Petra Lucht, Tanja Paulitz (Hg.):
Recodierungen des Wissens.
Stand und Perspektiven der Geschlechterforschung in Naturwissenschaften und Technik.
Frankfurt am Main u.a.: Campus Verlag 2008.
234 Seiten, ISBN 978–3593386010, € 29,90
Abstract: Nach mehreren Jahrzehnten intensiven Forschens zur Vergeschlechtlichung von Technik(entwicklung und -nutzung) und von Naturwissenschaften sind Bestandsaufnahmen unerlässlich, um Perspektiven und Handlungsnotwendigkeiten auszuloten. Mit diesem Band werden sehr gute Artikel zu Spezialgebieten vorgelegt, die einen Einstieg in eine geschlechtersensible Technik- und Naturwissenschaftskritik ermöglichen und die gleichzeitig wegbereitend für zukünftige Forschungsprojekte in Einzeldisziplinen sind. Allerdings zielt der Untertitel am Inhalt des Bandes vorbei, da eine Bestandsaufnahme (im Sinne einer Überblicksbewertung) nicht erfolgt.
Der Sammelband, der deutsch- und englischsprachige Beiträge namhafter Wissenschaftlerinnen vereint, wird mit einem Aufsatz zu wissenssoziologischen Betrachtungen eröffnet. H. Wiesner legt dar, wie in der Schule geschlechtsspezifische Fähigkeiten hergestellt werden. Die so geschlechtlich sozialisierten Menschen treten in Wissenschaften ein und sehen sich auch dort mit Strukturen, Inhalten und Methoden konfrontiert, die auf eine langwährende androzentrische Prägung verweisen. Prestige, (hohes) Einkommen und Teilhabe an Netzwerken hervorragender Wissenschaftler/-innen sind für Männer weitaus leichter zu haben als für Frauen. Knapp entwickelt Wiesner methodologische Antworten, mit denen Gender Studies Ausschlussmechanismen in den Blick bekommen können (vgl. S. 31 ff.). An diese Übersicht über den „Gender-Diskurs“, wie sie ausführlicher bereits in Wiesners Dissertation aus dem Jahr 2002 nachzulesen war, schließt sich ein differenzierter Blick S. Maasens auf Methodologien in den Gender Studies an. Trans- und Interdisziplinarität sollten nicht per se als kritisch betrachtet werden. Auch diese Methodologien könnten dazu eingesetzt werden, Ausschlussmechanismen und marktkonformes Wissen zu produzieren (vgl. S. 51 ff.).
Die sich anschließenden Beiträge von K. Zachmann, J. Wajcman, K. Esders, T. Paulitz und W. Faulkner nehmen Technik, Technikwissenschaften, die Bedeutung von Anwender/-innen bei der Konstruktion von Technik und die Lebenssituation einzelner Techniker/-innen in den Blick und richten dabei den Fokus auf geschlechtsspezifische Zuschreibungen. Wajcman stellt die unterschiedlichen Betrachtungsweisen feministischer Strömungen vor, die sich zwischen der Anerkennung von Technik als Chance für mehr gesellschaftliche Gleichheit der Geschlechter und der Ablehnung von Technik als Teil patriarchaler Herrschafts- und Unterdrückungsverhältnisse bewegen (vgl. S. 87 ff.). Die Autorin vermisst in den feministischen Diskursen zu Technikwissenschaft und Techniknutzung oft eine globale Perspektive. So sei zu beachten, dass Rohstoffe für westliche Technik nicht selten aus Regionen mit militärischen Konflikten stammen oder sogar diese Konflikte verursachen – von solchen Konflikten seien auch Frauen betroffen (vgl. S. 97 f.).
