Konzeptionen von Geschlecht in der us-amerikanischen, sozialwissenschaftlichen Diskussion

Rezension von Claudia Gather

Myra Marx Ferree, Judith Lorber, Beth B. Hess (Hg.):

Revisioning Gender.

Thousand Oaks: Sage 1999.

500 Seiten, ISBN 076–1906177, $ 36,50

Abstract: Die Forderung, die soziologisch feministische Analyse um die Ungleichheitsdimensionen Schicht/Klasse und ethnische Zugehörigkeiten zu erweitern, wird vor allem in den USA schon seit einigen Jahren erhoben. In diesem Sammelband wird der Versuch gemacht, den Stand der Diskussion in den women‘s und gender studies und die theoretischen wie empirischen Fortschritte der letzten zehn Jahre in den USA zu dokumentieren.

Revisioning Gender ist der Nachfolgeband des 1987 erschienenen Buches Analyzing Gender (herausgegeben von Beth B. Hess und Myra Marx Ferree). Damals stand die Unterscheidung des Konzeptes ‚gender‘[1] vom „Geschlechterrollenansatz“ im Vordergrund, hier, zwölf Jahre später, geht es darum, „to re-vision gender with even more sophisticated lenses“ (S. XIII)[2].

Aufbau des Buches

Der Band versammelt 16 Aufsätze und ist in fünf Kapitel gegliedert: In dem ersten Kapitel Reconceptualizing Gender befassen sich die Autorinnen mit theoretischen Neukonzeptionen. Ab dem zweiten Kapitel wird versucht, „the alternative mode of thinking“, z.T. anhand konkreter Gegenstände, auf den verschiedenen soziologischen Analyseebenen auszuführen. Die Organisation der Kapitel erfolgt von der soziologischen Makro- zur Mikroebene: Kapitel II The Macrosociological Organization of Gender, Kapitel III Gender, Discourse, and Culture, Kapitel IV Gender in Social Institutionsund Kapitel V Gendering the Person.

In einer exzellenten Einleitung geben die Herausgeberinnen einen konzentrierten Überblick über die theoretischen Perspektiven, unter denen ‚gender‘ in der us-amerikanischen Debatte in den letzten 25 Jahren analysiert wurde. Hieran anschließend wird die programmatische Absicht entwickelt: „it will not be possible to understand gender without also altering the customary social sciences understandings of ‚race‘ and ‚class‘. Thus this collection critique both feminist and mainstream modes of studying gender in isolation from other social processes and begins to suggest what the outlines of an alternative might look like“ (S. XVI). Neueres feministisches Denken solle vor allem die Heterogenität von Frauen berücksichtigen, hierfür sei die Beachtung folgender Aspekte sinnvoll: die Zusammenhänge zwischen ‚gender‘, ‚race‘ und ‚class‘, die Verschiedenheit sexueller Orientierungen sowie die Standpunkte und Perspektiven verschiedener Gruppen wie auch der Einbezug der Handelnden selbst über das Konzept von ‚agency‘.

Ich werde nun im folgenden die ersten drei theoretischen Beiträge und einige aus den weiteren Teilen herausgreifen und darstellen.

Theoretische Konzeptionen

Im ersten theoretischen Kapitel (Reconceptualizing Gender) geht es in zwei Beiträgen um die Frage, wie Konzepte von ‚gender‘ zusammen mit Konzepten von ‚race‘ und ‚class‘ zu denken sind. Evelyn Nakano Glenn bezieht sich auf sozialkonstruktivistische Strömungen. Diese scheinen ihr geeignet, darüber nachzudenken, wie die disparaten und unabhängig voneinander entstandenen theoretischen Ansätze von ‚race‘ und ‚gender‘ integriert werden könnten: „Gender and race are mutually constituted“, und „gender is racialized and race is gendered“, so Glenn (S. 4). Sie identifiziert Gemeinsamkeiten beider Konzepte, beide sind relational, es werden Dichotomien entworfen (Männern – Frauen, Weiße – Schwarze), beide beinhalten symbolische und strukturelle Prozesse, und Macht ist ein zentrales Element. Glenn belegt ihre Thesen nachvollziehbar an empirischen Beispielen: mit der Arbeitsteilung zwischen Frauen (weißen und nicht weißen) im letzten Jahrhundert in den USA sowie der Konstruktion und dem Ausschluß bestimmter Gruppen von den Bürgerrechten mittels der Dichotomien „public – private“ und „dependent – independent“.

