Die Behandlung von Intersexuellen in der Diskussion

Rezension von Heinz-Jürgen Voß

Michael Groneberg, Kathrin Zehnder (Hg.):

„Intersex“: Geschlechtsanpassung zum Wohl des Kindes?

Erfahrungen und Analysen.

Fribourg: Academic Press Fribourg 2008.

248 Seiten, ISBN 978–3–7278–1506–5, CHF 46,00

Abstract: Wissenschaftler/-innen aus unterschiedlichen Fachdisziplinen und mit unterschiedlichen Ansichten zum Umgang mit intersexuellen Menschen kommen zu Wort – in diesem Sinne ist der Sammelband sehr heterogen. Es werden Erfahrungen mit Geschlechtsanpassung dargestellt, Begrifflichkeiten analysiert und Probleme bei der Therapie und in der Forschung erörtert. Vorangestellt, aber erfreulicherweise nicht abgetrennt, äußern sich Betroffene. Bereits wegen der sich im Abschluss des Bandes befindlichen Handlungsempfehlungen zur Behandlung von Säuglingen und Kindern mit ‚abweichenden‘ bzw. ‚uneindeutigen‘ Geschlechtsmerkmalen, die sich insbesondere an Eltern, Mediziner/-innen und Sozialpädagog/-innen wenden, ist das Buch unbedingt empfehlenswert.

Vorangestellt und wissenschaftlich kontextualisiert: Perspektiven Betroffener

In Bänden, die sich mit Intersexualität befassen, kommen erfreulicherweise zunehmend auch von Diagnosen und medizinischen Behandlungspraxen betroffene Menschen zu Wort, die Wissenschaftler/-innen herausfordern, sich bewusst zu werden, dass sie es mit Menschen, nicht mit Genitalien, Genomen oder Hormonsystemen zu tun haben und dass sie sich dieser Verantwortung stellen müssen. Hier stellt K. Plattner rückblickend ihre Perspektive als Mutter dar, die mit der Diagnose ‚uneindeutigen Geschlechts‘ ihres neugeborenen Säuglings konfrontiert wurde. Sie beschreibt, wie schwer zugänglich Informationen waren; diese wurden von Mediziner/-innen keineswegs zur Verfügung gestellt, sondern konnten erst über Hinweise von Bekannten und über das Internet bezogen werden. Mediziner/-innen drängten auf Operationen zur Vereindeutigung des Geschlechts des Kindes. Nachdem Plattner deutlich wurde, dass sich das Interesse der Mediziner/-innen nicht auf das Wohl, das Gefühl und Erleben des Kindes richtete, sondern auf eine Außenwirkung abzielte, sah sie von weiteren empfohlenen Genitaloperationen ab.

Ergänzt wird die elterliche Perspektive durch autobiographische Beschreibungen einer selbst von Diagnose und medizinischen Behandlungen betroffenen Frau. Eveline schildert in ihrem Beitrag ihr Erleben von Ausgrenzung, von vorenthaltener Information und von stets stattfindenden voyeuristischen Begutachtungen durch Mediziner/-innen.

Diese Berichte werden nun keineswegs unkommentiert stehengelassen. Vielmehr schließt sich mit dem Beitrag von K. Zehnder eine wissenschaftliche Auswertung von Internetberichten Betroffener an. Die Autorin arbeitet wiederkehrende Motive heraus (ohne in Verallgemeinerungen zu verfallen), die sich insbesondere auf Vereinzelung, medizinische Operationen und Informationsdefizite beziehen. In einem weiteren Schritt stellt sie Handlungsoptionen vor, mit denen Sozialpädagog/-innen Intersexuelle unterstützen können. Mit dieser durch den Beitrag Zehnders vermittelten wissenschaftlichen Einbindung von Betroffenen-Perspektiven erhalten die vorangestellten Beiträge einen besonderen Nutzen für die sich anschließenden medizinischen, historischen, philosophischen und juristischen Beiträge des Bandes.

