Heike Brabandt, Bettina Roß, Susanne Zwingel (Hg.):
Mehrheit am Rand?
Geschlechterverhältnisse, globale Ungleichheit und transnationale Handlungsansätze.
Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 2008.
265 Seiten, ISBN 978–3–531–15679–8, € 42,90
Abstract: Im vorliegenden Sammelband werden aktuelle Diskussionen zu den Themen Globalierung, Exklusion, Geschlechterverhältnisse und Ethnizität zusammengeführt. Vor allem noch wenig rezipierte postkoloniale Ansätze werden berücksichtigt. Das breite Spektrum an Themen und die Vielfalt an Ansätzen, die von empirischen Studien zur Makroökonomik über historische Analysen bis hin zu detaillierten Fallstudien reicht, überzeugt. Der Anspruch, zum Thema globale Ungleichheit Beiträge aus den zentralen sozialwissenschaftlichen Feldern sinnvoll zusammenzuführen, wird eingelöst.
Der aus einem Kongress der Deutschen Vereinigung für Politische Wissenschaft (DVPW) hervorgegangene Band dokumentiert aktuelle Diskussionen zu den Themen Globalisierung, Exklusion, Geschlechterverhältnisse und Ethnizität sowie deren Interdependenzen.
Es ist das Ziel der Herausgeberinnen, „erstmalig eine geschlechterkompetente Zusammenführung zentraler sozialwissenschaftlicher Felder – Makroökonomie, Arbeitsforschung, Internationale Beziehungen, Demokratie- und Postkolonialismusforschung“ (S. 13) vorzulegen und dabei einen Beitrag dazu zu leisten, Forschungslücken im Bereich makroökonomischer feministischer Analysen zu schließen, sowie die Analysekategorie Geschlecht im Zusammenhang mit anderen sozialen Kategorien anzuwenden. Postkoloniale und intersektionale Ansätze spielen dabei eine entscheidende Rolle.
In einem ersten Teil, „Geschlechterverhältnisse, Globalisierung, Sicherheit und internationale Ökonomie“, werden die neuesten Analysen zu Globalisierung und ihren Auswirkungen auf Geschlechterverhältnisse zusammengefasst. Dabei wird vor allem postkolonialen Ansätzen, die noch wenig Verbreitung gefunden haben, Raum gegeben. Im zweiten Teil, dem Thema der Geschlechterverhältnisse im Kontext von Arbeit und Migration gewidmet, werden neue Thesen zum Thema „Qualität von Arbeit“ vorgestellt, geschlechtersensible Perspektiven auf das Thema der sog. „Gastarbeiter/-innen“ und eine kritische Auseinandersetzung mit der Wertediskussion im Kontext der „Kopftuchdebatte“ geboten. Der Teil „(Trans)Nationale Handlungsansätze in einer globalisierten Welt“ präsentiert im Anschluss an eine grundlegende Analyse und Kritik von Konzepten, die ‚Transnationalität‘ zu fassen suchen, abschließend drei Beispiele nationaler und transnationaler Handlungsansätze.
Die Absicht der Herausgeberinnen ist es, die bisher kaum untersuchten Auswirkungen von Exklusionsmechanismen auf Geschlechterverhältnisse und Ethnizität zu thematisieren. Die Annahme, dass neoliberale Globalisierung zu einer Vergrößerung der Kluft zwischen Arm und Reich, zur Prekarisierung von Arbeitsverhältnissen und zum wirtschaftlichen und sozialen Ausschluss größerer Teile der Weltbevölkerung führt, zieht sich als Konsens durch fast alle Beiträge. In Bezug auf die Möglichkeiten von Widerstand und transformierenden Handlungsansätzen sind die Herangehensweisen sehr unterschiedlich. Dies ist u. a. den oben erwähnten unterschiedlichen Kontexten und Perspektiven der Beiträge geschuldet, die den Band spannend und facettenreich machen – im Folgenden werden einige der wichtigsten Aufsätze genauer vorgestellt.
Der erste Teil beginnt mit einer empirischen Studie von Margit Bussmann und Doreen Spörer. Ihr Beitrag „Globalisierung und Frauen. Eine Bestandsaufnahme in Industrie- und Transformationsländern“ ist der einzige, der die Auswirkungen von Globalisierungsprozessen fast durchweg positiv darstellt, und zwar als Prozess der „Weltmarktintegration“. Allerdings geben die Autorinnen zu, dass es Gewinner/-innen und Verlierer/-innen dieser Prozesse gibt.
