Geschlechterkonstellationen in Lou Andreas-Salomés literarischem Werk der Jahrhundertwende

Rezension von Romana Weiershausen

Katrin Schütz:

Geschlechterentwürfe im literarischen Werk von Lou Andreas-Salomé unter Berücksichtigung ihrer Geschlechtertheorie.

Würzburg: Verlag Königshausen & Neumann 2008.

348 Seiten, ISBN 978–3–8260–3732–0, € 48,00

Abstract: Katrin Schütz hat eine Studie zu Geschlechterkonzeptionen in Lou Andreas-Salomés Frühwerk vorgelegt, in der auch die bislang wenig berücksichtigten literarischen Texte der Autorin ausgewertet werden. Die Anlage zielt auf eine Überblicksdarstellung, hinter der die differenzierende Reflexion der einzelnen Thesen zurück steht: Schütz geht es um die Konturierung einer Typologie. Durch die erweiterte Textgrundlage wird dabei Neues erschlossen, woraus sich anregende Impulse für die Jahrhundertwende-Forschung ergeben.

Lou Andreas-Salomés Werk zeichnet sich gerade in geschlechtertheoretischer Hinsicht durch eine Ambivalenz aus, die die Forschung nachhaltig beschäftigt. Einen weiteren Beitrag hat nun Katrin Schütz mit ihrer Studie Geschlechterentwürfe im literarischen Werk vorgelegt, die 2006 an der Universität Freiburg als Dissertation angenommen wurde. Mit der Geschlechterthematik geht Schütz einem zentralen Aspekt von Andreas-Salomés Œuvre nach, zu dem bereits zahlreiche Arbeiten vorliegen, nicht aber eine Überblicksdarstellung zum gesamten literarischen Werk der ersten Phase. Untersucht werden die zwischen 1885 und 1905 entstandenen Romane und Novellen Im Kampf um Gott (1885), Ruth (1895), Aus fremder Seele. Eine Spätherbstgeschichte (1896), Amor (1897), Eine Ausschweifung (1897), Fenitschka (1898), Ma (1901), Der heimliche Weg: Drei Scenen aus einem Ehedrama (1901), die Novellenbände Menschenkinder (1899) und Im Zwischenland: Fünf Geschichten aus dem Seelenleben halbwüchsiger Mädchen (1902) sowie die erst später veröffentlichten, aber ebenfalls um 1900 geschriebenen Werke Ródinka (um 1903) und Das Haus (1904-05). Ergänzt wird das Textkorpus um einige Gedichte. Bei den theoretischen Schriften zur Geschlechterdifferenz konzentriert sich Schütz bewusst (vgl. z. B. S. 13) auf den Essay Der Mensch als Weib (1899). Hier wäre eine Ausweitung sinnvoll gewesen, speziell weil Andreas-Salomés Geschlechterkonzepte auch im theoretischen Werk (vgl. S. 25) nachgezeichnet werden sollen und untersucht werden soll, „inwieweit sich die Entwürfe in der Theorie und in der Literatur gleichen oder unterscheiden, ob und wie sich die Theorien in der Figurenpsychologie widerspiegeln und welche Typologie der Geschlechter sich daraus ergibt“ (S. 301).

Entscheidung für die Jahrhundertwende

Das in die Betrachtung einbezogene literarische Textkorpus ist dagegen umfangreich und – insbesondere wegen des Anliegens, die Texte im kulturellen Horizont der Zeit zu verorten, – auch sinnvoll auf den Kontext der Jahrhundertwende begrenzt. Die werktypologische Argumentation allerdings überzeugt nicht ganz, impliziert sie doch Vorannahmen, die die Komplexität von Andreas-Salomés Werk vorschnell verengen: „Die gesamte nach 1911 datierte Literatur ist explizit psychoanalytisch-pädagogischen und seelisch-lehrhaften Inhalts und wurde in der vorliegenden Arbeit nicht in das behandelte literarische Werk aufgenommen. Dieses soll als literarische Einheit Salomés ‚vorfreudianischer Zeit‘ behandelt und die in ihm auftretenden Geschlechterentwürfe unter dem Gesichtspunkt der Eigenproduktion untersucht werden.“ (S. 17) Die Vorstellung einer „Eigenproduktion“, die es vor der Beschäftigung mit Freuds Psychoanalyse sehr wohl, danach aber nicht mehr gegeben habe, ist mitunter unglücklich. Sie marginalisiert zum einen die Einflüsse, die vor Freud bestehen (hier insbesondere Nietzsches Lebensphilosophie), und negiert zum anderen die innovative Leistung, die in Lou Andreas-Salomés produktiver Rezeption dieser theoretischen Entwürfe besteht und die die Autorin auch in ihrer Auseinandersetzung mit der Freudschen Psychoanalyse beweist. Zudem lassen sich durchaus Verbindungen vom späten literarischen Schaffen zum Frühwerk ziehen, was sich auch in einer Selbstaussage der Autorin zum Jahr 1933 ausdrückt: „Selten hab ich so oft geschrieben wie in diesem Jahr – nach etwa 20 Jahren mir verbotenen Schreibens wegen der psychoanalytischen Tätigkeit, deren Konzentration das stört. […] Alte Stoffe alles, als hätten sie wegen meines Schweigegelübdes geduldig geruht und in sich gesammelt, was damals noch erst unterwegs zu mir war“ (Eintragungen. Letzte Jahre, hg. v. Ernst Pfeiffer, 2. Aufl. Frankfurt am Main 1986, S. 12).

