Tove Soiland fragt nach dem analytischen Gehalt der Intersektionalitätsforschung, eines neueren Paradigmas in der Geschlechterforschung. Sie prüft den gesellschaftstheoretischen Bezug dieser Perspektive und legt dabei die Beurteilungsnorm hoch an. Ihre Kritik richtet sich gegen den ihrer Meinung nach anämischen Gehalt der intersektionellen Sichtweise in „Kategorien“, die – im Kontext von affirmative action und Antidiskriminierungspolitiken in den USA entstanden – Benennungen für komplexe Machtverhältnisse und Ausbeutungsstrukturen produziere und damit faktisch zur Entnennung sozialer Sachverhalte beitrage, sie gewissermaßen glätte und strukturell unsichtbar mache.
Tove Soilands Kritik richtet sich gegen diese, im Namen von Politik formulierte, aber letztlich ihres Erachtens nach entpolitisierende Volte genderbezogener Theorien bzw. Analysen und zeigt, m. E. überzeugend, dass es bei intersektioneller Betrachtung genau genommen gar nicht um sich überschneidende Kategorien geht, sondern lediglich um aus dem politischen Diskurs entnommene (Selbst- und) Gruppen- bzw. Positionsbeschreibungen. Gesellschaftstheoretisch fundierten sozialwissenschaftlichen Kategorien traut sie dagegen eher zu, undurchsichtige Herrschaftsverhältnisse auf ihre komplexe Machtmechanik hin beschreibbar machen zu können, ähnlich wie es Marx in seiner Kapitalismusanalyse und -kritik gehandhabt habe. Ihr Plädoyer geht folglich in die Richtung, sich den gender-analytischen Kopf nicht vernebeln zu lassen. Vielmehr müsse nach den Artikulationsweisen von Geschlecht, Klasse, Rasse, Ethnie etc. gefragt werden, die jeweils in einem Verweisungs- und damit größeren gesellschaftlichen Strukturzusammenhang zu sehen wären, will man ihre _Wirksamkeit und ihre sozialen Folgen einholen bzw. verstehen können. Mit dem Begriff der Artikulation ist damit ein analytischer Anspruch verbunden, die Mechanismen sich wechselseitig bedingender Herrschafts- und Machtverhältnisse zu beschreiben, die allererst zu bestimmten sozialen Positionierungen – und damit auch Gruppenzugehörigkeiten – führen. Diese lediglich zu benennen, stelle dagegen eine Verflachung bzw. Entkernung dieser artikulierten gesellschaftlichen Macht- und Herrschafts-Verhältnisse und ihrer inhärenten Widersprüche dar.
In Zeiten neoliberaler Politiken, die die Widersprüche der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaften neu mobilisieren, Identitäten sowohl dekonstruieren, flexibilisieren als auch neu zurechtstutzen, ist die Frage nach der Regulierung sozialer Widersprüche als Ausdruck gesellschaftlicher Antagonismen und Konflikte zwischen sozialen Gruppen mit unterschiedlichen Macht- und Einflussressourcen allemal berechtigt. Gesellschaftsanalysen sind entsprechend vor neue begriffliche Herausforderungen gestellt, die sich nicht alleine in der Intersektionalitätsdebatte spiegeln, sondern überhaupt im gegenwärtigen sozialwissenschaftlichen Diskurs zu beobachten sind: Wie können bspw. paradox anmutende Prozesse der Verstärkung prekärer Lebenslagen, der Freisetzung aus existenzsichernden Arbeits- und Lohnverhältnissen für viele Menschen in westlichen kapitalistischen Gesellschaften ins Verhältnis gesetzt werden zur gleichzeitig für manche, etwa Frauen, sich vollziehenden zunehmenden Integration in die Erwerbsarbeit?
Tove Soiland verweist am Beispiel zunehmend kommodifizierter, also bezahlter Hausarbeit auf genau diesen Widerspruch: Er bringt einigen Frauen (niedrigentlohnte) Erwerbsarbeit ein, entlastet andere Frauen von unbezahlter Hausarbeit, und führt letztlich zu veränderten Konstellationen des Verhältnisses von Erwerbsarbeit und Geschlecht, nicht aber zur Veränderung von grundsätzlich gesellschaftlich weiterhin asymmetrisch zwischen den Geschlechtern aufgeteilter Care- und Sorge-Arbeit. Zu erwähnen wäre hier aus einer intersektionalen Perspektive verkomplizierend noch, dass die Ethnisierung von Hausarbeit auch in anderen Bereichen gesellschaftlicher Care-Arbeit durchaus auch Männer betrifft (Reinigungsgewerbe, Müllabfuhr etc.).