Joan Acker nimmt ‚class‘ als Ausgangspunkt, um über die Zusammenhänge mit den Kategorien ‚race‘ und ‚gender‘ nachzudenken. Sie schlägt ein erweitertes Verständnis von ‚class‘ vor. Produktion, Markt und Erwerbsarbeit seien dabei nur als ein Teil zu verstehen; nicht-marktförmige ökonomische Verteilungsmodi (Familie und Wohlfahrtsstaat) seien genauso als relevant für Klassenpositionen zu begreifen. ‚Class‘ sei keine abstrakte ökonomische Struktur, welche den Menschen übergestülpt wird, vielmehr eine soziale Praxis: „that class must be understood as active practices continually under way, rather than as abstract structures; that understanding of class relations, along with race and gender relations, must be developed from the standpoints of many differently located people“ (S. 62f.). Meines Erachtens hilft dieser (auch als sozialkonstruktivistisch einzuordnende) Beitrag, die Vielfalt der Standpunkte von Frauen in den Blick zu bekommen. Ihn trifft jedoch auch die an den konstruktivistischen Ansätzen genereller formulierte Kritik von Gudrun Axeli Knapp und Karin Gottschall, die sich auf die beschränkte gesellschaftsdiagnostische Aussagekraft dieser Ansätze richtet.

Joan Wallace Scott resümiert Teile der Diskussion zu ‚gender‘ and ‚politics‘ der letzten 10 Jahre u.a. im Anschluß an Judith Butler. Sie argumentiert, daß die Artikulation der Geschlechterdifferenz selbst zu untersuchen sei, statt sexuelle Differenzen (biologisch und sozial) vorauszusetzen. So interpretiert sie z.B. die Verweigerung der Bürgerrechte für Frauen in der Französischen Revolution als Einführung einer geschlechtlichen Differenzierung und nicht – wie es sonst oft getan wird – die Geschlechterdifferenz als Grund oder Argument für den Ausschluß von Frauen.

Betrachtet man die drei Beiträge zusammen, nimmt Evelyn Nakano Glenn ‚race‘ als Ausgangspunkt, Joan Acker beginnt mit der Kategorie ‚class‘, die sie neu faßt; Joan Wallace Scott dagegen hinterfragt in ihrem Beitrag die Einteilung in Dichotomien. In diesen drei eher theoretischen Beiträgen wird versucht, über die bloße Addition von Ungleichheitskategorien hinausgehende Konzepte für den Zusammenhang von ‚gender‘, ‚race‘ und ‚class‘ zu entwickeln. Daran kann und sollte weitergearbeitet werden.

Makrosoziologische Perspektiven

Das zweite Kapitel ist makrosoziologischen Perspektiven gewidmet. Es enthält einen Beitrag von Valentine M. Moghadam über globale Ökonomie und ihre Auswirkungen auf Frauen, einen von Lisa D. Brush über die Arbeitsteilung zwischen den Geschlechtern und einen von Anette Borchorst über feministische Diskussionen der Konzepte von Wohlfahrtsstaaten. Borchorst gibt einen guten Überblick über die britische, skandinavische und amerikanische Wohlfahrtsstaatsdiskussion aus feministischer Perspektive seit den 70er Jahren. Sie bezieht sich dabei auf die feministische Kritik und die Weiterentwicklung bekannter Ansätze wie z.B. die Typisierung von Wohlfahrtsstaaten von Esping-Andersen und den „citizenship“-Ansatz von Marshall. In diesem II. Kapitel habe ich insgesamt weniger Neues erfahren, den deutschen Leserinnen ist z.B. die „Wohlfahrtsstaatsdiskussion“ bereits aus den Arbeiten von Ute Gerhard bekannt. Insgesamt bieten auch die weiteren Beiträge in diesem Kapitel meines Erachtens vor allem gute Überblicke über den jeweiligen Stand der Diskussion.

Diskurs und Kultur

Im dritten Kapitel (Gender, Discourse and Culture) beschäftigt sich Susan Starr Sered in einem interessanten Beitrag mit dem Verhältnis von Geschlecht und Religionen. Suzanne Danuta Walters fragt in Sex, Text and Context, wie Geschlecht im neuen Fach Cultural Studies konzipiert wird. Sie interessiert: „Who/what has the power to determine meaning? Is it the actual viewer who makes the image what she will, or is it the image itself that determines certain readings from the viewer“ (S. 246)? Sie kritisiert theoretische Konzepte, die davon ausgehen, daß die Massenkultur geschlechtsstereotype Bilder liefere, die auch von den Zuschauern problemlos als solche rezipiert würden. Gegen solche eindimensionalen Wirkungskonzepte setzt sie aktive Zuschauerinnen mit komplexen Reaktionen, die in ihrem sozialen Kontext für sich eine Bedeutung des Gesehenen konstruieren. Deutlich macht sie dies am Beispiel von lesbischen Auditorien, die z.B. alte Hollywood-Produktionen gegen ihre ideologisch dominante Aussage subversiv gegen den Strich lesen, wie z.B. in dem Film, Der Blaue Engel, in dem Marlene Dietrich in der Kabarettszene eine Frau küßt. Für die Untersuchungsmethoden feministischer Cultural Studies fordert sie kreative Zugänge, die nicht nur den Text analysieren, wie dies zur Zeit üblich sei, sondern auch den Kontext und vor allem die „lived experience of actual women“ (S. 253) empirisch erfassen. Dieser ist einer der Beiträge in diesem Band (ähnlich auch Joan Wallace Scott und Bob Connell), in dem postmoderne Autoren und Autorinnen offensichtlich einen anregenden Einfluß gehabt haben. Viele der anderen Beiträge kommen ohne Rekurs auf diese Ansätze aus.

