Dramatisieren oder Entdramatisieren – Wege zur geschlechtergerechten Schule

Rezension von Ruth Michalek

Jürgen Budde, Barbara Scholand, Hannelore Faulstich-Wieland:

Geschlechtergerechtigkeit in der Schule.

Eine Studie zu Chancen, Blockaden und Perspektiven einer gender-sensiblen Schulkultur.

Weinheim u.a.: Juventa Verlag 2008.

288 Seiten, ISBN 978–3–7799–1698–7, € 24,00

Abstract: Die vorliegende Studie untersucht differenziert die komplexen Praktiken der Geschlechterkonstruktionen innerhalb der Schulkultur und gibt Anlass, viele Praxen geschlechtssensibler Pädagogik neu zu überdenken. An einem österreichischen Gymnasium werden die vielfältigen Wege des doing gender ethnographisch untersucht. Hierbei wird einerseits gefragt, welche Konstruktionsprozesse sich finden lassen, und andererseits, inwiefern diese das Gender-Thema betonen oder eher in den Hintergrund rücken. Die Autor/-innen kommen zu dem Schluss, dass eine Dramatisierung von Geschlecht entgegen der Absichten eher Dichotomisierungen verstärkt und hilft, Differenzen festzuschreiben.

In der erziehungswissenschaftlichen Fachliteratur finden sich viele Konzepte für die Gestaltung geschlechtergerechter Schulen, für geschlechtssensiblen Unterricht und spezifische Methoden für Mädchen und Jungen. Diese Publikationen vermitteln den Eindruck, dass man zu wissen scheint, was für „die Geschlechter“ zu tun ist.

Mit dieser Erwartung wird gleich zu Beginn der vorliegenden Studie gebrochen, indem die Autor/-innen feststellen, „dass die Frage, was überhaupt eine geschlechtergerechte Schule charakterisiert, keineswegs geklärt ist“ (S. 11). Sie weisen auf die langjährige Tradition unterschiedlicher Diskurse innerhalb der geschlechtsbewussten Pädagogik um Mädchenparteilichkeit, Gleichberechtigung, Jungenförderung und Diversity hin. Mit Bezug auf Goffman lassen sich diese Diskurse, so die Autor/-innen, in Perspektiven der Dramatisierung und Entdramatisierung von Geschlecht unterscheiden. Geschlecht zu dramatisieren meint, die Kategorie Geschlecht in den Vordergrund zu rücken und zu betonen, während Geschlecht entdramatisiert wird, wenn Geschlecht als reflexive Kategorie mehr im Hintergrund ist. Die zentrale Forschungsfrage der vorliegenden Studie lautet somit, „welche Auswirkungen die Dramatisierung bzw. Entdramatisierung von Geschlecht für die Ausgestaltung einer geschlechtergerechten Schule bzw. Schulkultur hat“ (S. 14).

In einer ethnographischen Untersuchung wird die Schulkultur eines österreichischen Gymnasiums untersucht. In drei mehrwöchigen Feldphasen werden insbesondere die vier Klassen der 5. Jahrgangsstufe beobachtet. In Anschluss an Helsper wird dabei nicht nur der Genderaspekt beachtet, sondern auch andere schulische Kontexte, mit denen sich die Schulkultur beschreiben lässt werden einbezogen: Es werden Informationsmaterialien über die Schule und die hier festzustellende Selbstdarstellung der Schule analysiert, Unterricht und Pausen beobachtet sowie spezielle Maßnahmen wie z. B. Streitschlichter/-innen in den Blick genommen.

Schulische Selbstpräsentation

Ausgangspunkt der Studie ist die schulische Selbstpräsentation, wie sie in „offiziellen Darstellungen und Eindrücken des schulischen Alltags“ (S. 16) sichtbar wird. Es werden vor allem unterschiedliche Werbeflyer der Schule analysiert. Bewusste Koedukation ist ein explizites Anliegen der Schule, die ehemals ein Mädchengymnasium war. Der zugehörige Flyer zeigt aber, dass für dieses Anliegen keine positiven Ziele benannt werden. Darüber hinaus stellen die Autor/-innen fest, dass der „Anspruch, permanent ‚geschlechtsbewusst‚ zu handeln, einen Eingriff in Routinen des Lehrerhandelns darstellt und Brüche, Widersprüche und Irritationen hervorbringt“ (S. 43). In der Kombination mit einer ungeklärten Zielperspektive bestehe die „Gefahr der Überforderung oder die der Nicht-Beachtung“ (S. 43). In den Texten des Flyers ist zudem festzustellen, dass die vorgenommenen Zuschreibungen die Beziehungen zwischen Jungen und Mädchen polarisieren (S. 45).

Betrachtet man das Gender-Thema im Kontext anderer Anliegen der Schule wie etwa das Umwelt-Thema, so zeigt sich, dass „Gender als trennendes, Umwelt als verbindendes Element in der Schulkultur“ (S. 80) etabliert sind. Zudem sei das Gender-Thema „hauptsächlich über sprachliche Regelungen präsent“ (S. 81) und damit in der Schule wenig sichtbar. Die Autor/-innen kommen daher zu dem Schluss: „Das Thema ‚Gender‘ konkurriert mit verschiedenen anderen Problemen, und es wird wenig Verbindung oder Vernetzung zwischen den einzelnen Schwerpunkten der Schule hergestellt“ (S. 85). Diese Konkurrenz drückt sich auch in unterschiedlichen Strukturen aus. Während das Gender-Thema durch die Direktorin in den wichtigen Schulgremien vertreten ist, ist das Umwelt-Thema durch etwa ein Dutzend Personen aus allen Ebenen der Schule vertreten (S. 88).

