Birol Mertol:
Männlichkeitsbilder von Jungen mit türkischem Migrationshintergrund.
Ansätze interkultureller Jugendarbeit.
Berlin u.a.: LIT Verlag 2008.
221 Seiten, ISBN 978–3–8258–1723–7, € 24,90
Abstract: Mertol analysiert in seiner qualitativen Studie das Männlichkeitskonzept von fünf jungen Männern mit türkischem Migrationshintergrund. Die Ergebnisse zeigen ein heterogenes Bild, werden in der Auslegung durch den Autor aber weitgehend als Bestätigung vorhandener Studien gewertet, welche veranschaulichen, dass ‚die jungen türkischen Männer‘ – hin und her gerissen zwischen Tradition und Moderne – letztlich traditionelle Männlichkeitsbilder präferieren. Äußerst problematisch an Mertols Studie ist der unkritische Gebrauch der Kategorie ‚Kultur‘ als zentrale Variable zur Erklärung von Männlichkeitsvorstellungen. Damit wird die Studie Teil des populären kulturalistischen Diskurses in Wissenschaft, Medien, Politik und Alltag, der Einstellungen, Praktiken, Kommunikationen und Konflikte überwiegend durch die ‚kulturelle Brille‘ deutet.
Der Pädagoge Birol Mertol befasst sich in dieser qualitativen Studie, die gleichzeitig seine Diplomarbeit war, mit den Männlichkeitsvorstellungen von jungen Männern mit türkischem Migrations- bzw. Familienhintergrund, um die Wahrnehmung der Mehrheitsgesellschaft, in welcher diese als streng traditionell eingestuft werden, zu prüfen. Fünf Jugendliche zwischen 17 und 22 Jahren, die der Autor aus seiner Tätigkeit als pädagogischer Mitarbeiter in einem Bochumer Jugendhaus kennt, wurden interviewt. Im Fokus seiner Analyse stehen dabei die Vorstellungen der Jungen bezüglich ihres Bildes von Männlichkeit, ihrer Haltung gegenüber dem weiblichen Geschlecht und ihrer Einschätzung der Beziehung zum Vater.
Die Studie ist in vier Teile eingeteilt: Im ersten Teil referiert Mertol vorhandene Forschungsarbeiten über Jugendliche mit türkischem Migrationshintergrund, wie die Arbeiten von Werner Schiffauer und Hermann Tertilt. Der Autor belässt es hier bei einer rein reproduzierenden Darstellung der Inhalte dieser Studien. Die denkbare Kritik bleibt aus, wodurch er die Möglichkeit verschenkt, sich abseits des Mainstreams zu positionieren und eine innovative Forschungsfrage zu formulieren.
Mertol untersucht stattdessen im zweiten Teil die Sozialisationsbedingungen von Jungen mit ‚türkischem Hintergrund‘ in der ‚Einwanderungsgesellschaft Deutschland‘. Hier wird bereits eine Schwäche der Arbeit offensichtlich: Obwohl bekannt ist, dass ‚Kultur‘ eine problematische, homogenisierende Kategorie ist und hauptsächlich Faktoren wie die sozioökonomische Lage der Familie oder die Bildung der Eltern Sozialisationseffekte bedingen, belässt es der Autor bei der halbherzigen Feststellung dieser Sachlage und referiert – unter Zuhilfenahme von zum Teil zwanzig Jahre alter Literatur – die Bedingungen der Sozialisation in ‚türkischen Familien‘, die durch die Macht der Traditionen weitgehend geprägt sei. Begriffe, wie der der kulturell tradierten ‚Ehre‘, dürfen natürlich an einer solchen Stelle nicht fehlen und werden entsprechend genannt. Im Interesse der eigenen Argumentation lässt Mertol die Heterogenität familiärer Sozialisationen bei ‚den Türken‘ unterbelichtet. Als Leser muss man sich an einer solchen Stelle zwangsläufig fragen, wie eine Publikation wirken würde, die auf wenigen Seiten vorgibt, die Sozialisation und Erziehung in ‚der deutschen Familie‘ beschreiben zu können. Der Verdacht einer kulturellen und ethnischen Homogenisierung drängt sich spätestens jetzt auf.
