Thomas Rhyner, Bea Zumwald (Hg.):
Coole Mädchen – starke Jungs.
Impulse und Praxistipps für eine geschlechterbewusste Schule.
Bern u.a.: Haupt Verlag 2008.
260 Seiten, ISBN 978–3–258–07223–4, € 24,90
Abstract: In dem Buch der Schweizer Herausgeber sind viele Beiträge mit großem Engagement, jedoch wenig analytischem Durchdringungsvermögen zusammengestellt. Es ist eine Hilfe für diejenigen Lehrkräfte, die noch nie etwas von Gleichstellungsbemühungen in der Schule gehört haben. Für alle anderen bringt es wenig Neues und führt intellektuell eher in die Vergangenheit als zukunftsweisend zu sein.
Die Schweizer Thomas Rhyner und Bea Zumwald hatten schon 2002 ein gleichnamiges Buch herausgegeben, das in großen Teilen mit dem soeben erschienenen übereinstimmt, ohne dass dieses als neue Auflage gekennzeichnet ist – eine etwas kuriose Vorgehensweise. Neben den im Band von 2002 realisierten Anliegen einer geschlechtergerechten Schule sei nun die systemische Sichtweise hinzugekommen (S. 13). Also doch ein neues Buch? Warum dann der gleiche Titel? Diese Widersprüche irritieren, und das Buch müsste nun wirklich Neuartiges bringen, um die Leserin geneigt zu machen.
Das Buch besteht aus einer Vielzahl von Einzelbeiträgen zu unterschiedlichen Themen geschlechtsbezogener Pädagogik. Es ist in zwei große Teile gegliedert, deren erster die (theoretischen) Grundlagen behandelt und deren zweiter der Praxis gewidmet ist.
Teil I, Grundlagen, beginnt mit einem Blick auf die Schule „aus Geschlechtersicht“. Dieses erste Kapitel soll Lehrkräfte dazu anregen, ihre eigene Sicht auf Geschlechtsunterschiede verschiedenen theoretischen Positionen zuordnen und damit relativieren zu können. Dabei werden unterschiedliche Ansätze (Sozialisationstheorie, Evolutionsbiologie, Psychoanalyse und Konstruktivismus) nebeneinander gestellt, als sei ihr jeweiliger Erklärungswert gleichwertig, so dass man die verschiedenen Erklärungen addieren könnte. Damit beginnt das intellektuelle Verhängnis. Die pflegenden Impulse von Mädchen etwa werden aus der Evolutionsbiologie abgeleitet und anschließend noch einmal aus den Jung’schen Archetypen. Zwar wird darauf hingewiesen, dass diese Blickrichtungen Stereotype verstärken können, aber es kommt weder zu einer kritischen Analyse noch zu einer Zusammenschau.
Im zweiten Kapitel werden Strategien dargestellt, die die individuelle Entwicklung von Mädchen und Jungen unterstützen sollen. Die Analyse dieser Strategien ist gut gelungen, so z. B., dass Gleichheit herzustellen die Gefahr der Stereotypisierung beinhaltet. Aber dabei bleibt es dann auch.
Im Kapitel „Begabungen“ hat man das Gefühl, in frühere Jahrzehnte versetzt zu sein, denn es geht nur um Mädchenförderung. Dabei gibt es derzeit eine heftige Diskussion, zumindest in Deutschland, die gerade den Lehrkräften positive Vorurteile gegenüber Mädchen zum Vorwurf macht, weil die Jungen nicht zu den gleichen Prozentsätzen gute Noten und den Übergang auf Realschule und Gymnasium schaffen. Ist die Schweiz hier in der ‚guten alten Zeit‘, als die Überlegenheit der Jungen noch als selbstverständlich galt, stehen geblieben?
Das Kapitelchen zur sexuellen Orientierung bringt Vertrautes: Akzeptanz ist gefordert. Es werden Begriffe erklärt, Entwicklungen pauschal dargestellt, primär wohl, um Vorurteile bei den Leser/-innen abzubauen.