Bei genauerer Betrachtung ist außerdem festzustellen, dass innerhalb der Genusgruppen nicht differenziert wird, genauso wenig wie geschlechtsgruppenübergreifende Gemeinsamkeiten angeführt werden. Insgesamt scheint die Schulkultur in Bezug auf Mädchen eine „Ermöglichungs- und Gebotskultur“ darzustellen, „Jungen dagegen gelten überwiegend als dominant, ihnen soll mit einer Begrenzungs- und Verbotskultur entgegengetreten werden“ (S. 86).

Perspektive der Lehrkräfte

Positionszuweisungen durch die Lehrkräfte wurden in Form von Interviews erhoben. Hier zeigt sich ein individueller Blick auf die Schüler/-innen, in dem sich zugleich auch stereotype Bilder und Verteilungshäufigkeiten finden. Sowohl stille Jungen als auch stille Mädchen kommen in den Schilderungen zu kurz (S. 114). Es bleibt hier zudem offen, welche pädagogischen Ziele verfolgt werden sollen: „Insbesondere mit Bezug auf die ruhigen Kinder stellt sich die Frage der pädagogischen Zielbestimmung: Sollen aus leisen Kindern selbstbewusst und laut auftretende gemacht werden?“ (S. 115).

Auch die Benotungspraxis wird analysiert. Die Analyse der Noten zeigt einen Gender-Bias. Die Studie vergleicht hier Zeugnisnoten mit einem selbst durchgeführten Leistungstest. Es zeigt sich in den Bewertungen der Lehrkräfte ein Mädchenbonus, einen Jungenmalus gibt es jedoch nicht (S. 125).

Einzelne schulische Maßnahmen

In den folgenden Kapiteln werden einzelne Maßnahmen der Schule analysiert: der Unterricht zur Kooperation, Kommunikation und Konfliktlösung (KoKoKo-Unterricht) sowie das Projekt Streithelfer/-innen. Bei beiden finden sich vielfältige Prozesse der Dramatisierung der Geschlechterdifferenz, die im Widerspruch zu den Handreichungen der Schule stehen: „Während die zum KoKoKo-Unterricht veröffentlichten Dokumente Geschlecht entdramatisieren, findet in der interaktionellen Praxis oft eine Dramatisierung statt. Die Handhabung variiert dabei je nach Lehrkraft und Thema“ (S. 165). Die Autor/-innen stellen fest, dass „geschlechterstereotype Wahrnehmungen in die Interaktionen in einschränkender Art und Weise einfließen. Die Dramatisierung der Geschlechterdifferenz führt zu einer Verstärkung derselben“ (S. 165). Dabei wird festgehalten, dass die Zuschreibungen sowohl für Jungen als auch für Mädchen eine Zumutung darstellen und sich nachteilig auswirken. Die Autor/-innen weisen zudem darauf hin, „dass in vielen Fällen die Schülerinnen und Schüler doing student in den Vordergrund rücken und nicht doing gender“ (S. 166)

Unterricht

Schließlich wird der Unterricht in den Blick genommen: koedukativer Werkunterricht und die sportliche Praxis. Insbesondere im Hinblick auf den Werkunterricht stellen die Autor/-innen fest, „dass es bei der Gestaltung einer geschlechtergerechten Schule weniger auf administrative Lösungen ankommt, sondern zum einen auf die Frage der Unterrichtsgestaltung, zum anderen auf die pädagogische Haltung und zum letzten auf die diskreten alltäglichen geschlechtlichen Annahmen“ (S. 271). Hier finden sich Hinweise darauf, dass Geschlecht entdramatisiert wird. Deutlich wird aber auch, „dass eine geschlechtergerechte Schule nur durch konkrete Absprachen und Orte des Austausches realisierbar ist“ (S. 272). Nur über eine gemeinsame Zielbestimmung innerhalb der Fachgruppe können nachhaltige Effekte im Hinblick auf Geschlechtergerechtigkeit erzielt werden.

Fazit

Die Zusammenschau der vielen akribischen Einzelanalysen offenbart, dass Jungen und Mädchen durch vorhandene stereotype Bilder in ihren Handlungsmöglichkeiten eingeschränkt werden. Eine Dramatisierung der Geschlechterdifferenz, wie sie durch verschiedene schulische Praktiken vorgenommen wird, verstärkt Differenzen und verstellt den Blick auf Heterogenität. Die Studie zeigt, dass Geschlecht an unterschiedlichen Orten und auf unterschiedlichen Ebenen in der Schulkultur eine Rolle spielt. Durch eine breite Forschungsperspektive, die Schulkultur auch jenseits expliziter Gender-Thematisierung in den Blick nimmt, gelingt ein differenziertes Bild schulischer doing gender-Prozesse. Lehrkräfte nehmen hierbei eine aktive Rolle ein. Es finden sich dramatisierende und entdramatisierende Elemente innerhalb der Schulkultur. Deutlich betont die vorliegende Studie jedoch, dass bei einer klaren Präsenz der Gender-Thematik die Gefahr besteht, Differenzkonzepte zu verstärken und zu festigen. Dies geschieht sogar entgegen der Absichten der Akteure und Akteurinnen. Daher fordern die Autor/-innen Genderkompetenz der Lehrenden.

URN urn:nbn:de:0114-qn0101072

Dr. Ruth Michalek

Pädagogische Hochschule Freiburg

E-Mail: michalek@ph-freiburg.de

Creative Commons License
Dieser Text steht unter einer Creative Commons Namensnennung 3.0 Deutschland Lizenz. Hinweise zur Nutzung dieses Textes finden Sie unter http://www.querelles-net.de/index.php/qn/pages/view/creativecommons