Irina Schmitt:
wir sind halt alle anders.
Eine gesellschaftspolitische Analyse deutscher und kanadischer Jugendlicher zu Zugehörigkeit, Gender und Vielkulturalität.
Göttingen: V&R unipress 2008.
320 Seiten, ISBN 978–3–89971–452–4, € 38,90
Abstract: Irina Schmitt untersucht, wie Jugendliche aus verschiedenen Migrationskulturen in Deutschland auf ethnische wie geschlechtsbezogene Normativität reagieren. Als teilnehmende Beobachterin gab die Autorin den Jugendlichen die Möglichkeit, sich selbst in qualitativen Fragebögen, Interviews, Postern und Foto- bzw. Kassettentagebücher darzustellen. Ein Vergleich mit kanadischen Jugendlichen zeigt, wie eine Gesellschaft, die von Heterogenität bestimmt ist, auch den Jugendlichen mehr Möglichkeiten bietet, verschiedene Kulturen positiv wahrzunehmen.
Irina Schmitts Forschungsansatz zielt darauf, aufzudecken, dass unter Jugendlichen Hybridität und Transkulturalität vorherrschen – entgegen gängigen Diskursen, die ethnische wie geschlechtsnormierte Zuschreibungen vertreten. Ihre Dissertation entstand im Kontext des Wissenschaftsschwerpunkts „Dynamik und Komplexität von Kulturen“ der Universität Bremen, und es ist eine besondere Stärke, dass sie die blinden Flecken der interkulturellen wie der feministischen Studien herausarbeitet und die Bedeutung von Zuschreibungen für die Abwehr des ‚Fremden‘ und die Ausgrenzung von Migrant/-innen aufzeigt.
Schmitt hat eine Gruppe von Jugendlichen in einer deutschen Gesamtschule ein Jahr lang begleitet und ihnen die Gelegenheit gegeben, sich selbst und ihre Umwelt darzustellen. „Thematischer Fokus wurde dabei zum einen der Umgang mit dem plural erlebten, aber noch immer monokulturell verfassten Leben in der Bundesrepublik, zum anderen die Rolle von Geschlechterkonstruktionen im Alltag“ (S. 17). Methoden waren neben einem traditionellen Fragebogen (dieser Fragebogen wie auch seine Auswertung fehlen leider im Buch) qualitative Interviews auf der Grundlage von Fotoszenen, Poster mit Zeichnungen zur Selbstpositionierung und – für den Forschungszusammenhang passender – Foto- und Kassettentagebücher, mit denen die Jugendlichen selbstständig das aufnehmen konnten, was ihnen wichtig war. Damit soll verfolgt werden, wie Jugendliche sich selbst zwischen verschiedenen Zuschreibungen positionieren, welche Zugehörigkeiten sie selbst finden. Es geht also nicht darum, ihre Identität von außen zu erfassen, sondern sie als aktive Subjekte in der Auseinandersetzung mit Erwartungen ernst zu nehmen.
Dabei werden fünf unterschiedliche Bereiche von Transkulturalität beleuchtet:
Befragt werden hauptsächlich Jugendliche ‚mit Migrationshintergrund‘ (wobei Schmitt aufzeigt, wie nichtssagend diese Zuschreibung ist). Es wäre aufschlussreicher gewesen, mehr Jugendliche dazuzunehmen, die als klar ‚autochthon‘ bezeichnet werden können, sich aber gleichwohl durch Diversität auszeichnen – dies hätte die These von der Hybridität der Individuen – auch derer, die als ‚normal‘ gelten – gestärkt.
Auch an einer kanadischen Schule wurden die Selbstverortungen der Jugendlichen untersucht. Es zeigt sich, dass eine Gesellschaft wie die kanadische, die Migranten wie Homosexuelle als weniger abweichend von der Norm ansieht, die Diversität des Einzelnen weniger abwertet, man dort also von „Diskurse[n] von (der Normalität der) Differenz“ (S. 279) sprechen kann.