Gegenüber einer etwa race- oder Ethnie-bezogen relativ unbeleckten/unbedarften Frauenforschung und später auch Gender-Theorie vor ca. 20 Jahren im deutschsprachigen Raum stellt die Perspektive der Intersektionalität eine begrüßenswerte Erweiterung des Horizonts dar. Mit der geschärften Wahrnehmung – und das heißt auch der Notwendigkeit ihrer Bezeichnung – auf mehrere Bezugshorizonte sozialer Ungleichheit und sozialer Positionierung (die nicht immer Ungleichheit zur Grundlage hat!) ist der Blick feministischer Theorien realitätsnäher geworden und hat, selbstreflexiv gewendete, die blinden Stellen und toten Winkel in der eigenen analytischen Perspektive einzuholen versucht.
Richtig finde ich Tove Soilands dekonstruktive Arbeit, mit der sie nachweist, dass es zu missbräuchlich wirkenden Verkürzungen in der Anwendung dieser methodischen und analytischen Werkzeuge gekommen ist: Ohne einen strukturbezogenen Kontext der Analyse bleiben sie gewissermaßen im luftleeren Raum hängen. Aber dies ist eine Frage der Durchführung von Gesellschaftsanalyse. Auch Marx unterschied bekanntlich zwischen Klassen an sich und Klassen für sich, um anzugeben, dass es sich hier um zwei unterschiedliche Entitäten handelt: Im ersten Falle um eine subjektiv oder kollektiv nicht unbedingt _bemerkte Identität aufgrund sozialer Positionierung; im zweiten Fall um ein kollektives Bewusstsein, das auf der Ebene von Individuen (Zuordnung zur Klasse) oder Kollektiven (soziale Organisation) in Gesellschaft und Politik benannt wird und wirkt. Wenn man sehr zuspitzen will, kann man Marx an dieser Stelle eine dekonstruktive Perspektive attestieren, die die Verhältnisse und ihre Bezeichnung als dialektisches Verhältnis denkt: Nie kann das eine im anderen aufgehen. Gayatry Spivak (zuerst 1988) hat entsprechend in ihrer postkolonialen Analyse von globalen Geschlechterverhältnissen und dem subalternen Subjekt genau hierauf verwiesen.
Wenn es nun so scheint, als gingen die Verhältnisse in den Bezeichnungen auf (bzw. unter…), so kann dies doch auch gelesen werden als Effekt bestimmter diskursiver Praktiken bzw. Versuche, politische Widersprüche zu zähmen, in dem man sie benennt, ihnen einen Platz zuweist, sie scheinbar handhabbar macht. Dies ist vielen kritischen Konzepten aus dem Kontext politischen Handelns („empowerment“) widerfahren. Der Widerstand sozialer Bewegungen ist oftmals auf genau diese Weise in neue Artikulationsformen sozialer Verhältnisse eingegangen – und in seinem Gehalt, seiner Stoßrichtung damit verändert worden. Wenn es sich hier nun um eine Dynamik im politischen Feld handelt, die gesellschaftstheoretisch und begrifflich reflektiert werden sollte, dann führt dies zunächst ja vor allem an die grundsätzlich nie still zu stellende politische Aufgabe im wissenschaftlichen Arbeiten, sich über Verwendungsweisen von Begriffen klar zu sein. Judith Butler hat etwa in Körper von Gewicht (1993, dt. Ausgabe Frankfurt am Main 1995) darauf hingewiesen und erläutert, dass auch kritische Begriffe, wie etwa queer, eventuell nur eine gewisse Gültigkeitsphase beanspruchen können. In der politischen Auseinandersetzung werden sie, je nachdem, eines Tages vielleicht nicht mehr brauchbar sein, den Inhalt verschoben haben, angeeignet oder neu gefüllt worden sein, so dass sie mit dem ursprünglichen Anliegen nicht mehr in Deckung zu bringen sind. Dann spätestens wäre es Zeit, sich begrifflich neu zu orientieren, begrifflich auszuwandern gewissermaßen. Unschuldige begriffliche Inseln gibt es nicht, sondern lediglich deren stete Verhandlung. Ähnlich stellen sich Laclau und Mouffe die Bearbeitung gesellschaftlicher Widersprüche als Äquivalenzkette von Kämpfen um Bedeutung vor, die ihren Ausgang im Vorhinein nie kennen kann.
Tove Soilands Überzeugung, dass nur eine ökonomisch gewendete Sozialanalyse auf dem entsprechenden Reflexionsniveau kategorialer Art eine umfassende Gesellschafts- und Geschlechteranalyse erlaubt, möchte ich nachdrücklich zustimmen. Allerdings denke ich, dass mit den Mitteln der Dekonstruktion und in Verbindung mit materialistisch fundierten Gesellschaftstheorien eben genau dieses Ziel praktisch verfolgt werden kann: Kategorien nicht essentialistisch gerinnen zu lassen (ein steter Kampf im gegenwärtigen politischen Diskurs, bspw. in den Neurowissenschaften, der Soziobiologie etc.), ohne deshalb – wie Tove Soiland befürchtet – in der Analyse platt auf der Ebene der Kritik der Kategorien verhaftet zu bleiben.
