Marita Krauss (Hg.):
Sie waren dabei.
Mitläuferinnen, Nutznießerinnen, Täterinnen im Nationalsozialismus.
Göttingen: Wallstein Verlag 2008.
264 Seiten, ISBN 978–3–8353–0314–0, € 20,00
Abstract: Die Beteiligung von Frauen am nationalsozialistischen Unrecht ist spätestens seit der Debatte um den Begriff der Mittäterschaft, der Mitte der 1980er Jahre von Christina Thürmer-Rohr in den feministischen Diskurs eingebracht wurde, ein wichtiges Thema der Frauen- und Geschlechterforschung. War zuvor die Täterschaft von Frauen allenfalls am Rande betrachtet worden, quasi als Ausnahmeerscheinung und Abweichung vom ‚Normalfall‘, entwickelte sich seitdem eine sich immer weiter ausdifferenzierende, geschlechtertheoretisch fundierte Erforschung der Lebensbereiche nichtverfolgter deutscher Frauen im Nationalsozialismus. Darauf aufbauend werden hier Einzelstudien vorgelegt, in denen verschiedene Lebensbereiche von Frauen im Nationalsozialismus in den Blick genommen und die Reaktionen auf die (Mit-)Täterinnen in der Nachkriegszeit analysiert werden.
Der Sammelband Sie waren dabei enthält die Beiträge zur achten Tagung im Rahmen der „Dachauer Symposien zur Zeitgeschichte“, die im Oktober 2007 von der Historikerin Marita Krauss organisiert und durchgeführt wurde. Krauss ist auch Herausgeberin des Sammelbandes und erläutert in ihrem einleitenden Beitrag vor allem die Bedeutung der Frage nach der aktiven Teilhabe von Frauen am NS-System. Nicht die Frauen aus dem Widerstand oder Frauen, die aufgrund der rassistischen und antisemitischen NS-Politik verfolgt wurden, stehen im Zentrum, sondern nichtverfolgte deutsche Frauen, die in das NS-Herrschaftssystem integriert waren und von ihm profitierten.
In dem Sammelband soll die Täterinnen-Opfer-Debatte, die in den 1980er Jahren im Zentrum des feministischen Diskurses zu Frauen im Nationalsozialismus stand und seit den 1990er Jahren immer mehr an Deutungskraft verloren hat, nicht neu aufgenommen werden. Im Vordergrund steht stattdessen die Analyse verschiedener Ebenen, auf denen nichtverfolgte deutsche Frauen dem NS-Staat dienten, ihn stützten und seine Ideologie mittrugen, ebenso wie die Untersuchung der Situation dieser Frauen nach dem Ende des Nationalsozialismus. Krauss entwickelt daraus Leitfragen nach den Karrieremöglichkeiten für Frauen im NS-System, nach Handlungsspielräumen, politischen Aktivitäten und ideologischen Überzeugungen. Besonders betont wird die Tatsache, dass die Aussagen über die Beteiligung von Frauen an NS-Unrecht zumeist aus überlieferten Akten stammen und damit selbst schon von bestimmten Gendermodellen geprägt sind, die den Forscher/-innenblick vorstrukturieren.
Von Bedeutung für viele Beiträge des Sammelbandes ist eine regionalgeschichtliche Mikroperspektive. Dabei geht es vor allem um den alltäglichen Beitrag von Frauen zum NS-System, etwa als Fürsorgerinnen, Hebammen etc. Krauss verweist darauf, dass die Zuschreibung von Eigenschaften wie Dienstbereitschaft und Loyalität an Frauen nicht erst im Nationalsozialismus entstanden war, sondern vor dem Nationalsozialismus ihre Anfänge hatte und auch nach dem Nationalsozialismus weiter wirkte. Die Identifikation mit dieser Zuschreibung interpretiert Krauss als eine Strategie von Frauen, an Macht zu partizipieren. Hier habe der Nationalsozialismus Angebote gemacht, die Frauen zwar nicht als gleichberechtigt, aber doch als gleichwertig für die NS-Gesellschaft zeigten. Gerade diese Frage der „Inklusion und Exklusion“ (S. 14) in die Volksgemeinschaft sieht Krauss als zentral für das Verständnis der (Mit-)Täterschaft von Frauen: ‚Minderwertige‘ mussten aus der Volksgemeinschaft ausgeschlossen werden, um darüber die eigene Höherwertigkeit zu definieren, die eine Zugehörigkeit zur Volksgemeinschaft und damit eine Aufwertung mit sich brachte.
