Der Anzug als eine schöne Kunst betrachtet

Rezension von Gertrud Lehnert

Ruth Sprenger:

Die hohe Kunst der Herrenkleidermacher.

Tradition und Selbstverständnis eines Meisterhandwerks.

Wien u.a.: Böhlau Verlag 2009.

244 Seiten, ISBN 978-3-205-77757-1, € 35,00

Abstract: Ruth Sprenger stellt Geschichte und Praxis eines Meisterhandwerks für interessierte Laiinnen und Laien übersichtlich und mit reicher Bebilderung dar. Nach einem Überblick über die Geschichte der Eleganz des Gentleman werden detailliert die einzelnen Schritte des Maßnehmens, Entwerfens, Fertigens erläutert. Dabei wird klar, dass ein Anzug immer eine komplizierte Umgestaltung des männlichen Körpers zu einem von antiker Kunst inspirierten abstrakten Ideal von Nacktheit darstellt. Zu kurz kommt leider jegliche kritische Auseinandersetzung mit der Theorie der Mode, so dass das Resultat zwar sehr anschaulich, jedoch in systematischer Hinsicht für die Modeforschung wenig erhellend ist.

Das Buch

Ruth Sprenger, studierte Philosophin, Schneidermeisterin und praktizierende Herrenschneiderin in Wien, hat das emphatische Loblied eines Berufs verfasst, der im Zeitalter der Massenkonfektion nicht mehr allzu verbreitet, aber um so mehr von der Aura des Exquisiten umgeben ist. Das reich illustrierte Buch ist auch eine Verbeugung vor dem Herrenschneider Alfred Konsal (*1947), dessen Atelier sie übernommen hat und dem sie die wichtigsten Seiten im Kapitel „Wiener Schneidergeschichten“ widmet. Ein Großteil der Abbildungen stammt aus seiner Werkstatt.

Das Buch besteht aus einem historischen und einem eher praktisch-technischen Teil, in dem die Konstruktion des Sakkos genau erläutert wird.

Zur Geschichte männlicher Eleganz

Der historische Teil umfasst die Kapitel „Zum Verständnis der Herrenmodegeschichte des eleganten Herrn“, „Zur Geschichte der Herrenkleidermacher“ und „Wiener Schneidergeschichten“. Darin wird die Geschichte der Herrenkleidung seit dem Ende des 18. Jahrhunderts erzählt und am Ende auf das Beispiel Wien fokussiert. Nach dem Vorbild der Kleidung des englischen Landadels und unter dem Einfluss der Französischen Revolution begann die Herrenmode Ende des 18. Jahrhunderts europaweit schlichter und farblich gedeckter zu werden; nach und nach ersetzte die lange Hose die nun als Zeichen der verhassten Aristokratie verachtete Kniebundhose, und es bildete sich diejenige Grundform heraus, die ungeachtet aller Modifikationen bis heute maßgeblich für die korrekte Herrenkleidung ist: Anzug aus langer Hose und Jackett, oft mit Weste.

Seither ist Mode gleichbedeutend mit Damenmode. Herren kleiden sich, denn als erfolgreiche Bürger haben sie Mode nicht mehr nötig – dafür haben sie ihre Frauen, die stellvertretend für sie demonstrativ konsumieren (Thorstein Veblen). Von der modischen Geschlechterdifferenz freilich redet Sprenger nicht, das ist nicht ihr Thema. Sie erzählt von Gentlemen und Dandies und erklärt, woran sich der Herrenanzug orientiert: am nackten griechischen Mann – einem idealen Konstrukt also, dem niemals ein realer Körper gleichkommt. Dieses Bild wolle der Herrenanzug für jeden Mann realisieren: „Die Schönheit vollendeter Herrenschneiderkunst trug das Potential in sich, den Mann im Anzug in abstrakter, idealer Nacktheit zu kleiden. Die bekleidete Form war jetzt eine Abstraktion der nackten Gestalt, ein neuer, in natürliche Wolle gehüllter, idealer nackter Mann.“ (S. 23)

Ruth Sprengers historische Ausführungen und vor allem auch ihre Bewertungen des modernen Herrenanzugs basieren weitgehend auf der wichtigen Studie von Anne Hollander, die 1994 in Sex and Suits: The Evolution of Modern Dress (dt.: Anzug und Eros. Berlin 1995) die Geschichte des Herrenanzugs einerseits als Realisierung eines antiken Ideals und andererseits als Inbegriff der Modernität in der Mode gedeutet hat: Die Damenmode, so Hollander, sei erst in den 1920er Jahren modern geworden, als sie begonnen habe, sich die Design-Prinzipien des Anzugs zu eigen zu machen. Spannende, aber nicht widerspruchsfreie Thesen – es ist schade, dass Sprengers Darlegungen jede auch nur annähernd kritische Auseinandersetzung damit fehlt.

Die Praxis der Herrenschneiderkunst

Der zweite Teil des Buches stellt die Praxis der Schneiderkunst in den Mittelpunkt. In drei Kapiteln („Zur Ästhetik des modernen Maßsakkos, „Die Kunst eines gelungenen Sakkos“ und „Der große Unterschied: Schneiderkunst und Konfektion“) wird in Bild und Text genau erläutert, wie ein Herrensakko hergestellt wird und welchen Idealen er verpflichtet ist. Das ist sehr informativ, da hier tatsächlich jene komplizierten Konstruktionen und Techniken erörtert werden, die den Anzug erst zum Anzug machen: hochkomplizierte Schnitte, Einlagen und Besätze, die dem Stück und damit dem Herrn erst die richtige Form geben und, statt ‚natürlich‘ zu sein, den Effekt von Natürlichkeit und (vermeintlicher) Körpernähe überhaupt erst erzeugen.