Geschlechtszuweisung: medizinische und psychosoziale Betrachtungen

H. Richter-Appelt legt in ihrem Beitrag die Erfahrungen und die Behandlungszufriedenheiten Betroffener dar – Ergebnisse einer Erhebung der „Hamburger Forschungsgruppe Intersexualität“. Die Autorin arbeitet heraus, dass sich die Zufriedenheit mit medizinischen, insbesondere operativen Eingriffen je nach pathologisiertem „Syndrom“ unterschiedlich bei den Betroffenen darstellt. Vielfach traumatisch erfahren wurde die wiederholte voyeuristische Beschau der Genitalien durch Mediziner/-innen. In einem weiteren Schritt stellt Richter-Appelt – auf Grund der Stichprobengröße nur für als ‚weiblich‘ zugewiesene Betroffene – ein von der Norm ‚normaler Frauen‘ teilweise abweichendes Geschlechtsrollenverhalten und ein ebenfalls zu diesen verschiedenes Sexualerleben heraus.

Als problematisch erweist sich Richter-Appelts Umgang mit als ‚typisch weiblich‘ bzw. ‚typisch männlich‘ bezeichnetem Verhalten bzw. ebenfalls so dichotom eingeordneten körperlichen Merkmalen. Die bezüglich dieser Merkmale starke Variabilität innerhalb der Gruppen als ‚typisch weiblich‘ oder ‚typisch männlich‘ eingeordneter Menschen wird außer Acht gelassen. Eine vermeintlich sichere Biologie erscheint bei der Autorin vorausgesetzt. Intersexuelle bleiben als ‚Abweichung‘ ausgegrenzt. Außerdem sieht Richter-Appelt nicht eine generelle Abkehr von Genitaloperationen im Säuglingsalter bei „Syndromen“, die nicht lebensbedrohlich sind, als notwendig an. Fordert sie an einer Stelle mehr Akzeptanz in der Gesellschaft für Vielfalt (S. 78), verweist sie an anderer Stelle (ähnlich wie J. Money und A. A. Ehrhardt in den 1970er Jahren) auf eine zweigeschlechtlich normierte Gesellschaft, die durch Diskriminierungen Menschen ‚uneindeutigen Geschlechts‘ das Leben verleide, weswegen Menschen in einer eindeutigen ‚weiblichen‘ oder ‚männlichen‘ Geschlechterrolle aufgezogen werden müssten (S. 76). Mehr beiläufig vermittelt Richter-Appelt – in heteronormativer Manier – ‚gleichgeschlechtlichen‘ Sexualverkehr als Schlusspunkt traumatisierender Erfahrungen von Operation und voyeuristischer Beschau bei einigen betroffenen Menschen, die ansonsten ‚gegengeschlechtlichen‘ Sexualverkehr bevorzugen würden (S. 77).

Eine weitere Anmerkung richtet sich auf eine Auslassung: Bei dem oft betrachteten ‚Fall‘ John/Joan (bzw. Bruce/Brenda) und der Diskussion seines Selbstmordes ist es relevant – und dies findet sich nicht bei Richter-Appelt (S. 57) –, dass der Selbstmord im Jahr 2001 geschah, ein Jahr nach dem Erscheinen von J. Colapintos Buch, in dem dieser ‚Fall‘ beschrieben wurde und der volle, nicht anonymisierte Name John/Joans auftauchte. Ob das auch ein Auslöser für den Selbstmord war, ist nicht publiziert – besser wäre es indes, John/Joan aus der Position eines ‚Belegs‘ widerstrebender medizinischer Theorien zu entlassen, wegen derer er schon fortwährend zeitlebens befragt wurde (vgl. J. Butler in: Das Argument, 2002, Heft 242).

Mythos und Medizin: historische Betrachtungen

M. Groneberg diskutiert zunächst mythische Vorstellungen über Hermaphroditen und führt dabei die Überlieferungen von der griechischen Gottheit „Hermaphroditos“, von Platons Symposium und von Ovids Metamorphosen dezidiert aus (S.85–102). Er betrachtet die unterschiedlichen Varianten und Auslegungen der einzelnen Mythologien, spürt nachträglichen Einträgen nach und legt verfälschende – übermäßig vergeschlechtlichende – neuere Übersetzungen offen. Diese kritische Reflexion der vielzitierten und selten vertieften Mythologien ist in höchstem Maße empfehlenswert. Es schließen sich Darstellungen unterschiedlicher Auslegungen des „Schöpfungsaktes“ des Menschen in jüdisch-christlicher Religion an (S.102–108). Kurz reißt Groneberg an, dass der tatsächliche Umgang mit Kindern und auch über das Kindesalter hinausgelangten Menschen körperlich ‚uneindeutigen Geschlechts‘ in der Antike, im Mittelalter und in der Neuzeit im deutlichen Gegensatz zu der mystischen Verehrung hermaphroditisch dargestellter Gottheiten stand (S. 108–110).

