Sandra Witte:
Zouber.
Magiepraxis und die geschlechtsspezifische Darstellung magiekundiger Figuren in der höfischen Epik des 12. und 13. Jahrhunderts.
Hamburg: Verlag Dr. Kovač 2007.
401 Seiten, ISBN 978–3–8300–3100–0, € 88,00
Abstract: Die Freiburger Dissertation widmet sich dem Faszinosum Magie am Beispiel der höfischen Literatur des 12. und 13. Jahrhunderts. Im Zentrum steht die deskriptive Analyse von Magiedarstellungen auf der Handlungsebene fiktionaler Texte, wobei ein besonderes Augenmerk auf Geschlechterdifferenzen magiekundiger Figuren liegt. Vorab werden mögliche Schnittflächen zu zeitgenössischen Diskursen in den Bereichen Religion, Wissenschaft und Heilkunde konturiert und diese um Skizzen zu ausgewählten nichtfiktionalen Quellen ergänzt. Leider verschenkt die mediävistische Studie durch ihren überwiegend nacherzählenden Duktus das in der Magie-Thematik inhärente gender-theoretische und kulturwissenschaftliche Potential.
Eros = Magie, mit dieser Formel hat Ioan P. Culianu wohl die brisanteste Facette magischer Faszinationsmöglichkeiten erfasst (vgl. Culianu, Ioan P.: Eros und Magie in der Renaissance. [dt.] Frankfurt am Main u. a. 2001). Geht es doch in magischen Praktiken und deren literarischer Inszenierung meist um nicht weniger als ein Begehren nach unerreichbaren Personen, exotischen Dingen oder tabuisierten Wissens- und Machtkonfigurationen. Etwas unbegreiflich Ersehntes wird dabei so überformt und entgrenzt, dass daraus imaginäre Strukturen eines Ichs oder eines Kollektivs entstehen, die nach einer Medialisierung in Artefakten, Bildern, Texten oder kulturellen Praktiken streben. Mit diesem Phänomen setzt sich auch Sandra Witte in ihrer mediävistischen Dissertation auseinander, indem sie Formen der Fiktionalisierung des Magischen untersucht. In ihrer Konzentration auf die höfische Literatur des 12. und 13. Jahrhunderts knüpft die Studie an zahlreiche Aufsätze und Monographien an, die bereits werkspezifische Funktionalisierungen von Magie, magischen Figuren, Praktiken und Vorstellungen herausgearbeitet haben. Das Potential von Wittes Dissertation liegt demgegenüber in einer abstrahierenden Synopse und in der Zuspitzung dieser Ergebnisse auf gendertheoretische Fragestellungen. Beide Erwartungen werden durch den Titel des Buches evoziert, aber mit den Analysen nicht eingelöst.
Im Rückgriff auf Handbuchartikel (Enzyklopädie des Märchens, Lexikon des Mittelalters, Theologische Realenzyklopädie) und monographische Überblicksdarstellungen (vgl. exemplarisch Tuzcay, Christa: Magie und Magier im Mittelalter. München 22003) konturiert die Autorin zunächst Aspekte der Begriffsgeschichte und der antiken Präfiguration mittelalterlicher Magievorstellungen, um im nächsten Schritt die virulenten Schnittflächen fiktionaler Magiedarstellungen mit zeitgenössischen nichtfiktionalen Diskursen aufzuzeigen. Für die Bereiche Religion, Wissenschaft und Heilkunde skizziert Witte, wie Amalgamierungsprozesse zwischen zumeist hierarchisch und normativ voneinander abgesetzten Wissens- und Tätigkeitsfeldern stattfinden und dabei Dichotomien – etwa christliches Wunder vs. heidnische Magie, artes-System vs. ‚verbotene Künste‘ (artes magicae) oder Medizin vs. Heilungszauber – durchkreuzt werden. Die Labilität vermeintlich scharfer Grenzziehungen zwischen kulturell zu sanktionierenden oder zu diffamierenden magischen Praktiken zeigt sich immer dann, wenn der institutionelle oder diskursspezifische Einfluss einzelner Persönlichkeiten (z. B. Papst Silvester II., Roger Bacon, Albertus Magnus) unter Magieverdacht gerät (vgl. S. 25, 31).