Auch das diskutiert Ruth Sprenger leider nicht. Das Wort „Ideal“ wird häufig erwähnt und bestimmt den Ton des Textes insgesamt, der tatsächlich das Handwerk durchgängig als Kunst darstellt, ohne dies zu begründen. Denn wie der historische Teil wird auch dieser zweite Teil beherrscht von einem Pathos, das zuweilen die Argumentation durch Begeisterung ersetzt.

Was aber ist Mode?

Und leider fehlt außerdem eine Auseinandersetzung mit dem Konzept ‚Mode‘: Sprenger spricht zwar ständig von Herrenmode, aber ich hätte mir eine Begriffsklärung gewünscht. Denn Kleidung, auch elegante Kleidung ist noch nicht Mode, schon gar nicht Kleidung, die sich langsam ändert. Damit etwas Mode sei, bedarf es einer grundsätzlichen Dynamik, die nicht in den vestimentären Objekten selbst residiert. Zur Mode gehört die Geschwindigkeit, mit der das Alte abgestoßen und Neues auf den Markt gebracht wird, das im Prinzip stets auf das Alte rekurriert, aber es de-kontextualisiert und neu re-kontextualisiert, das ständig neue ästhetische Angebote macht und als soziales Zeichen nur in einem sehr vagen Sinne funktioniert.

Bekanntlich geht diese Beschreibung zurück auf Baudelaire, der im Peintre de la vie moderne die Mode als dem Inbegriff der Moderne deutet und ihre spezifisch moderne Schönheit durch die Teilhabe am Ewigen und am Vergänglichen bestimmt. Gilles Lipovetsky (L’empire de l’éphémère, 1987) kann ein Jahrhundert später erklären, Mode sei die grundlegende Struktur der Modernität, es gebe kein Außerhalb der Mode. Aktuell wird Mode als performatives Phänomen angesehen, das erst hervorgebracht wird durch eine ständige Interaktion zwischen den vestimentären Artefakten mit Produzent/-innen, Konsument/-innen, Orten und der Modeindustrie; Mode kann als „ästhetische Arbeit“ (Gernot Böhme) beschrieben werden (vgl. Gertrud Lehnert: Einleitung. In: Dies. (Hg.): Die Kunst der Mode, Oldenburg 2006; dies.: Wie wir uns aufführen… Inszenierungsstrategien von Mode. In: Erika Fischer-Lichte u.a. (Hg.): Kunst der Aufführung – Aufführung der Kunst. Berlin 2004, S. 265–271).

Yuniya Kawamura trennt dagegen in ihrem leider impressionistisch bleibenden, methodisch unbefriedigenden Buch Fashion-ology (Oxford, New York 2005) Kleidung von Mode; Mode ist für sie eine Institution. Für Elena Esposito ist sie gut systemtheoretisch ein gesellschaftliches Teilsystem, das sich in der bürgerlichen Moderne mit dem Übergang von stratifikatorischen zu funktionalen Ordnungen ausgebildet hat, bzw. eine auf der „Beobachtung zweiter Ordnung“ basierende „Operationalisierung der Paradoxien der Kontinegenz“ (Die Verbindlichkeit des Vorübergehenden: Paradoxien der Mode, Frankfurt am Main 2004, S. 31 und S. 165).

Diese unterschiedlichen Positionen in bezug auf Herrenmode zu diskutieren wäre besonders interessant gewesen, zählt aber offensichtlich nicht zu den Absichten des Buches von Ruth Sprenger und entspricht vielleicht auch nicht dem intendierten Lesepublikum, das zwar nicht eindeutig zu bestimmen ist, aber sich wohl eher nicht aus Modetheoretiker/-innen und Kostümhistoriker/-innen zusammensetzt.

Nützliche Handreichungen

Die Positionen und Ergebnisse werden in einer abschließenden „Kleinen Philosophie der Herrenschneiderei“ in Stichworten wie „Eleganz“, „Charakter“, „Feinsinn“ etc. zusammengefasst. Eine gute Idee ist das zusätzliche und sehr hilfreiche Schneider-Stichwortverzeichnis. Die Erläuterung von Fachbegriffen ist für Laiinnen und Laien unverzichtbar, um die höchst detaillierten technischen Erörterungen zu Theorie und praktischer Gestaltung eines Sakkos ganz und gar zu verstehen.

URN urn:nbn:de:0114-qn102058

Prof. Dr. Gertrud Lehnert

Universität Potsdam

Gertrud Lehnert ist Professorin für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft am Institut für Künste und Medien der Universität Potsdam. Ihre Arbeitsschwerpunkte der letzten Jahre liegen in den Bereichen: Kulturelle Visualisierungs- und Inszenierungsprozesse, Modegeschichte und -theorie, Gender Studies, Räume und Emotionen, Lyrik/Lyrikerinnen seit der Renaissance, Marcel Proust.

Homepage: http://www.uni-potsdam.de/u/avl/lehnert.html

E-Mail: glehnert@uni-potsdam.de

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