Bei den sich anschließenden Betrachtungen zu moderner Medizin (taxiert ab dem 18. Jahrhundert) lässt Groneberg hingegen die zuvor angewandten sorgfältigen Erwägungen vermissen. So baut er – ohne Zusätze, warum er sich so entscheidet – seine zeitliche Abgrenzung auf den wiederholt kritisierten Theorien T. Laqueurs auf (S. 110 f.; kritisch vgl. u. a. K. Park, R. A. Nye in: The New Republic, 1991, 18: S. 53–57; M. Stolberg in: Isis 2003, 94: S. 274–299.) und nimmt er ‚Sachverständige‘ bei der Diagnose ‚uneindeutigen Geschlechts‘ erst ab dem 18. Jahrhundert wahr (S. 116), obgleich auch in den Jahrhunderten zuvor Prüfungen durch ‚Sachverständige‘ stattfanden (vgl. u. a. L. Daston, K. Park in: Critical matrix, 1985, 1 (5): S.1–19.). An anderer Stelle führt Groneberg in Anlehnung an eine vielmals überinterpretierte Passage bei M. Foucault aus, dass die Gesetzgebung des 17.°Jahrhunderts bezüglich ‚uneindeutigen Geschlechts‘ „liberal“ gewesen sei und eine „Selbstbestimmung des Geschlechts“ beinhaltete (S. 137, 140) – die administrative Wahlmöglichkeit bei Volljährigkeit traf aber nur in sehr wenigen ‚Fällen‘ zu und kann auch schwerlich als ‚frei‘ bezeichnet werden (vgl. wiederum u.a. L. Daston, K. Park, 1985).

Bei der sich anschließenden Diskussion und Interpretation aktueller biologischer und psychologischer Geschlechter kommt Groneberg zu dem Schluss, dass es eine Vielzahl von Geschlechtern gebe. Allerdings verweist er sogleich auf ein gesellschaftliches Zweigeschlechtersystem, dessen Dominanz nicht zu entrinnen sei, und nimmt abschließend die vermeintlich vermittelnde Position ein, dass das Zweigeschlechtersystem weniger „rigide“ und „zwanghaft“ auf eine eindeutige geschlechtliche Zuordnung abzielen solle: weitere Kategorien neben den Kategorien ‚Mann‘ und ‚Frau‘ erscheinen ihm „nicht unbedingt“ als nötig (S. 141).

Individuelle Geschlechtsidentität und kollektive Geschlechterrolle: philosophische Betrachtungen

J. Rieben wendet sich dem Begriff der „Geschlechtsidentität“ zu, der bereits in den Beiträgen zuvor Erwähnung fand. Eine „Ich-Identität“ entwickle sich mit der Selbst-Identifikation (Ich bin ich) und bewege sich zeitlebens im Spannungsverhältnis zwischen „persönlicher Identität“ und „sozialer Identität“ – letztere werde in Interaktion zu anderen Individuen und gesellschaftlichen Normen durch das Individuum selbst bezogen. Während die (psychische) Identität in modernen Debatten als weitgehend stabil und sozial determiniert gelte, werde in postmodernen Ansätzen auf deren Veränderlichkeit, Vielgestaltigkeit und Instabilität verwiesen.

Kollektive Identitäten (wie beispielsweise „nationale Identitäten“) stellt Rieben als problematisch heraus. Diese würden Subjekte einer „normativen Verordnung“ unterwerfen und einer autonomen Subjekt-Position berauben. Möglich seien allenfalls Gruppen-Identitäten, bei denen Ähnlichkeiten von individuellen „Ich-Identitäten“ zu einer kollektiven Größe zusammengeführt würden; allerdings entstehe auch hierbei ein „normativer Charakter“. Rieben kennzeichnet Identität damit als individuelles Merkmal und grenzt sie von kollektiven Zuordnungen („Pseudo-Identitäten“, „Sozialrollen“, darunter u. a. „Geschlechterrollen“) ab. „Geschlechterrollen“ seien sozial hergestellt und nicht biologisch determiniert.