Im nächsten Abschnitt (S. 49–81) ihrer Untersuchung filtert Witte aus konkreten nichtfiktionalen Quellen Vergleichsmaterial heraus, das der zeitgenössischen Kontextualisierung ihrer nachfolgenden literarhistorischen Analyse dienen soll. Die Verschränkung magischen Wissens mit anderen Diskursformationen weist Witte dabei in schriftlich fixierten Kleinstformen wie Beschwörungsformeln, Zaubersprüchen und Segen bzw. im Bereich der magischen Fach- und Gebrauchsliteratur ebenso nach wie in Konstellationen der Strafverfolgung bzw. Buß- und Predigtpraxis. Im letzteren Bereichen zeigt sich die prekäre Amalgamierung des magischen Wissens mit religiösen Normierungsbedürfnissen in besonders eklatanter Weise: Aufgrund des klerikalen Schriftmonopols wird das tabuisierte magische Wissen im Zuge seiner Diffamierung schriftlich fixiert und somit zuallererst verfügbar und traditionsfähig gemacht.
Im eigentlichen Zentrum von Wittes Dissertation steht die deskriptive Analyse von Magiedarstellungen in zwölf Werken der höfischen Literatur. Das untersuchte Gattungsspektrum reicht vom Antikenroman über die klassischen und so genannten nachklassischen Artusromane bis zum Tristan- und Parzival-Stoff und impliziert darüber hinaus Exkurse zum Nibelungenlied und dem Wartburgkrieg-Komplex. Wolframs von Eschenbach Parzival und Gottfrieds von Straßburg Tristan wird bei den Analysen eine Initialstellung eingeräumt (vgl. S. 91–170), während alle weiteren Werke nach magiekundigen Figuren durchmustert werden, denen je nach Komplexität des Figurenprofils kurze Analysen mit einem Umfang von einer bis ca. 15 Seiten gewidmet sind, die wiederum gemäß der Dichtotomie Frau-Mann in zwei Großabschnitten gruppiert werden (vgl. S. 171–230; 239–290). Dazwischen geschaltet ist ein Exkurs, in dem der potentielle Einfluss antiker Texte (Vergil, Lukan, Ovid) auf die Feendarstellungen Hartmanns diskutiert wird . Beendet wird der Analyseteil mit einem Exkurs zum Nibelungenlied, wobei das Prinzip der figurenbezogenen Analyse punktuell zugunsten systematischer bzw. textspezifischer Aspekte (Divination, Bahrprobe) durchbrochen wird. Die von Witte ausgebreitete Materialfülle erschwert eine ins Detail gehende Besprechung der Arbeit. Ein Werk- und Namenregister sowie ein Sachregister erleichtern jedoch den selektiven Zugriff auf das untersuchte Material sowie die Erkenntnisse der Studie.
