Chancengleichheit als Paradox im Unternehmen

Rezension von Annette von Alemann

Jenny Brettschneider:

Frauen in Führungspositionen: Anspruch und Wirklichkeit von Chancengleichheit.

Eine empirische Untersuchung in Hamburger Unternehmen im Kontext der Organisationskultur.

Hamburg: Verlag Dr. Kovač 2008.

316 Seiten, ISBN 978–3–8300–3594–7, € 39,80

Abstract: Die Autorin geht der Frage nach, warum in der Wirtschaft Frauen nicht gefördert werden, obwohl ihre gesellschaftliche Benachteiligung und ihre Unterrepräsentation in Führungspositionen wahrgenommen wird. Mit Hilfe von Leitfadeninterviews mit Führungskräften aus elf Unternehmen kommt sie zu dem Ergebnis, dass sich die Unternehmen für die Herstellung von Chancengleichheit nicht verantwortlich sehen. Zum einen widersprechen Frauenförderprogramme dem meritokratischen Verständnis individueller Leistungszurechnung, zum anderen sehen sich Unternehmen außerstande, das Kernproblem der Benachteiligung – das „Risiko Mutterschaft“ – zu lösen. Die herausgearbeiteten Begründungsmuster für die Unterrepräsentation von Frauen in Führungspositionen werden als Hinweis auf männerbündische Strukturen in den Organisationen identifiziert, deren Ziel die Ausgrenzung von Frauen aus wichtigen Positionen ist.

Organisationskultur als Ausgangspunkt

Während in der Gesellschaft ein Wertewandel in Richtung auf Chancengleichheit von Mann und Frau festzustellen ist, der sich neben der Gleichberechtigung vor dem Gesetz im Auftreten von Frauen in politischen Spitzenpositionen zeigt, sind Frauen in Führungspositionen der Wirtschaft massiv unterrepräsentiert. So hatten in den letzten Jahren nur zwei Frauen Vorstandspositionen in den DAX 30-Unternehmen inne (S. 1). Jenny Brettschneider sucht in ihrer Dissertation eine Erklärung für diese paradoxe Situation und fragt, inwieweit gesellschaftspolitische Themen und Werteverschiebungen überhaupt bei den Unternehmen ankommen. Zentraler Faktor ist für die Autorin die Organisationskultur, da sich in ihr die Werte der Organisation widerspiegeln. Aufgrund ihrer Durchsicht von kulturtheoretischen und betriebswirtschaftlichen Ansätzen zur Organisationskulturforschung kommt sie zu dem Schluss, dass ein Kulturwandel in Organisationen sowohl auf Veränderungen der Organisationsumwelt beruhen kann als auch auf gezielten Strategien der Führungskräfte, da diese eine Organisationskultur prägen und durch ihr Verhalten eine Vorbildfunktion übernehmen.

Im Zentrum der Untersuchung steht die Frage, wie gesellschaftspolitische Themen – hier: Chancengleichheit von Frauen und Männern – von den Organisationen aufgenommen werden. Untersucht werden die Einstellungen, Wahrnehmungen und Beurteilungen der betrieblichen Wirklichkeit von Topführungskräften aus elf Hamburger Unternehmen. Diese wurden von der Autorin in Form von Leitfadeninterviews (Brettschneider selbst bezeichnet sie als „problemzentrierte Interviews“) befragt. Insgesamt 63 Interviews – davon 17 mit Frauen – hat sie mit Hilfe einer computergestützten qualitativen Inhaltsanalyse ausgewertet. Brettschneider begründet ihre qualitative Arbeitsweise – die in ihrer Herkunftsdisziplin, der Betriebswirtschaftslehre, eher unüblich ist und deren Rechtfertigung sie ein eigenes Teilkapitel widmet – damit, dass sie „die subjektive Wirklichkeit der befragten Personen“ erforschen, „Lebenswelten ‚von innen heraus‘ beschreiben“ und damit „zu einem verbesserten Verständnis sozialer Wirklichkeit“ kommen möchte (S. 92).