Ganz problematisch wird es dann in den Kapiteln „Migration“, „Medien“, „Mobbing und Gewalt“. Die additive und wenig analytische Darstellung wird hier dadurch deutlich, dass diese Themen jeweils in getrennten Unterkapiteln zu Jungen und Mädchen behandelt werden; so befinden wir uns einmal bei der Mädchenförderung, dann bei der Jungenförderung. Zwar liegt die Perspektive in der Gleichheit der Geschlechter. Aber allein dadurch, dass die Unterkapitel von unterschiedlichen Autor/-innen geschrieben sind, wird höchst fragwürdig pauschalisiert: Mädchen sind A, Jungen sind B. Hochproblematisch ist auch die völlige Ausblendung der Konflikte zwischen manchen Migrant/-innen und den einheimischen Professionellen, und zwar gerade im Hinblick auf unterschiedliche Männer- und Frauenbilder. Dass Mädchen und Jungen in deutschen und migrantischen Unterschichtfamilien ein eher konservatives, wenn nicht fundamentalistisches Weltbild zum Geschlechterverhältnis mitbekommen, wird unter dem Signum der Toleranz und des Verständnisses überhaupt nicht angesprochen. Das ist ein schweres Manko für alle Professionellen, die sich abmühen, einen ethisch und politisch vertretbaren Standpunkt zu finden. Beim Thema Mobbing und Gewalt ist positiv hervorzuheben, dass Jungen auch als Opfer von Gewalt thematisiert werden.
Teil II, Praxis, versucht, die theoretischen Erkenntnisse in der Praxis anzuwenden. Dabei werden die theoretischen Fragwürdigkeiten und Nachlässigkeiten auf der praktischen Ebene deutlich. Obgleich wir heute wissen, dass die Unterschiede innerhalb des jeweiligen Geschlechts größer sind als die Unterschiede zwischen den Geschlechtern, werden die Jungen und die Mädchen häufig pauschalisiert. Eine Aufgabe z. B., mit der das Leseverständnis von Jungen gefördert werden soll, beruht auf einem Formel-I-Rennbericht und soll damit Jungen-Interessen gerecht werden. Erstens wird hier an veraltete Definitionen von Männlichkeit angeknüpft (es gibt inzwischen auch Männer, die Autorennen für völlig idiotisch halten ob der Umweltbelastung), zweitens aber: Was sollen Jungen tun, denen der Autokult völlig gleichgültig ist? Und was Mädchen, die die Jungen in ihrem Unterkurs beneiden, weil sie selbst Autonärrinnen sind? Geschlechtsbezogener Unterricht wird in Frage gestellt, wenn Mädchen in keiner Weise traditionellen Vorstellungen nachhängen, oder auch, wenn Jungen sich davon lösen.
Ein weiteres Defizit ist das Beharren auf der ‚Normalfamilie‘. Es wird davon ausgegangen, dass jedes Kind nicht nur eine Mutter, sondern auch eine männliche Bezugsperson hat. Dies ist aber in manchen Familien alleinerziehender Mütter nicht der Fall. Wie soll es diesen Kindern, diesen Müttern gehen, wenn sie in entsprechenden Projekten keine männliche Person herbeizaubern können?
Schließlich die Finanzierung der gut gemeinten Projekte: Gerade daran scheitern ja viele Annäherungsversuche zwischen Schule und Jugendhilfe in Deutschland. Möglicherweise ist die Situation in der Schweiz so paradiesisch, dass die Finanzierung kein Problem ist. Aber auch dann wüsste die Leserin gerne, welche finanziellen Ressourcen in der Schweiz vorhanden sind, so dass man ggf. die eine oder andere Idee zumindest teilweise auch in Deutschland ausprobieren kann.
Zwar ist das Buch didaktisch gut aufgebaut: Die Autor/-innen arbeiten mit Beispielen, heben Kernsätze hervor, die sich gut lesen und aufnehmen lassen. Sie führen in einige zentrale Theoreme und praktische Möglichkeiten der geschlechtsbewussten Pädagogik ein und geben damit jenen eine Hilfestellung, die den Diskurs der letzten Jahre überhaupt nicht wahrgenommen haben. Wer sollte das wohl sein? Aber sei’s drum – es wird solche Menschen geben, Männer wie Frauen. Nur: auch sie werden vor Probleme gestellt, bei denen ihnen das Buch nicht im Mindesten weiterhilft. Was soll eine Lehrerin tun, die ein schwules Coming out von ferne beobachtet und gleichzeitig weiß, dass in der Familie Homophobie herrscht? Was soll ein Lehrer tun, bei dem ein sechsjähriges Mädchen mit Kopftuch in der Klasse sitzt? Was tut eine Lehrerin, wenn ihr Verachtung von Jungen entgegenschlägt, die – seien sie Einheimische oder Zugewanderte – nichts als ihre Männlichkeit haben, auf die sie stolz sind? Und vor allem: Die guten Ideen für Reflexionsworkshops – sie scheitern doch sehr schnell am System Schule, das auch die Lehrkräfte in Schablonen zwängt, die wiederum die Kinder zur Leistung ermuntern und abrichten sollen.
URN urn:nbn:de:0114-qn0101022
Prof. Dr. Hilde von Balluseck
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