Auch wenn diese Ausführungen zu der kanadischen Schule nur Ergebnisse eines kurzen Aufenthalts von sechs Wochen reflektieren, so ist es doch ein Gewinn für diese Studie, dass sie in einem internationalen Kontext entstanden ist; sie wurde aus dem internationalen Projekt „Transfer kultureller Praxen und Normen im internationalen Vergleich: einheimische und eingewanderte Jugendliche zwischen Elternhaus, Schule und Peer Group“ entwickelt, an dem auch Forscherinnen aus Kanada (Yvonne Hébert) und Großbritannien beteiligt sind. Gerade im Vergleich mit anderen Ländern und ihrem Umgang mit Diversität wird deutlich, welche bildungspolitischen Konsequenzen in Deutschland zu ziehen sind: Hier werden erst dann die Stärken der multikulturellen Gesellschaft entdeckt werden können, wenn Abweichung von einer – angeblich universalen – Norm nicht als Problem gesehen wird und allen Individuen Modelle gesellschaftlicher Teilhabe angeboten werden.
Die Stärken der Studie sind gleichzeitig der Grund für ihre Schwächen. So entscheidend die Auflösung von Zuschreibungen ist, so problematisch sind schließlich die Ergebnisse der Studie: Wenn das Ergebnis der Studie (nur) ist, dass jede/r Jugendliche sich als Individuum sieht („Wir sind halt alle anders“), so ist dies einerseits eine politisch einsichtige Stellungnahme, da nur so Dichotomien überwunden werden können, andererseits ist dies als Forschungsergebnis kaum erhellend.
Verbunden damit ist ein sehr offener Projektablauf. Das kann positiv gesehen werden: Den Jugendlichen werden nicht bestimmte Themen oder Deutungen übergestülpt, und die untersuchende Wissenschaftlerin reflektiert permanent ihre eigenen Forschungsinteressen. Andererseits werden ganz grundlegende Kriterien des Arbeitens nicht geklärt: Wie kam die Untersuchung mit gerade dieser Gruppe von Jugendlichen zustande? Wieso werden nur acht Jugendliche vorgestellt, im Rahmen der Untersuchung aber noch einige mehr erwähnt? Von wem stammen die 74 Fragebögen, 66 Zeichnungen, 56 Interviews, 13 Gruppengespräche und 32 Foto- und Kassettentagebücher (S. 89)? Wie haben sich die Gesprächssituationen ergeben? Die Methode des teilnehmenden Beobachtens führt immer wieder zu anekdotenhaften Ergebnissen, die nicht ohne Interesse sind, aber die Leserin der Studie in ihrer Vielfältigkeit verwirren. Wie wird damit umgegangen, dass damit eine Zufallsauswahl getroffen wurde, die die traditionellen Forderungen von empirischer Repräsentativität nicht erfüllt? Problematisch ist auch Schmitts Vorgehensweise, unterschiedliche (weibliche und männliche) Interviewer/-innen einzusetzen – die jeweils über einen unterschiedlichen kulturellen Hintergrund verfügen; auch hier wollte Schmitt auf die Schüler/-innen eingehen, ihnen die Möglichkeit bieten, in ihrer Muttersprache zu antworten. Doch dass die Ergebnisse auch von dieser unterschiedlichen Redesituation beeinflusst sind, wird nicht reflektiert.
Insgesamt entsteht der Eindruck, dass die Ergebnisse der unterschiedlichen Untersuchungsansätze durch die thematische Ordnung der Forscherin nachträglich geordnet und damit gelenkt wurden, was dem eigenen Anspruch, die Jugendlichen als Akteur/-innen der Untersuchung ernst zu nehmen, entgegensteht.
URN urn:nbn:de:0114-qn0101065
Annette Kliewer
Bad Bergzabern, Gymnasium im Alfred-Grosser-Schulzentrum und Landau, Institut Germanistik der Universität Koblenz-Landau
E-Mail: annette.kliewer@neuf.fr
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