Soziale Institutionen

Im vierten Kapitel Gender in Social Institutions geben Patricia Yancey Martin und David L. Collinson einen umfassenden Überblick über den Stand der Konzeptionen von Geschlecht in der Organisationssoziologie. In den drei weiteren Beiträgen wird das Zusammenspiel von ‚race‘, ‚class‘ und ‚gender‘ an den empirischen Gegenständen Familie, Sport und Entwicklung der Wissenschaften bearbeitet.

Patricia Hill Collins untersucht wissenssoziologisch mittels einer Perspektive der „intersectionality“ von ‚gender‘ und ‚race‘ die Entwicklung der Wissenschaften während der Entstehung der Moderne. Wissenschaftliches Denken sei das moderne Denken schlechthin, so Collins. Ihre – von den Herausgeberinnen in der Einleitung als provokant bezeichnete – Analyse zeigt, daß „science and modernity […] both are simultaneously raced and gendered“ (S. XXVIII). In die Entwicklung des wissenschaftlichen Denkens im 18. und 19. Jahrhundert seien rassistische und sexistische Strukturen eingelassen. Der Mann, der Weiße, das Subjekt, das Universale definierte sich selbst im Gegensatz zum Weiblichen, den Schwarzen, den Anderen und Verschiedenen. Dieser historische Ausschluß verschiedener Gruppen findet sich noch heute auch bei Feministinnen: „Ironically, the continued treatment of African American women as invisible within feminist analyses, as well as silence concerning the exclusion of African American women from science as a profession, replicates earlier pattern of mainstream science“ (S. 277).

Personen

Das letzte Kapitel (V) befaßt sich schließlich in vier Beiträgen aus verschiedenen Fächern mit der mikrosoziologischen Ebene des Individuums. Aus sozialpsychologischer Sicht wird von Peter Glick und Susan T. Fiske die zentrale Bedeutung von ‚gender‘ für Identität und Interaktionen untersucht. Barbara Katz Rothmann hinterfragt in ihrem Beitrag kritisch die zunehmenden Wahlmöglichkeiten durch die pränatale Medizin. Judith Lorber zeigt am Beispiel der Diskussionen der Themen Heterosexualität, Prostitution, Pornographie und Transgender unterschiedliche Blickwinkel und politische Zielsetzungen feministischer Ansätze. Abschließend steht der Beitrag von R. W. Connell. Er stellt den materiellen Körper in den Mittelpunkt seiner Überlegungen und versucht, ein eigenes Konzept von body und ‚gender‘, von „gender in personal life and experience, including sexuality“ (S. 463) zu entwickeln.

Schluß

Der Sammelband löst überwiegend ein, was in der vortrefflichen Einleitung (in bezug auf den Überblick und die Entwicklung der Fragestellung) versprochen wurde. Es gelingt in der Einleitung auch, eine Klammer um die zum Teil heterogenen Einzelbeiträge zu binden. Insgesamt gibt der Band einen guten Einblick in den mittlerweile erreichten komplexen Wissensstand und die Vielfalt und Differenziertheit des feministisch sozialwissenschaftlichen Denkens. Einige Beiträge konzentrieren sich stärker auf den Überblick (z.B. die Beiträge in Kapitel II, einer in Kapitel IV), in anderen wird eher versucht, inhaltlich neue Aspekte zu beleuchten.

Die sich auf postmoderne Ansätze beziehenden Beiträge (z.B. Scott), in denen die Forderung aufgestellt wird, die Herstellung von Geschlechterdifferenz selbst zu untersuchen, statt sie vorauszusetzen, sind inhaltlich auch in Deutschland nicht ganz so neu (siehe hier z.B. die Arbeiten von Angelika Wetterer). Ich finde sie dennoch lesenswert, da diese Forschungsperspektive meines Erachtens bei uns immer noch nicht sehr weit verbreitet ist.

Das Interessante im vorliegenden amerikanischen Band ist der Versuch, ‚race‘ im Verhältnis zu ‚gender‘ und ‚class‘ zu bestimmen[3]. Hierfür gibt es Anregungen und Beispiele, wie eine solche Konzeption auch konkret anhand spezifischer Gegenstände aussehen könnte.

Anmerkungen

[1]: Ich übernehme die englischen Begriffe ‚gender‘, ‚race‘ und ‚class‘.

[2]: Es handelt sich nicht um eine Überarbeitung des ersten Bandes. Nur zwei der Autorinnen des ersten Bandes schreiben auch in diesem.

[3]: Für die Konzeption des Zusammenhangs von ‚class‘ und ‚gender‘ ist m.E. auch die gerade erschienene deutsche Publikation von Karin Gottschall Soziale Ungleichheit und Geschlecht. Opladen 2000, wegweisend und weiterführend. In dieser systematischen und differenzierten Analyse vorliegender Ansätze wird der Versuch einer integrativen Konzeption von Geschlecht und von sozialer Ungleichheit vorgenommen.

URN urn:nbn:de:0114-qn011081

Dr. Claudia Gather

Institut für Soziologie, Freie Universität Berlin

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