Gender und Queer Studies disziplinieren – oder: Die Paradoxie der Interdisziplinarität

Rezension von Heike Kahlert

Nina Degele:

Gender/Queer Studies.

Eine Einführung.

München: UTB Fink 2008.

284 Seiten, ISBN 978–3–8252–2986–3, € 18,90

Franziska Schößler:

Einführung in die Gender Studies.

Berlin: Akademie Verlag 2008.

232 Seiten, ISBN 978–3–05–004404–0, € 19,80

Abstract: Nina Degele und Franziska Schößler treiben mit ihren Einführungsbüchern in die Gender Studies beziehungsweise in die Gender/Queer Studies die Disziplinierung dieser neuen Wissensfelder voran. Ausgehend von ihren jeweiligen Herkunftsdisziplinen (Soziologie und Literaturwissenschaft) legen sie übersichtliche Überblicke vor, die explizit für die Hochschullehre konzipiert sind. Beide Bücher leisten einen wichtigen Beitrag zur Kanonisierung der Gender Studies als akademisches Fach, bleiben aber in ihrer Konzeption stark den Herkunftsdisziplinen ihrer Verfasserinnen verhaftet. Hier stößt die viel beschworene Interdisziplinarität der Gender Studies an ihre Grenzen.

Disziplinierung neuer Wissensfelder

Spätestens seit den 1990er Jahren lässt sich im deutschsprachigen Hochschul- und Wissenschaftssystem die Herausbildung einer autonomen Disziplin bzw. eines eigenständigen Fachs beobachten – unter verschiedenen Namen: „Frauen- und Geschlechterforschung“, „Frauen- und Geschlechterstudien“, „Frauenstudien“, „Geschlechterstudien“, „Gender-Studien“ oder „Gender Studies“. Als untrügliche Merkmale dieser Disziplinierung lässt sich die Etablierung eines eigenständigen Kommunikationszusammenhangs in Form von Publikationen und Tagungen, eines eigenständigen kognitiven Komplexes in Gestalt der Kategorie Geschlecht als Gegenstandsbereich und Perspektive, eines autonomen sozialen Komplexes in Form einer spezifischen scientific community mit zugehörigen Institutionalisierungsformen innerhalb und außerhalb der Hochschulen und schließlich einer eigenen historischen Identität in Form einer Kanonbildung und Geschichtsschreibung ausmachen.

Dabei ist die Herausbildung dieses neuen Fachs mit mindestens zwei Herausforderungen konfrontiert. Eine Herausforderung besteht in der zumeist disziplinären Herkunft seiner Protagonistinnen und Protagonisten, die wissenschaftlich in einem herkömmlichen, bereits länger etablierten Fach sozialisiert und so in ihren Erkundungen zu Gender schon durch die jeweilige Fachkultur professionell geprägt sind. Diese fachliche Prägung bleibt auch bei der Ausübung der neuen Disziplin erhalten. Eine zweite Herausforderung der Disziplinierung liegt im Umgang mit weiteren Ungleichheiten wie Klasse, „Rasse“ beziehungsweise Ethnie und Sexualität – letztere steht im kritischen Blick der sich ebenfalls als eigenes Wissensfeld etablierenden Queer Studies.

Disziplinierung der Gender und Queer Studies in Lehr- und Studienbüchern

Die Disziplinierung der Gender und Queer Studies findet derzeit unter anderem in eigenen hochschulischen Studiengängen und in eigens dafür verfassten Einführungs- und Lehrbüchern statt. Diese leisten, jeweils beeinflusst durch die disziplinäre Herkunft ihrer Verfasserinnen (Verfasser sind in diesem Bereich noch ausgesprochen rar), einen Beitrag zur Kanonisierung und Geschichtsschreibung dieser neuen Wissensfelder.

Auch die hier zu besprechenden Einführungsbücher der Freiburger Professorin für Soziologie und Gender Studies Nina Degele und der Trierer Professorin für Neuere Deutsche Literaturwissenschaft Franziska Schößler sind dieser Lehrbuchkategorie zuzuordnen.