Im ersten Kapitel des Sammelbandes wird mit dem Thema der Mutterschaft ein Lebensbereich von Frauen im Nationalsozialismus angesprochen, der in der NS-Ideologie eine bedeutende Stellung einnahm und auch nach 1945 in der Auseinandersetzung mit der Zeit des Nationalsozialismus immer wieder als besonders wichtig herausgestellt wurde. Gudrun Brockhaus analysiert aus sozialpsychologischer Sicht die NS-Erziehungsratgeber Johanna Haarers, in denen die rassenpolitischen Ziele des NS-Systems als grundlegende Bestandteile der Kindererziehung erscheinen: ‚charakterliche Mängel‘ des Nachwuchses werden als Versagen und als Schwäche der Mütter interpretiert. Die Rezeption dieser Ratgeber nach 1945 war, so Brockhaus, von Empörung über den NS-Erziehungsstil geprägt. Ignoriert wurde dabei, dass viele der Auffassungen Haarers nach wie vor Bestandteil der Kindererziehung waren und sind. Brockhaus vermeidet diesen „Gestus moralischer Empörung“ (S. 26) und kann so zeigen, dass Haarers Ratgeber ‚Familie‘ als Macht- und Gestaltungsbereich der Frau etablieren und darüber die Frau als ‚deutsche Mutter‘ aufgewertet, zugleich aber mit Versagensängsten und den sich daraus ergebenden Demütigung belastet wird.
Wiebke Lisner befasst sich mit den „Müttern der Mütter“ – den Hebammen und ihrer Rolle im Nationalsozialismus. Der Beruf der Hebamme professionalisierte sich im Nationalsozialismus zunehmend und erfuhr damit eine Aufwertung. Dies war verbunden mit einer Nutzbarmachung der Sonderstellung der Hebammen im Bereich der Gesundheitspflege und ermöglichte den Eingriff des Staates in den privaten Bereich. Durch eine Analyse regionalgeschichtlicher Beispiele zeigt Lisner, wie Hebammen an der Umsetzung der rassistischen NS-Gesundheitspolitik mitwirkten und welche Handlungsräume sie hatten. Der intensive Einblick in die Privatsphäre von Frauen habe Hebammen eine Machtposition verliehen, die in der einen oder anderen Weise genutzt wurde.
Um die Teilhabe von Frauen an machtvollen Positionen geht es auch in dem Beitrag von Katrin Himmler. Der Nationalsozialismus sei nicht lediglich eine Männergesellschaft gewesen, sondern konnte nur funktionieren, weil Männer und Frauen als Ensemble agierten. Insbesondere die Ehe wird von Katrin Himmler in diesem Zusammenhang hervorgehoben. Sie zeigt exemplarisch an einigen Lebensläufen, dass die SS-Ämter als ‚Heiratsmarkt‘ dienten, die NS-Ideologie sinnstiftend für viele Beziehungen war und das Bewusstsein schaffen sollte, zur Elite zu gehören. Auch nach Kriegsende bestanden NS-Ideologie, Antisemitismus und Rassismus weitgehend ungebrochen fort und wurden paradox mit einer Selbstwahrnehmung als Opfer verknüpft.
Im Mittelpunkt des zweiten Kapitels stehen die verschiedenen Frauenorganisationen des NS-Systems. Elizabeth Harvey befasst sich mit Frauen der NS-Frauenschaft, die ab dem Frühjahr 1941 für den „Reichsgau Wartheland“ rekrutiert wurden und dort umgesiedelte ‚Volksdeutsche‘ auf dem Land betreuen sollten. Sie zeigt, dass die Germanisierungspolitik in den besetzten Gebieten durch bestimmte Geschlechterrollenkonstruktionen bestimmt war, wenn z. B. Frauen die Aufgaben in pflegerischen, erzieherischen und häuslichen Bereichen zugewiesen wurden. Dennoch war die Arbeit, die Frauen dort verrichteten, umfassender. Frauen genossen in den besetzten Gebieten einen aufgewerteten Status, aus dem sich auch neue Handlungsräume entwickelten, die zuweilen auch eine Überschreitung der traditionellen Geschlechterrollen zuließen.
Christiane Berger befasst sich mit der Reichsfrauenführerin Gertrud Scholtz-Klink, deren machtpolitischer Einfluss auch als ranghöchste Frau im NS-System eng begrenzt gewesen sei und die ihr Amt nur durch die Unterstützung einflussreicher Männer bis zum Ende des Nationalsozialismus halten konnte. Berger sieht die Aufgabe Scholtz-Klinks weniger in einer Formulierung eigener politischer und ideologischer Ziele als vielmehr in der Zusammenführung der Frauenorganisationen und in der Integration der Frauen in die nationalsozialistische Gesellschaft und der damit verbundenen Stabilisierung des NS-Systems.