Begründungsmuster der Unterrepräsentanz von Frauen in Führungspositionen

Auf diese Weise gelingt es ihr, die relevanten Topoi herauszuarbeiten, die bei der Begründung der Unterrepräsentanz von Frauen in Führungspositionen aus Sicht der relevanten Entscheidungsträger eine Rolle spielen. An erster Stelle wird das „Risiko Mutterschaft“ (S. 243) genannt. Hier geht es „nicht um die Frage, ob Frauen Kinder haben oder wollen, sondern ganz generell um die Tatsache, dass Frauen in der Lage sind, Kinder zu bekommen“ (S. 244). Die Vorstellung einer Mutterschaft, die unweigerlich eine längere Abwesenheit der Mitarbeiterin durch Elternzeit mit daran anschließender Teilzeittätigkeit nach sich ziehen wird, stellt sich den befragten Unternehmen als Risikofaktor dar, der nicht zu eliminieren ist und im Gegensatz zum Anspruch an Allzeitverfügbarkeit, Flexibilität und Mobilität der Führungskräfte steht. Zwei Tatsachen können daraus geschlossen werden: (1) Mutterschaft und Führungstätigkeiten schließen sich gegenseitig aus, und (2) Unternehmen können nichts zur Behebung dieses Grundproblems tun.

Weitere Begründungsmuster sind: Frauen wollen nicht (sie legen nicht dasselbe Karrierestreben an den Tag wie Männer), Frauen sind selbst schuld (sie „verhalten sich kontraproduktiv dem Unternehmen gegenüber und schaden sich damit selbst“, S. 250), Frauenteams führen zu „Zickenkrieg“ im Unternehmen (S. 253) und Frauen bringen nicht die einer Führungskraft entsprechende Leistung; außerdem: Die Förderung von Chancengleichheit lohnt sich nicht – denn erstens sei die „Investition, die man als Unternehmen (bis zur Mutterschaft) in eine Frau getätigt habe, […] quasi verloren, wenn diese nach Mutterschutz und/oder Elternzeit nicht zurückkomme“ (S. 257). Und zweitens sei der durch Förderprogramme für Chancengleichheit entstehende Nutzen für das Unternehmen schwer zu berechnen und erst langfristig spürbar – während Unternehmen „heutzutage eher kurzfristigen Erfolg im Blick haben“ (S. 265).

Verantwortlich sind die Anderen

Chancengleichheit wird von den Führungskräften also durchaus als gesellschaftliches Problem gesehen. Für dessen Lösung werden Politik und Gesellschaft verantwortlich gemacht; die Unternehmen selbst sehen sich nicht in der Pflicht. Folglich werden auch Programme zur Förderung der Chancengleichheit im eigenen Unternehmen als unwichtig oder sogar als kontraproduktiv angesehen, zumal diese dem durchweg ausgeprägten meritokratischen Karriereverständnis, nach dem Personen objektiv entsprechend ihrer individuellen Leistung be- und gefördert werden, widerspricht.

Dabei nehmen die von Brettschneider befragten Führungskräfte durchaus wahr, dass weibliche Arbeitskräfte ein Unternehmen durch ihre Sozialkompetenz, Zielstrebigkeit und gute Arbeitsorganisation bereichern. Trotzdem werden Frauen nicht als Leistungsträgerinnen wahrgenommen, die für die Besetzung von Führungspositionen in Frage kommen. Die Autorin erklärt dies mit männerbündischen Strukturen im Management, in denen es bei aller Rhetorik der Chancengleichheit um die Abgrenzung gegenüber Frauen und ihren Ausschluss aus den wichtigen Positionen geht. Daher verwundert es nicht, dass in den von Brettschneider untersuchten Unternehmen das Loblied auf die „anderen“ Sichtweisen, Arbeitsweisen und Kompetenzen der weiblichen Belegschaft nicht mit der Herstellung von Chancengleichheit in Beziehung gesetzt wird und die ungleichen Ausgangsbedingungen von Männern und Frauen in der Organisation nicht erkannt bzw. negiert werden.