Ein wesentlicher Unterschied beider Bücher liegt im Umgang mit den Queer Studies: Während Schößler diesen ein eigenes Kapitel in ihren ansonsten auf die Gender Studies fokussierenden Ausführungen widmet, will Degele beide „Fachrichtungen“ (S. 10) verbinden. Ihr kommt es darauf an, „die Queer Studies geschlechtertheoretisch abzufedern und die Gender Studies auf queerende Weise zu betreiben“ (S. 11). Damit meint sie, diese „auf ihre unhinterfragten und nicht reflektierten Naturalisierungen und Ausschlussmechanismen hin zu überprüfen“ (S. 11). Es geht ihr folglich „nicht um eine Einführung in Gender- oder Queer Studies, sondern um eine in Gender/Queer Studies“ (S. 11), wohl wissend, dass dies insbesondere aus Sicht der Queer Studies, denen es ja um das Hinterfragen, um das Infragestellung vermeintlicher Ordnungen geht, durchaus delikat ist. Als verbindendes Element beider Fachrichtungen macht sie das der Soziologie inhärente paradigmatische Moment der Verunsicherung aus, das die „Entselbstverständlichung von Selbstverständlichkeiten“ (S. 14) zum disziplinären Programm erklärt hat. Die Frage nach der Verbindung von Gender und Queer Studies durchzieht folglich das gesamte Einführungsbuch und steht mal mehr, mal weniger im Vordergrund der Ausführungen.

Drei Theorieströmungen als ‚roter Faden‘ – Degele

Degele unterscheidet in Kapitel 1 („Gender/Queer Studies: Wozu das Buch?“) ihrer Einführung „drei grundlegende Strömungen in der feministischen Theoriebildung“ (S. 14), die sie in Beziehung zu den Gender/Queer Studies setzt: strukturorientierte Gesellschaftskritik (Geschlecht als sozialstrukturelles Phänomen), interaktionistischer Konstruktivismus (Geschlecht als interaktiv hergestelltes Konzept) und diskurstheoretischer Dekonstruktivismus (Geschlecht als Ordnungsprinzip auf der Ebene von Bedeutungen). Diese Strömungen, die in Kapitel 3 („Theorie: Gender/Queer Studies als Verunsicherungswissenschaften“) ausführlich dargestellt und diskutiert werden, bilden zugleich auch den Rahmen für die in Kapitel 5 („Anwendungen“) enthaltenen sieben Beispiele, die sich unter anderem mit Frauenförderung, Gender Mainstreaming und Diversity Management, Sexarbeit, Transgender im Film sowie Geschlechterkonstruktionen über die Evolution befassen. Autorinnen und Autoren dieser Anwendungsbeispiele sind Christian Schenk, Andrea Bronstering, Volker Woltersdorff, Susanne Koppe, Claudia Münzing, Eveline Kilian und Sigrid Schmitz. Kapitel 2 beschäftigt sich mit der „Geschichte der Gender/Queer Studies“, Kapitel 4 nimmt die „Methodologie: historisch, systematisch, perspektivisch“ in den Blick. Ergänzt wird das Einführungsbuch um ein Begriffsregister.

Mit den drei grundlegenden Strömungen folgt Degele zwar einer etablierten Systematik in den Sozialwissenschaften, die Struktur, Handeln und Diskurs als verschiedene Theorieperspektiven unterscheiden und als sich wechselseitig ausschließend gegenüberstellen. Ihre eigene Arbeit will sie hingegen als „pragmatischen Zugang“ verstanden wissen, „der Stärken und Schwächen der jeweiligen Ansätze gegenstandsbezogen analysiert“ und eine „komplementäre Sichtweise“ einnimmt (S. 19). Dabei kommen leider die verbindenden Elemente zwischen den drei Strömungen zu kurz. Dennoch ist für die Lektüre erleichternd, dass mit den drei Strömungen ein ‚roter Faden‘ konstruiert wird, der als Wegweiser durch die Materialfülle des Buches fungiert.