Tücken und Chancen der Gesamtschau

Was einer klareren Gliederung des Werks durchaus dienlich ist, bedeutet gleichzeitig eine Einschränkung möglicher Ergebnisse. In anderer Hinsicht ist die Studie jedoch auf eine besondere Breite hin angelegt: in den einleitenden Kapiteln, die sich um einen Überblick bemühen, und zwar zunächst über Andreas-Salomés Schreiben, dann über den zeitgenössischen Geschlechterdiskurs, und in den Hauptkapiteln, in denen (jeweils im Querschnitt der verschiedenen Texte) eine Typologie der Geschlechterrollen in den Erzähltexten und Gedichten der ersten Schaffensperiode entwickelt wird. Die Entscheidung für den direkt vergleichenden Zugriff auf die Texte (statt aufeinander folgender Einzelanalysen) ist sicherlich das anspruchsvollere Vorgehen. Allerdings macht es die Lektüre gelegentlich unübersichtlich, was durch Gliederungen bis in z. T. drei oder vier Unterpunkte hinein verstärkt wird. Wer sich davon nicht beirren lässt, dem öffnet sich eine Fundgrube anregender Beobachtungen: Die Vielfalt und der Umfang des von Schütz gesichteten literarischen Materials ist beeindruckend. Von dieser Lektüreleistung wird die Forschung zu Lou Andreas-Salomé zweifellos profitieren, da sie weitere Querverbindungen im Werk offen legt. Dabei geht es mehr um Weiblichkeitskonzepte als um Geschlechterentwürfe im Allgemeinen: Männliche Figuren werden lediglich in ihrer kontrastiven Funktion (etwa – in strukturalistischer Terminologie – als „Schädiger“, „positiver Führer“ und „Helfer“, S. 91) behandelt. Diese Schwerpunktsetzung ist unbedingt plausibel: aufgrund von Andreas-Salomés programmatischer Bezugnahme gerade auf das Wesen ‚der Frau‘, deren zeitgenössisch geschlechterstereotype Charakterisierung sie einerseits mitmacht, während sie dieselbe andererseits durch ein eigenwilliges und selbstbewusstes Konzept überschreibt. Man mag in einzelnen Einschätzungen, vor allem in der tendenziellen Oppositionsbildung zwischen dem Essay Der Mensch als Weib und den literarischen Texten zu anderen Schlüssen kommen (hierin ist sich die Forschung immerhin durchaus uneins) – was Schütz in jedem Fall zugute zu halten ist, ist, dass sie sich in der leidigen Frage, ob das Schaffen der Autorin nun als „konservativ oder progressiv“ (S. 305) einzuordnen ist, einer eindeutigen Zuweisung zugunsten der Ambivalenz enthält.

Fazit

Angesichts der Komplexität des Gegenstands und der besonderen Materialfülle ist verständlich, dass das Disparate auf einer anderen Ebene wiederum fokussiert und handhabbar gemacht wird. Eine gewissermaßen selektive Perspektive spiegelt sich in der Interpretation, die stärker der klaren Linie als der differenzierenden Vertiefung verpflichtet ist, und zugleich im Umgang mit der Forschungsliteratur: Letztere wird eher im Überblick rezipiert, wohingegen bereits erarbeitete Ergebnisse (z. B. zu den geschlechtertheoretischen Grundlagen und zu Vergleichen mit anderen zeitgenössischen Konzepten, beispielsweise von Georg Simmel) und bestehende Forschungskontroversen zu wenig in die textanalytischen Kapitel und die Entwicklung der Thesen hineingetragen werden. Ein über die derzeitig vorliegende Forschung zu den einzelnen Aspekten (Geschlechterdiskurs um 1900, Detailanalysen zum essayistischen und zum literarischen Werk von Lou Andreas-Salomé) hinausweisender Erkenntnisstand ist so kaum zu erzielen. Das Verdienst der Arbeit liegt in einem anderen Bereich: Sie bezieht bislang nicht oder wenig beachtete literarische Texte der Autorin (z. B. den Erstlingsroman, neuerdings im Deutschen Taschenbuch-Verlag wieder erhältlich, oder Gedichte, die weniger ästhetisch, dafür aber konzeptuell zum Gesamtbild beitragen) in die Betrachtung mit ein und ebnet damit den Weg für eine erweiterte Rezeption. Katrin Schütz’ Studie macht hier auf produktive Weise deutlich, wie viel es im Werk einer der bemerkenswertesten Literatinnen der Jahrhundertwende noch zu entdecken gibt.

URN urn:nbn:de:0114-qn0101284

Dr. Romana Weiershausen

Universität Bremen

Fachbereich 10: Sprach- und Literaturwissenschaften; Neuere deutsche Literaturwissenschaft.

Homepage: http://www.fb10.uni-bremen.de/germanistik/fachgebiete/literatur/aga4/wey/

E-Mail: rweiers@uni-bremen.de

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