Eine besondere, aber nicht abstrahierende oder systematisch ausgelotete Perspektive entfaltet Wittes Textanalyse an den Punkten, wo Magie unabhängig von Figurenprofilen als ästhetisches Problem aufscheint. Zu diskutieren wäre in diesem Zusammenhang, ob mittelalterliche Autoren ähnlich wie die Gelehrten der magia naturalis und medicina magica über ein gleichsam arkanes Wissen verfügten, das sie jedoch nicht nur zur zweckorientierten Weltbewältigung (z. B. Heilung) einsetzten, sondern bei der ästhetischen Stilisierung von Artefakten, Architekturen, Maschinen, Objekten und Kreaturen ins Spiel brachten. So gestaltet Gottfried von Straßburg das Hündchen Petitcreiu mit dem sprechenden Namen ‚kleine Kreatur‘ als ein ‚faszinierendes Ding‘, das zwischen Natur und Künstlichkeit oszilliert. Es wird den Rezipienten als ein lebendiger Hund vor Augen gestellt, der jedoch ohne Nahrung auskommt und weder bellt noch sich anderweitig artgerecht verhält. Die irrationale Konstitution des Hündchens wird von Gottfried ästhetisch forciert, indem sich sein Fell als irisierende Farboberfläche einer differenzierenden Wahrnehmung entzieht. Zugleich werden die Betrachtenden durch die Akustik eines magischen Glöckchens emotional so transformiert, dass in ihnen keine negativen Gefühle mehr zum Tragen kommen. Wie der Protagonist Tristan werden die Rezipienten von Petitcreiu durch Gottfrieds phantasmatische Gestaltung ‚verzaubert‘, gerade weil sie sich eindeutiger Kausalität und rationalen Sinnzuschreibungen entzieht. Vor diesem Horizont scheint literarischer und magischer Produktivität gleichermaßen ein kreatives wie subversives Potential inhärent zu sein. Auch dies reflektiert Gottfried, wenn er sich in seinem elaborierten Literaturexkurs von denjenigen Dichterkollegen abgrenzt, deren ästhetische Kompetenz lediglich auf swarzen buochen (V.4690) basiert. Die Hypertrophie des Magischen im Artifiziellen, die sich auch in Wittes Argumentation zum nachklassischen Artusroman andeutet (vgl. S. 345 ff.), wäre mit Gottfried hinsichtlich gattungspoetischer und ästhetischer Implikationen in weiterführenden Studien systematisch zu erschließen (Ansätze finden sich bei Linden, Sandra: Clinschor und Gansguoter. Zwei Romanfiguren im Spannungsfeld von Gelehrsamkeit und Magie. In: Literaturwissenschaftliches Jahrbuch der Görres-Gesellschaft 48 [2008], S. 9–32).
Das Hauptdesiderat von Wittes Arbeit liegt in der fehlenden gendertheoretischen Fundierung ihrer Analysen. Eine bloße Differenzierung in magiekundige Frauen und Männer – präziser wäre von weiblichen und männlichen Figuren die Rede – fällt weit hinter den fachspezifischen wie interdisziplinären Forschungsstand zurück. Dennoch können einige Ergebnisse der Arbeit gewürdigt werden: Witte bestätigt die Grundannahme, dass in mittelalterlichen Texten gender-Distinktionen auf die soziale Verortung magiekundiger Figuren zielen. Die ästhetische Stilisierung ihrer Körper (hässlich, monströs, schön, stigmatisiert), der Erwerb und das Spektrum magischer Kompetenzen (angeboren vs. erlernt, Heilkunde vs. Herrschaft/Technik/Wissenschaft), ihre Identitätskonstitution (verwandt vs. fremd/andersweltlich, Fee vs. Teufelsbündler, Helferin vs. Usurpator) sowie konkrete Figuren-Polaritäten (Cundrie-Clinschor) verweisen dabei auf ein Spannungsverhältnis von sozialer Inklusion und Exklusion, das jedoch nicht als stabile Geschlechterdichotomie missverstanden werden darf. Zurückhaltung ist ebenfalls gegenüber psychologisierenden Tendenzen geboten, wenn Witte in die magiekundigen Figuren reale Ängste vor weiblicher Macht oder männlichem Omnipotenzdrang hineinprojiziert sieht (vgl. S. 325, 340–345).
Wie bei vielen Dissertationen, in denen unter einem spezifischen Blickwinkel ein zu umfangreiches Textkorpus behandelt wird, mangelt es auch dieser Arbeit über weite Strecken an Tiefenschärfe in der Argumentation und an methodischer Brisanz. Ein Referat von Handbuchartikeln und Standardwerken zur Magie im Mittelalter und eine weitgehend deskriptive Bestandsaufnahme von nichtfiktionalen und literarischen Spielarten des Magischen, wie sie mit der Arbeit von Witte vorliegen, können bestenfalls als Materialfundus für weiterführende Studien produktiv gemacht werden.
URN urn:nbn:de:0114-qn0101266
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