Verschiedene Wissensfelder im Dialog mit den Gender Studies – Schößler

Schößlers Einführung ist in vierzehn inhaltliche Kapitel gegliedert, die um einen sehr nützlichen Serviceteil zu allgemeinen bibliographischen Hilfsmitteln, zu Einführungen, Handbüchern und Textsammlungen, zu Zeitschriften und Periodika und zu Forschungseinrichtungen der Gender Studies sowie einen Anhang mit Literatur-, Abbildungs- und Personenverzeichnis sowie Glossar ergänzt sind. Die einzelnen Kapitel fassen in durchweg gut verständlicher Sprache den Diskussionsstand zu zentralen Themen (zum Beispiel „Gender und Memoria“), wichtigen Theorieperspektiven (zum Beispiel „Die Écriture feminine und der dekonstruktive Feminismus“, „Die Diskursanalyse und die Identitätskritik Judith Butlers“) sowie zu angrenzenden Wissenschaftsfeldern (zum Beispiel „Men’s Studies“, „Gender und Film Studies“) und Forschungsrichtungen (zum Beispiel „Frauenbildforschung“) zusammen. Ergänzend finden sich zwei Kapitel zur Geschichte der Geschlechter um 1800 und um 1900 und ein abschließendes Kapitel zur „Wissenschaftskritik“ der Gender Studies.

Eine Hinführung, wie es zur Auswahl dieser Kapitelschwerpunkte kam, suchen die Leserin und der Leser in dem ansonsten übersichtlich gestalteten Buch vergeblich. Vermutet werden kann, dass es hier darum geht, die Weiterentwicklung zentraler kulturwissenschaftlicher Wissensfelder im Dialog mit den Gender Studies darzustellen.

Bereits nach einem Blick auf das Inhaltsverzeichnis ist anhand der fachlichen Schwerpunktsetzungen der einzelnen Kapitel unverkennbar, dass hier eine Kulturwissenschaftlerin schreibt. Deutlich wird dies auch im einleitenden Kapitel („Was sind Gender Studies?“): Wenngleich Schößler hier durchaus auch sozial- und naturwissenschaftliche Perspektiven einzunehmen versucht, zum Beispiel durch Bezug auf die Frage von Geschlecht und Macht oder auch auf die Rolle der Naturwissenschaften bei der Konstitution der bürgerlichen Geschlechterordnung zu Beginn der Moderne, so sticht doch ihre Akzentuierung auf kulturwissenschaftliche Fragen ins Auge.

Gender und Queer Studies als Beiträge zur Interdisziplinarität in der Lehre

Beide hier vorgestellten Lehr- und Studienbücher verfolgen den Anspruch der Einführung in das vergleichsweise neue und junge Wissensfeld der Gender Studies beziehungsweise der Gender/Queer Studies. Degeles Einführungsband ist als Teilband der Reihe „Basiswissen Soziologie“ konzipiert und wird sicherlich seinen Platz in den soziologischen, vielleicht auch noch sozialwissenschaftlichen Lehrbüchern zu den Gender Studies finden. Seine Einsetzbarkeit in der Lehre hätte durch didaktische Elemente wie Übungsfragen, Definitionen und ein Glossar optimiert werden können, auch die Sprache bewegt sich streckenweise nicht unbedingt auf dem für Einführungsbücher erwartbaren zum Teil simplifizierenden Niveau. Schößlers Einführungsband hingegen fungiert als Beitrag zur Reihe „Studienbuch Literaturwissenschaft“ und hat damit einen Ort akademischer Sichtbarkeit in der Literaturwissenschaft, vielleicht auch noch darüber hinaus in angrenzenden Fächern der Kulturwissenschaften. Seine Einsetzbarkeit in der Lehre steht angesichts der klaren, einfachen und doch aussagefähigen Sprache, der Übungsfragen und des umfangreichen Serviceteils mit Anhang außer Frage. Beide Bücher leisten wichtige Beiträge zur Disziplinierung und Kanonisierung der Gender Studies als akademisches Fach, bleiben aber in ihrer Konzeption doch stark den Herkunftsdisziplinen ihrer Verfasserinnen verhaftet. Mit dieser Paradoxie werden sich die sich als inter-, ja transdisziplinär verstehenden Gender Studies wohl noch eine ganze Weile herumschlagen müssen!

URN urn:nbn:de:0114-qn0101206

Dr. Heike Kahlert

Maria-Goeppert-Mayer-Gastprofessorin für internationale Frauen- und Genderforschung am Zentrum für Interdisziplinäre Frauen- und Geschlechterstudien (ZIF) Hildesheim

Homepage: http://www.wiwi.uni-rostock.de/soziologie/makrosoziologie/kahlert/

E-Mail: heike.kahlert@uni-rostock.de

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