Der Umstand, dass manche dekonstruktiven methodischen Zugangsweisen zu einer Simplifizierung sozialer Tatsachenkontexte beitragen können, ist kein Grund, sich dieser theoretischen und methodischen Zugänge vollständig zu entledigen. Neuere sozialwissenschaftliche Ansätze aus der Genderforschung versuchen statt dessen, die Verbindung von Theorieparadigmen voranzutreiben, die einen politisch-epistemologisch reflektierten Umgang mit Kategorien pflegen, ohne den gesellschaftlichen Kontext (und damit die Verstricktheit) kritischer Forschung und Theoriebildung grundsätzlich aus den Augen zu verlieren: Man schärft sein Werkzeug ja mit der Arbeit am Gegenstand. Zu dieser Reflexion gehört die Wahrnehmung einer ständigen antagonistischen Verhandlungssituation kritischer Begriffe im neoliberalen oder jedenfalls politisch gegenläufigen Diskurs von Institutionen, Medien, Regierungen und weiteren sozialen Akteuren.
Ich plädiere deshalb – ähnlich wie Gloria Wekker dies aus Sicht postkolonialer feministischer Analysen getan hat (2004) – und wie viele andere gegenwärtig für einen reflektierten Umgang mit Perspektiven der Intersektionalität: Nach der Einsicht in die Architektur komplexer Überschneidungen sozialer Positionierungen, Verhältnisse und Umstände ist die Theoriebildung gegenwärtig dabei, deren Funktionieren (mit allen Widersprüchen und Paradoxien) genauer verstehen zu wollen. Und vielleicht muss eine – hier ja eben auch geführte – kritische Diskussion diesen Auslegungs- und Theoriebildungsprozess kreativ begleiten, die abseitigen und nicht intendierten Effekte politischer Stillstellung von Gesellschaftskritik inkriminieren und damit dem Grundanliegen treu bleiben, dem das ursprünglich aus den Kämpfen sozialer Bewegungen formulierte Bedürfnis nach politischer und sozialer Anerkennung und Gesellschaftsveränderung verpflichtet war. Dies bedeutet, die Verhältnisse nicht gegen die Kategorien auszuspielen, von keiner der beiden möglichen Seiten aus, sondern die auch in der Gesellschaftsanalyse verwandten Verhältnisbestimmungen, die in sozialen Bezeichnungen wie Klasse, soziale Lage oder anderen sozialwissenschaftlichen Begriffen der Beschreibung von artikulierten sozialen Verhältnissen enthaltenen epistemologischen Voraussetzungen zu prüfen bzw. zu reflektieren auf ihre Vorbedeutungen, einschränkenden, letztlich doch (gewaltsam zwangsidentifizierenden) Implikationen hin. Das war und ist ein wesentliches Anliegen dekonstruktiver Perspektiven, die nicht auf die Zerstörung oder Abschaffung von kategorialen und begrifflichen Bezeichnungen dringen, sondern deren u. U. partikular geschlossene und damit ausschließende Zuschreibung im Bezeichnungsprozess reflektiert. Aus der Inkommensurabilität von struktureller Analyse und Dekonstruktion wird dann ein Arbeitsbündnis, das blinde Stellen wissenschaftlicher Beschreibung, deren politische Konsequenzen und Verkürzungen mitzudenken versucht. Nicht aber handelt es sich aus dieser Sicht um grundsätzlich unvereinbare Zugangsweisen zu untersuchten Gegenständen und ihrer begrifflichen Fassung.
Butler, Judith (1995): Körper von Gewicht. Die diskursiven Grenzen des Geschlechts, Berlin.
Laclau, Ernesto/Mouffe, Chantal (1991): Hegemonie und radikale Demokratie: Zur Dekonstruktion des Marxismus, Wien.
Spivak, Gayatry (1988): Can the Subaltern Speak? In: Nelson, Cary/Grossberg, Lawrence (Hg.): Marxism and the Interpretation of Culture, Hondsmill, S. 271-353.
Wekker, Gloria (2004): Still Crazy after all those Years… Feminism for the New Millennium. In: European Journal of Women’s Studies, Vol. 11, Nr. 4, S. 487-500.
URN urn:nbn:de:0114-qn093400
Katharina Pühl
FU Berlin, Zentraleinrichtung zur Förderung von Frauen- und Geschlechterforschung, Homepage: http://www.fu-berlin.de/zefrauen/masterstudiengang_gender_und_diversity/MitarbeiterInnen/Katharina_Puehl/index.html
E-Mail: katharina.puehl@fu-berlin.de
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