Bussmann/Spörer konzentrieren sich auf die Analyse von ‚Industrie-‘ und ‚Transformationsländern‘, um sich von den generell üblichen Analysen zu ‚Industrie-‘ und ‚Entwicklungsländern‘ abzugrenzen, Die eingehende Berücksichtigung der oft vernachlässigten postkommunistischen Länder ist verdienstvoll. Dass allerdings damit die ökonomisch und sozial am meisten benachteiligten Länder nicht in den Blick genommen und somit die negativen Auswirkungen, die sich entsprechend neokolonialer Strukturen immer noch hauptsächlich in der ‚Zwei-Drittel-Welt‘ ergeben, ignoriert werden, muss kritisch angemerkt werden. Dadurch werden meines Erachtens die Aussagen zu den ‚unumstritten‘ positiven Auswirkungen neoliberaler Globalisierung relativiert.
Die Autorinnen räumen selbst ein, dass eine Ergänzung ihrer Ergebnisse um Analysen zur Qualität von Arbeit und um den Vergleich mit allgemeinen Entwicklungen notwendig ist. Auch, dass der Faktor der unbezahlten Arbeit in quantitative und qualitative Studien mit einbezogen wird, bleibt eine Forderung, der sie sich anschließen. Ihrem Fazit, dass „die feministische Ökonomie die Lebens- und Arbeitssituation der Frauen unter dem Einfluss der Globalisierung zu negativ bewertet“ (S. 46), ist auf Grund der genannten Schwächen nur bedingt zuzustimmen.
Die Beiträge aus postkolonialer Perspektive bieten eine gute Grundlage, um den Artikel von Bussmann/Spörer und besonders dessen Voraussetzungen und unkritischen Verwendungsweisen ‚westlicher‘ Konzepte sowie die Vernachlässigung der Perspektive der Menschen, die am meisten unter den Auswirkungen von Kolonialismus und Imperialismus zu leiden haben, zu kritisieren:
So untersucht Cornelia Fraune die implizit vorhandenen Zusammenhänge von Geschlechterverhältnissen mit Außenhandelstheorien, die sich gern ‚geschlechtsneutral‘ geben. Die feministische Kritik am in den Wirtschaftswissenschaften vorherrschenden neoklassischen Paradigma fasst die Autorin in drei Punkten zusammen: „1. Ausblendung der reproduktiven Sphäre; 2. Ausblendung von Macht- und Vereiltungsasymmetrie; 3. geschlechtsspezifische Strukturierung des formalen Arbeitsmarktes.“ (S. 54) Fraune argumentiert, dass diese Defizite geschlechtsspezifische Verzerrungen bei der Analyse von Märkten und Produktionsstrukturen mit sich bringen und daher selbst innerhalb der neoklassischen Logik problematisch seien.
Fraune verweist darauf, dass Frauen negativ von gesteigertem Außenhandel betroffen sind: In den ‚Industrieländern‘ sind sie überproportional im niedrig qualifizierten Erwerbssegment vertreten, das tendenziell an Bedeutung verliert; in ‚Entwicklungsländern‘ haben Frauen trotz steigender Erwerbsquote auf Grund ihres geringeren Reallohnes weniger Zugang zu Ressourcen als Männer und behalten so ihren untergeordneten Status. Sie kommt zu der Schlussfolgerung, dass die makroökonomischen Theorien einerseits Geschlechterverhältnisse implizit voraussetzen und beeinflussen, während sie sie gleichzeitig immer wieder ausblenden. Ökonomische Globalisierung wirke sich nicht positiv auf Geschlechtergerechtigkeit aus. Fraunes Forderung eines „Engendering“ von Außenhandelstheorien im Sinne einer Rekonstruktion, erweitert um Kategorien, die eine Einbeziehung geschlechtsspezifischer Auswirkungen erlauben“ (S. 66), geht allerdings m. E. angesichts ihrer eigenen Analyse nicht weit genug. Vielmehr wäre in Frage zu stellen, ob das vorherrschende neoklassische Paradigma überhaupt geeignet ist, Globalisierungsprozesse angemessen zu erfassen.
Die letzten drei Aufsätze des ersten Teils befassen sich mit Ethnizität, Migration und postkolonialen Ansätzen:
L. H. M. Ling zeigt in ihrem originellen Beitrag in postkolonial-feministischer Perspektive Verbindungen zwischen den Zentrum-Peripherie-Strukturen, die die Ungleichheitsverhältnisse auf der Erde abbilden, und kolonialen Auffassungen von ‚Rasse‘, Gender, Klasse, Sexualität und Nationalität. Der Westen stilisiere sich als Zentrum; gleichzeitig würden vom „kolonialen Patriarchat“ (S. 107) dabei Eigenschaften wie Macht, Autonomie oder Sicherheit als maskulin ausgegeben. Im Kontrast dazu würden die Menschen in der Peripherie ‚feminisiert‘, ‚exiliert‘, als Außenseiter/-innen dargestellt. Die Maskulinität der Kolonisatoren werde zu einer „Hyper-Maskulinität“, um die ‚zivilisierenden Missionen‘ in Übersee zu rechtfertigen. Neoliberale Politik sei auf diesem Hintergrund zu beurteilen.