Aufbau des Bandes

Die Studie ist unterteilt in zwei Teile und einen Anhang. Im Teil A wird der Forschungsstand zu den Themen Organisationskultur, Genderforschung und Chancengleichheit, Frauen in Führungspositionen sowie Geschlecht und Organisationskultur dargestellt. Die Autorin zitiert aktuelle Zahlen aus den wichtigsten Datensammlungen und Studien zu Frauen in Führungspositionen – wobei sie überzeugend herausarbeitet, dass die vorliegenden Zahlen weder allgemeingültig noch vergleichbar sind. Sie geht auf die wichtigsten Hindernisse auf dem Weg zu Führungspositionen ein – gläserne Decken und Wände, Geschlechtsstereotype, Männerbünde und informelle Netzwerke, Karrieremuster in Unternehmen und ungleiche Leistungszuschreibungen – und stellt aktuelle Ansätze zur Förderung von Chancengleichheit in Organisationen vor. Im Teil B geht die Autorin zunächst ausführlich auf Auswahl und Kontaktierung der Unternehmen und auf die von ihr verwendeten Methoden ein. Nach einer Kurzvorstellung der untersuchten Unternehmen – die nicht verfremdet und daher wieder erkennbar sind – stellt Brettschneider die Ergebnisse ihrer Forschung Thema für Thema und Unternehmen für Unternehmen entsprechend ihrer Forschungsannahmen vor. Es folgen Kapitel zur Interpretation und Bewertung der Ergebnisse, Handlungsempfehlungen für Unternehmen und eine Zusammenfassung der Ergebnisse. Der umfangreiche Anhang enthält Dokumente aus dem Forschungsprozess der Autorin – Anschreiben, Leitfaden, Kategoriensystem und Kodierleitfaden – und zeigt die ernsthafte Bemühung Brettschneiders um Transparenz.

Abschließende Bewertung

Brettschneiders Untersuchung ist wichtig für die Diskussion zur Unterrepräsentanz von Frauen in Führungspositionen, weil sie verstehen hilft, wie die große Diskrepanz zwischen den Beteuerungen der Wirtschaft, sich für die Chancengleichheit von Frauen einzusetzen, und der Wirklichkeit in den Unternehmen zustande kommt. Diese Diskrepanz mit den in den Organisationskulturen verankerten Werten zu begründen, zu denen Chancengleichheit (noch) nicht gehört, ist eine interessante Idee.

Allerdings bleibt die Studie eindimensional, da Brettschneider die Möglichkeit vergibt, zwischen den einzelnen Interviewaussagen in den Unternehmen zu differenzieren und interne Widersprüche herauszuarbeiten; auch die jeweiligen Organisationskulturen und ihr Einfluss auf die Antworten der Interviewpersonen werden nicht weiter thematisiert. Während Brettschneider im Literaturteil verdeutlicht, dass Organisationskulturen gerade auch im Selbstverständlichen und damit letztlich Ungesagten bestehen, wird hier nur das Gesagte (der Interviewpartner/-innen) interpretiert. Damit bleibt die Untersuchung auf dem Niveau der bewussten Äußerungen und Meinungen stehen. Organisationskultur ist nur ein Interviewthema unter vielen. Die in vielen Unternehmen vorhandenen eklatanten Gegensätze zwischen offiziellen Frauenförderpolitiken und informellen Hindernissen für Frauen werden nicht aufgedeckt. Letztlich hätten Fallstudien der elf Unternehmen – einschließlich einer Untersuchung der sichtbaren Artefakte wie Dokumente, Organigramme etc. – zu einer differenzierteren Darstellung von Organisationskulturen geführt als thematische Überblicke über die Interviewaussagen.

Eine gewisse Oberflächlichkeit bei der Behandlung des Themas bei gleichzeitiger Ambition, das Forschungsthema interdisziplinär und reflektiert anzugehen, ist bei der Lektüre des ganzen Bandes wahrzunehmen. Inhaltliche Wiederholungen, ungenaue und teilweise lückenhafte Darstellungen von Literaturinhalten, Ungenauigkeiten im Ausdruck, umgangssprachliche oder unpassende Wendungen sowie Kommafehler erschweren die Lektüre und machen es den Lesern/-innen nicht leicht, die guten Ideen der Autorin und das wirklich Neue dieser Studie wahrzunehmen und einzuschätzen.

URN urn:nbn:de:0114-qn0101113

Annette von Alemann

Universität Bielefeld, Fakultät für Soziologie

wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Bielefeld, Fakultät für Soziologie, Arbeitsbereich VIII: Gender.

Homepage: http://www.uni-bielefeld.de/soz/igss/students/studis/aalemann.htm

E-Mail: annette.alemann@uni-bielefeld.de

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