Im dritten Kapitel des Sammelbandes werden verschiedene Bereiche analysiert, in denen Frauen zu (Mit-)Täterinnen wurden. Christoph Thonfeld befasst sich mit dem Thema Frauen und Denunziation und stellt einleitend fest, dass es sich bei Denunziation nicht, wie immer wieder und unter Rückgriff auf bestimmte Geschlechterklischees angenommen, um einen typisch ‚weiblichen‘ Bereich der Täterschaft handelt. Aus einer geschlechterhistorischen Perspektive zeigt er die soziale Entstehungsdynamik von Denunziation und verweist damit auf Denunziation als kollektiven Akt, zu dessen Analyse auch Kategorien wie etwa Generation, soziale Schichtung etc. herangezogen werden müssen. Thonfeld weist nach, dass auch die Ahndung von Denunziationen in der Nachkriegszeit von geschlechterspezifischen Zuschreibungen strukturiert war.
Elisabeth Kohlhaas betrachtet in ihrem Beitrag weibliche Angestellte der Gestapo, die im Bereich der Verwaltung nicht nur von den NS-Verbrechen wussten, sondern auch an deren Durchführung beteiligt waren. Sie resümiert, dass diese Frauen, denen nach 1945 zumeist jegliche Mittäterschaft abgesprochen wurde, Handlungsräume besaßen und diese im Sinne einer Radikalisierung des NS-Systems nutzten, wie etwa im Fall von Gertrud Slottke, die als Sachbearbeiterin im Judenreferat in den Niederlanden arbeitete. Slottke war im Rahmen ihrer Tätigkeit, die vor allem die Zurückstellung von Deportationen aus den Niederlanden in die Konzentrations- und Vernichtungslager beinhaltete, mit vielfältigen Ermessensspielräumen ausgestattet, die sie konsequent gegen die jüdischen Verfolgten ausnutzte.
Simone Erpel untersucht die Motivation von Frauen, eine Arbeit als KZ-Aufseherin anzunehmen. Die Beantwortung dieser Frage ist, laut Erpel, jedoch problematisch, da die zur Verfügung stehenden Quellen zumeist Prozessakten seien, die vor dem Hintergrund der Verteidigungsstrategien der Frauen interpretiert werden müssten. Erpel untersucht stattdessen die Selbstdarstellung einer ehemaligen KZ-Aufseherin, die nicht in diesem Kontext entstanden ist. Aber auch hier bleiben die Motive für die Entscheidung, als KZ-Aufseherin zu arbeiten, eher im Hintergrund bzw. werden auf die Themen Gehalt, Verpflegung und Kameradschaft reduziert. Die Selbstdarstellung als passiv, unwissend und damit als nicht verantwortlich steht im Zentrum der Aussagen.
Im abschließenden vierten Kapitel geht es vor allem um die Täterschaft von Frauen und die Ahndung der von Frauen verübten Verbrechen durch die Nachkriegsjustiz. Claudia Kuretsidis-Haider gibt einen statistischen Überblick über Prozesse in der Nachkriegszeit in Österreich, der BRD und der SBZ bzw. DDR. Mit Hilfe von Genderkategorien unternimmt sie den Versuch einer Typisierung der angeklagten Frauen und zeigt, dass Frauen zumeist milder bestraft wurden als männliche Angeklagte, mit Ausnahme der Frauen, deren Taten als außerhalb ihrer Geschlechtsrolle interpretiert wurden, z. B. wenn die Anwendung von Gewalt oder die Tötung Schutzbefohlener nachgewiesen werden konnte.
Lavern Wolfram befasst sich mit Margot Pietzner, die als ehemalige KZ-Aufseherin in der SBZ verurteilt, nach dem Mauerfall dann als politischer Häftling des Stalinismus anerkannt worden war und eine hohe Entschädigung erhalten hatte. Erst der öffentliche Druck von Opferinitiativen, so zeigt Wolfram, hatte schließlich zur Wiederaufhebung des Anerkennungsbescheides geführt. Margot Pietzner konnte in ihrer Opferrolle verharren. Ihr Handeln während der NS-Zeit musste sie nicht hinterfragen.
Obwohl der Sammelband von Marita Krauss keine gänzlich neuen Einsichten in das Forschungsfeld zur Rolle von Frauen im Nationalsozialismus bietet, so stellt er dennoch eine interessante und wichtige Ergänzung zur bisherigen Forschung zur Rolle von Frauen im Nationalsozialismus dar. Die Stärke des Sammelbandes liegt darin, dass sich die Beiträge nicht nur mit der Zeit des Nationalsozialismus befassen, sondern Kontinuitäten und Brüche nach 1945 in den Blick nehmen.
URN urn:nbn:de:0114-qn0101192
Christina Herkommer
Berlin/Freie Universität Berlin/Institut für Soziologie
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