auch von ästhetischen Konstruktionen angeleitet wird. Die Autorin rekonstruiert vier verschiedene Arten des Blickens, denen je unterschiedliche Wahrnehmungen des Anderen zugrunde liegen. Die Reflexion der Verletzbarkeit des eigenen Körpers in die Beziehung zu dem oder der Anderen aufzunehmen, sieht Ziemer als eine Möglichkeit, hierarchisierenden Blick- und Wahrnehmungsweisen zu entgehen.
Bernd Ladwig grenzt sich in seinem Beitrag von der Sichtweise ab, dass dem Recht auf körperliche Unversehrtheit eine klassisch-liberale Begründungsfigur zugrunde gelegt werden muss, sondern verdeutlicht, dass die körperliche Unversehrtheit ein fundamentales Interesse aller Menschen darstellt, das seinen Schutz durch die Institution der Menschenrechte erfahren kann und muss.
Arnd Pollmann setzt sich ausführlich mit dem Begriff der Integrität auseinander. Er konstatiert zunächst eine Lücke in der philologischen Beschäftigung mit diesem Terminus, welche er durch seine Differenzierungen wenn auch nicht schließen, so doch analytisch ausloten möchte. Pollmann schlägt vor, Integrität sowohl als Unversehrtheit als auch als Selbsttreue zu verstehen, und exemplifiziert das Zusammenspiel beider Termini anhand verschiedener Formen von Gesetzesverstößen. So kann er zeigen, dass Unversehrtheit nicht nur auf physischer Ebene gedacht werden muss, sondern auch für die psychische Verfassung des einzelnen Menschen von Bedeutung ist.
Dem Schutzgut der körperlichen Unversehrtheit stellt Winfried Brugger weitere Schutzgüter der Menschenrechte zur Seite. Durch diese Ergänzung gelingt es ihm, sichtbar zu machen, dass der körperlichen Unversehrtheit durchaus eine wichtige Rolle bei der eigenständigen und verantwortungsvollen Lebensführung zukommt, sie aber dennoch nicht die einzige Bedingung für eine solche Lebensführung – wie sie in das Menschenbild der Menschenrechte eingeschrieben ist – darstellt.
Hauke Brunkhorst kommt in seinem Beitrag darauf zu sprechen, dass die Einhaltung der Menschenrechte, insbesondere der Verzicht auf Folter, konstitutiv für die demokratische Verfasstheit der einzelnen Staaten ist. Er zeigt am Beispiel des deutschen Falles von Wolfgang Daschner und der Folterdebatte in Amerika, dass der „primäre Zweck demokratischen Rechts nämlich nicht Frieden durch Freiheitseinschränkung, sondern Freiheitsverwirklichung“ (S. 262) ist. So gelangt er zu der Positionierung, dass die Wahrung der Sicherheit in dem Moment in einen Unsicherheitsfaktor umschlagen kann, in dem sie die Wahrung der Grundrechte eines jeden Menschen außer Kraft zu setzen vermag. Auch Terroristen müsse das Recht zugestanden werden, als freie und für ihre Tat selbst verantwortliche Personen behandelt und verurteilt zu werden. Brunkhorst gibt zu bedenken, dass „die Umfunktionierung des Strafrechts in ein sozialpolitisches Steuerungsinstrument“ (S. 270) gerade dies dem Täter verwehrt: die Verantwortung für seine Handlungen übernehmen zu können.
Der Sammelband bietet eine erfreuliche Bandbreite an Beschäftigung mit der Thematik der Menschenrechte. Auch wenn die Beiträge einen expliziten Bezug auf Geschlecht als relevante Analysekategorie in der (Neu)Formierung des Verhältnisses von Körper und Recht vermissen lassen, macht die interdisziplinäre Auswahl an Betrachtungsperspektiven doch sichtbar, dass die aktuellen Debatten diverse Fragen hinsichtlich der spezifischen Umsetzbarkeit und Begründung von Menschenrechten aufwerfen. Es ist unumgänglich, dass neben juristischen Ausführungen auch kultur- und sozialwissenschaftliche Perspektiven in den Prozess der Erarbeitung von Antworten mit einbezogen werden. Menschenrechte, so zeigt sich, sind zugleich ‚Stützpfeiler‘ und ‚Fallhöhe‘ der demokratisch organisierten Gesellschaften. An den Diskussionen um Menschenrechte misst sich nicht zuletzt, ob und in welcher Weise verschiedene Gesellschaften in einem interkulturellen Dialog miteinander stehen können, in welchem Gegensätze und Zumutungen ausgehalten und friedvoll ausgehandelt werden können. Der vorliegende Band gibt, wenn auch keinen vollständigen Überblick, so doch einen Einblick in die Komplexität und Vielfalt der Debatten um Menschenrechte, Körper- und Staatspolitiken und gibt darüber hinaus innovative Denkanstöße nicht allein für ein philosophisch interessiertes Publikum.
URN urn:nbn:de:0114-qn093130
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