Zachmann stellt dar, wie in Technik Geschlechterskripte eingeschrieben sind. So werden Produkte nicht (ausschließlich) nach deren bester Funktionalität konstruiert, sondern das Design wird nach erwarteten und gesellschaftlich aufgeladenen Vorlieben einer – geschlechtlichen – Zielgruppe erstellt. Während die Macher/-innen häufig männlich seien, seien Nutzer/-innen oft weiblich. Gleichwohl hätten Nutzer/-innen auch Einfluss auf die Technikentwicklung, da sie als „Expert/-innen“ für die praktische Anwendung betrachtet würden. Pointiert arbeitet Zachmann heraus, dass Produkte nicht nach Bedürfnissen erstellt werden, sondern dass Produkte Bedürfnisse nach sich ziehen (vgl. S. 69 ff.).
Auch in den folgenden Beiträgen – von Esders, Paulitz und Faulkner – wird das komplexe Wechselspiel von Geschlechtlichkeit in den Technikwissenschaften und bei der Techniknutzung in den Blick gerückt. Dabei werden keine vereinfachenden Aussagen in dem Sinne getroffen, dass Frauen passive Objekte in einem Herstellungsprozess seien, sondern es wird deren Beteiligung als Wissenschaftler/-innen und Nutzer/-innen herausgestellt. Gleichwohl wird deutlich gemacht, wie Techniknähe gesellschaftlich oft mit Männlichkeit in Verbindung gebracht wird, während Technikferne mit Weiblichkeit assoziiert wird – die spezifischen Auswirkungen werden an individuellen Beispielen verdeutlicht (vgl. S. 103 ff., 123 ff., 141 ff.).
Der bei Wajcman deutlich gewordene Ansatz einer globalen Sicht wird in zwei weiteren Beiträgen stärker herausgestellt. L. Schiebinger betrachtet in einem historischen Beitrag das Wissen über Möglichkeiten des Schwangerschaftsabbruchs im 18. Jahrhundert. Anhand einer Studie über die Verbreitung von Kenntnissen über die Schmetterlingsblume (Flos pavonis) vollzieht die Autorin nach, wie Sklavinnen in Kolonien diese als Abtreibungsmittel nutzten. Sie betont deren eigenverantwortliches und moralisch geprägtes Handeln, das von dem Interesse geleitet gewesen sei, keine Kinder zu bekommen, die in einer ähnlichen Lage wie sie selbst leben müssten. Schiebinger arbeitet heraus, dass das Wissen um die abtreibende Wirkung der Schmetterlingsblume – im Gegensatz zu anderem – keinen Eingang in den europäischen Wissensbestand gefunden hat. Daran werde deutlich, wie Interesse und Desinteresse an Wissen auf eine männliche Prägung sich konstituierender moderner europäischer Wissenschaften verweisen. Aus einer anderen Perspektive wurde Schwangerschaftsabbruch auch in Europa vermehrt thematisiert – im 19. Jahrhundert wurden in vielen europäischen Ländern allgemeine Gesetze erlassen, die Schwangerschaftsabbruch verboten (vgl. S. 159 ff.).
Ebenfalls aus einer globalen Perspektive wendet sich E. Ruiz Ben wieder einem aktuellen Thema, den Informationstechnologien, zu. Ihr Beitrag kann auch im Anschluss an die technikwissenschaftlichen Beiträge gelesen werden. Deutlich wird, wie nach Ländern und Unternehmensgröße verschieden, geschlechtspezifische Erwartungen in Technikwissenschaften eingehen, die mehr für Frauen als für Männer hinderlich sind (vgl. S. 177 ff.).