Als Gegenstrategie schlägt Ling „Borderlands“ vor – in Abgrenzung zu „borders“ (Grenzen) ein Konzept, das – inspiriert vom Handeln auf der Seidenstraße im 7. Jahrhundert – auf Wertschätzung, kosmopolitischem Horizont und Subjektivitätskonzepten beruht, die durch Gegenseitigkeit charakterisiert sind. Aus einer postkolonialen Perspektive könne so versucht werden, den ‚Anderen‘, Subalternen, nicht nur Stimme und Präsenz (wieder) zu geben, sondern auch Handlungsfähigkeit.
In ihrem herausragenden Beitrag „Geschlecht und Migration im Wohlfahrtsstaat“ zeichnet Anja Weckwert die Entwicklung der Migration in der Bundesrepublik seit den 1950er Jahren nach und beleuchtet in historischer Perspektive das Verhältnis zwischen Geschlechter-, Migrations- und Wohlfahrtsregimen. Sie zeigt, dass diese Regime sowohl während der Anwerbephase von ‚Gastarbeiter/-innen‘ als auch heute sehr eng zusammenhängen, wenn sich auch Schwerpunkte verschoben haben. Strukturell wird die Arbeitskraft von Migrant/-innen heute als gegeben vorausgesetzt; trotzdem hat sich die Irregularität ihrer Beschäftigung verschärft. Das Konzept Soziale Rechte habe insgesamt an Bedeutung verloren, was die Verbesserung der Situation von Migrant/-innen noch schwieriger mache.
An Weckwerts Beitrag lässt sich vor allem mit dem Ansatz ‚globale soziale Rechte‘ anknüpfen, der zur Zeit in der Zusammenarbeit von migrantischen, gewerkschaftlichen und sozialen Bewegungen diskutiert wird.
Eine sehr grundsätzliche Kritik an feministischen Ansätzen und westlichen Konzepten von „Internationalität“ und „Globalität“ übt Inderpal Grewal, deren Beitrag den Auftakt für den dritten Teil „Transnationale Handlungsansätze in einer globalisierten Welt“ bildet. Sie spricht sich für das Konzept „Transnationalität“ aus und betont die internen Herrschaftsmechanismen, die auch innerhalb von emanzipatorischen Bewegungen immer wieder greifen. Die Analyse von Macht und „connectivity“ (Verbindungsfähigkeit/ Konnektivität) ist essentiell, um zu erforschen, warum zum Beispiel soziale Bewegungen mehr oder weniger Verbreitung finden. Fragen nach Macht und Einfluss in transnationalen Netzwerken erweisen sich hier als aufschlussreich. Um Herrschaftsverhältnisse und transnationale Praxen zu verstehen, sei es ein wichtiger Schritt, Kommunikation und Netzwerke daraufhin zu untersuchen, wie sie mit Differenzen in Kultur, Gender, Klasse, Sexualität, Ethnizität, Nation, Staat und Geopolitik umgehen.
Sehr anerkennenswert ist der übersichtliche Aufbau des Buches. Eine leichte Orientierung wird unter anderem durch die Einleitung und die Abstrakts zu den Artikeln gewährleistet.
Die Artikel des Sammelbandes bieten ein breites inhaltliches und methodisches Spektrum: Empirische Ergebnisse werden dargestellt, Überblick und Zusammenhänge thematisiert und es wird ins Detail von Handlungsmöglichkeiten gegangen. Die m.E. zentralen sozialwissenschaftliche Diskussionsfelder werden aufgegriffen, wenn auch nicht alle in ihrer Tiefe ausgelotet. Angesichts der Forschungslage ist es aber m.E. gerechtfertigt, das Gewicht auf die wenig rezipierten postkolonialen Ansätze und auf die Verschränkung von Herrschaftsmechanismen, z.B. in den Feldern Migration und Arbeit, zu legen.
Eine Fortsetzung der Diskussion, die unter postkolonialer Perspektive auch die Konsequenzen, Widersprüche und Grenzen für Handlungsansätze sozialer Bewegungen oder von Solidaritätsinitiativen in den ‚Industrieländern‘ thematisiert, um eine wirklich transnationale Perspektive einzulösen und Handlungsmöglichkeiten zu erweitern, wäre äußerst wünschenswert und fruchtbar für die Weiterentwicklung und Sensibilisierung emanzipatorischer Praxen.
URN urn:nbn:de:0114-qn0101271
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