Im dritten Teil werden sowohl das methodische Vorgehen als auch die zentralen Ergebnisse – illustriert durch Interviewpassagen – vorgestellt. Mertol führte erzählgenerierende, halbstrukturierte ‚problemzentrierte Interviews‘ mit den fünf jungen Männern durch. Gegenstand der Befragung waren das subjektive Männlichkeitsbild, das Frauenbild, die Sexualmoral (v. a. die Jungfräulichkeit zukünftiger Ehefrauen), die Vater-Sohn-Beziehung, die Vaterrolle in der Familie und die Bedeutung von Männerfreundschaften. Unreflektiert bleiben beim methodischen Vorgehen, dass zum einen verbalisierte Einstellungen abgefragt werden, was zunächst nichts über Handlungsmuster und Verhalten im Alltag aussagt. Zum anderen sind die Interviewten Besucher eines Jugendhauses, die der Autor durch seine Tätigkeit kennt; durch die persönliche Beziehung zwischen Jungen und Interviewer sind Verzerrungen in den Antworten aber wahrscheinlich.
Die Ergebnisse der Befragung zeigen ein heterogenes, differenziertes Bild, welches von Mertol in der Interpretation aber zur Bestätigung vorhandener Studien (s. o.) umgedeutet wird. So schreibt Mertol: „Deshalb kann man schlussfolgernd sagen, dass sich traditionelle Männlichkeitsbilder um moderne Ansichten erweitert haben […]. Bei den allgemeinen Männerbildern werden von den untersuchten Jungen vor allem Werte, moralische Aspekte und das äußere Erscheinungsbild zum Mannsein hinzugezählt. Überwiegend beziehen sich diese Vorstellungen auf eine traditionellen Hintergrund“ (S. 124 f.). Demnach sei ‚der türkische junge Mann‘ hin und her gerissen zwischen ‚Tradition‘ und ‚Moderne‘ (was immer das heißt), wobei traditionelle Männlichkeitsbilder sein Denken und Selbstkonzept dominieren. Gerade im Hinblick auf die Rolle des Mannes in der Familie oder auf das Geschlechterverhältnis wird – so Mertol – die Idee von Männlichkeit als das dominante, aktive, autoritäre, alleinverdienende Geschlecht offenbar.
Der vierte und letzte Teil widmet sich den Konsequenzen dieser Ergebnisse für die interkulturelle Jungenarbeit. „Dabei soll die Interkulturelle Jungenarbeit dazu dienen, unter dem Gesichtspunkt Kultur eine Interaktion zwischen unterschiedlichen Männlichkeiten anzuregen, um festgefahrene Formen von Männlichkeitsbildern durch Reflexionsvorgänge zu relativieren und eine Veränderung im Mannsein zu bewirken“ (S. 178). Hier wie an anderen Stellen der Arbeit wird der Verweis auf die prägende ‚Kultur‘ nochmals offensichtlich.
Mertols bemühtes Vorhaben, gleichermaßen theoretisch wie empirisch fundiert einen Beitrag für die pädagogische Praxis zu leisten, scheitert an einem Grundproblem der derzeitigen Mainstream-Debatte über ‚Kultur‘, ‚Interkulturalität‘, ‚Multikulturalität‘ usw.: Der größte Teil der Diskussion – von Samuel P. Huntington über Alexander Thomas bis zu den Pädagogen, die ‚interkulturell‘ arbeiten – übersieht erstens die relative Bedeutungslosigkeit von ‚Kultur‘ als handlungsleitende und einstellungsgenerierende Größe, zweitens die verfälschende Logik der Homogenisierung der ‚Kultur‘ (die im Hinblick auf die ‚Kultur der Anderen‘ immer gerne betrieben wird) und drittens die Gefahr der politischen Instrumentalisierung derartiger Homogenisierungsbestrebungen. Das Handeln und die Kommunikation von Menschen sind kaum erklärbar durch kulturelle oder ethnische Zugehörigkeit, sondern werden maßgeblich bestimmt durch Alter, Geschlecht, Gesundheitszustand, Habitus, Milieuzugehörigkeit, sozialräumliche Herkunft, sozioökonomische Positionierung, soziale Vernetzung, Bildung, Mediensozialisation, biographische Erfahrung, kognitive und sprachliche Kompetenz etc. Diesen Sachverhalt sollte eine Pädagogik (der Differenz) berücksichtigen. Andernfalls beteiligt sich die Wissenschaft und pädagogische Praxis an der derzeit so populären Reproduktion einer Kulturalisierung des Sozialen.
URN urn:nbn:de:0114-qn0101109
Dr. Martin Spetsmann-Kunkel
FernUniversität Hagen, Lehrgebiet Interkulturelle Erziehungswissenschaft
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