Mit seinen Ausführungen kritisiert Rieben die Ansätze J. Moneys und A. A. Ehrhardts, die „Geschlechtsidentität“ schlicht als Endpunkt eines individuellen Annehmens einer „Geschlechterrolle“ betrachteten und die damit keine autonome Subjektposition und keine auf dem Identitäts-Begriff aufbauende Identität zuließen. Er kommt zu dem Schluss, dass es schwieriger als andere Lösungsversuche (vgl. u. a. denjenigen Gronebergs), aber dennoch ratsam sei, nicht Symptome, sondern Ursachen zu behandeln. Das heiße, dass bei der medizinischen Diagnose „Geschlechtsidentitätsstörung“ die Gesellschaft mit ihrer Geschlechterordnung und nicht das Individuum behandlungsbedürftig sei (S. 174).

Kindeswohl und Selbstbestimmung: juristische Betrachtungen und Handlungsempfehlungen

M. Werlen stellt mit Verweis auf die Kinderschutzkonvention und die verfassungsrechtlichen Bestimmungen in der Schweiz – mit teilweise internationalen Bezügen – dar, dass aus juristischer Perspektive von im Säuglingsalter stattfindenden Genitaloperationen (es sei denn bei lebensbedrohlichen Situationen) abzusehen sei. Da besonders geschützte „höchstpersönliche Rechte“ des Kindes, nach Auffassung Werlens, von solchen im Säuglingsalter stattfindenden Genitaloperationen betroffen seien, sei auch ein Vertretungsrecht der Eltern für das Kind nicht gegeben. Möglichen gesellschaftlichen Diskriminierungen von geschlechtlich uneindeutig aufgezogenen Kindern will Werlen u. a. mit kontinuierlicher psychologischer Betreuung, Stärkung des Selbstwertgefühls, Verringerung gesellschaftlicher Isolation und Austauschmöglichkeiten mit anderen Betroffenen begegnen.

An Werlens Beitrag schließen sich Handlungsempfehlungen an, die von dieser gemeinsam mit Groneberg und Zehnder erarbeitet wurden. Sie richten sich insbesondere an Eltern, Mediziner/-innen und Sozialpädagog/-innen. Im Mittelpunkt müsse stets das Kindeswohl stehen, von Genitaloperationen sei (außer bei lebensbedrohlichen Situationen) ohne Einwilligung eines vollständig informierten, zustimmungsfähigen Betroffenen abzusehen. Die Handlungsempfehlungen nehmen damit das Wohl und das Selbstbestimmungsrecht des Kindes bzw. des Betroffenen ernst und sind daher den zudem weniger detaillierten Handlungsempfehlungen der „Hamburger Forschungsgruppe Intersexualität“ – in denen weiterhin die Autorität der Medizin und pathologisierendes Vokabular fixiert wird (vgl. die Beiträge von O. Hiort und S. Krege in: Zeitschrift für Sexualforschung, 2007, 20 (2)) – vorzuziehen.

Fazit

Der Sammelband stellt mit konkreten Empfehlungen zur medizinischen Behandlung und sozialen Begleitung von intersexuellen Menschen einen beachtenswerten Fachbeitrag dar. Vor diesem Hintergrund ist er für Eltern, Mediziner-/innen und Sozialpädagog-/innen sehr empfehlenswert. Gleichzeitig bietet er mit disziplinär breit gefächerten Beiträgen eine gute Einstiegslektüre zu historischen und aktuellen Betrachtungen zu Intersexualität. Ein umfassendes Glossar hilft über etwaige Verständnisschwierigkeiten von Fachbegriffen hinweg.

URN urn:nbn:de:0114-qn093339

Heinz-Jürgen Voß

Hannover; Promotion an der Universität Bremen zu „Geschlechterdekonstruktion aus biologisch-medizinischer Perspektive“ (Arbeitstitel), Homepage: http://www.heinzjuergenvoss.de

E-Mail: heinz-voss@freenet.de

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