Die Konstruktion „natürlichen Geschlechts“ in biologischen Wissenschaften ist Thema des letzten Abschnitts. K. Palm greift hierzu bisher noch nicht ausreichend betrachtete Schriften aus dem Zeitraum um 1800 auf. Sie beschreibt, dass und wie Evolutionstheorien (der Fortentwicklung der Arten) geschlechtsspezifische Zuweisungen konstituiert haben. Weibliches Geschlecht erscheint in diesen Schriften als verharrend, als passiv und ständig sexuell, wogegen männliches Geschlecht fortschreitend, aktiv und nur in wenigen Momenten sexuell sei (vgl. S. 197 ff.). Palm erweitert die Ausführungen C. Honeggers zu den Begriffen ‚Irritabilität‘ und ‚Sensibilität‘ und führt die geschlechtlichen Zuweisungen, die unterschiedliche Gelehrte um 1800 diesen gegeben hatten, und deren Begründungen pointiert aus (vgl. S. 209 f.). Der Einwand Palms gegen Honegger muss jedoch abgemildert werden. Auch Honegger verwies auf verschiedene Auslegungen der Begriffe ‚irritabel‘ und ‚sensibel‘ um 1800, deutete die Begründungen für die unterschiedlichen Begriffsverwendungen allerdings nur an (Vgl. Honegger, Claudia: Die Ordnung der Geschlechter. Die Wissenschaften vom Menschen und das Weib 1750–1850. Frankfurt am Main, New York: Campus Verlag, 1991, S. 132 f., 156, 165 f., 189 f.).
Der Beitrag von B. Mauss zur aktuellen Biologie beschließt den Band. Mauss erläutert das „Genomic Imprinting“, mit dem neuere Arbeiten der Molekulargenetik die DNA als – u. a. mit Methylierungen – modifiziert beschreiben. Diese Modifikationen seien elterlich verschieden, wodurch Gene elternspezifisch – maternal, paternal – unterschiedlich exprimiert würden. Mauss kritisiert solche Darstellungen, da mit ihnen auf einer weiteren Ebene Geschlecht in biologische Theorien eingeschrieben werde (vgl. S. 213 ff.). Nach entsprechenden Ausführungen der Verfasserin aus den Jahren 2001 und 2004 ist dies noch einmal ein wichtiger kritischer Hinweis auf ein Themengebiet, das bislang von biologiekritischer Forschung vernachlässigt wird. Nicht zu vergessen gilt es bei anschließenden vertiefenden Betrachtungen, auch weitere Ansätze der Epigenetik in den Blick zu nehmen. In diesen werden ebenfalls die von Mauss thematisierten Modifikationen behandelt, allerdings auch in einem solchen Sinne, dass sie bisherige geschlechterdifferente Zuschreibungen erschüttern könnten. Die Ergebnisse der Epigenetik machen deutlich, dass das Genom keinen ‚stabilen Text‘ darstellt, sondern dass sich dieses zeitlebens wandelt. In der Zeitung Die Zeit wurde unlängst eine „Zäsur“ in der Genetik ausgerufen und die Möglichkeit ausgeführt, dass nun ein „Zeitalter der relativistischen Genetik“ anbreche. Auch einen solchen Prozess sollte die Geschlechterforschung kritisch begleiten. (Vgl. Bahnsen, Ulrich: Erbgut in Auflösung. Die Zeit, Bd. 25 (2008): S. 33, online: http://www.zeit.de/2008/25/M-Genetik [Stand: 27.08.2008]; sowie den Supplement-Band Nature Insight: Epigenetics, Bd. 447 [2007], Nr. 7143: S. 396–440).
Der Band vereint sehr lesenswerte Aufsätze. Es werden insbesondere Forschungsbeiträge zu Spezialgebieten vorgestellt, wobei in einigen auch auf frühere Arbeiten verwiesen wird. Für weitere Forschungen bieten sich so gute Anknüpfungsmöglichkeiten. Allerdings wird die Lücke nicht geschlossen, dass im deutschsprachigen Raum eine Bestandsaufnahme darüber fehlt, wie viel (oder wie wenig) Naturwissenschaft und Technik aus geschlechterkritischer Perspektive betrachtet wurde, welche Ergebnisse vorliegen und welche greifbaren Wandlungen sich in diesen Gebieten vollzogen haben.
URN urn:nbn:de:0114-qn093343
Heinz-Jürgen Voß
Hannover; Promotion an der Universität Bremen zu „Geschlechterdekonstruktion aus biologisch-medizinischer Perspektive“ (Arbeitstitel), Homepage: http://www.heinzjuergenvoss.de
E-Mail: heinz-voss@freenet.de
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