Heike Jenß:
Sixties Dress Only.
Mode und Konsum in der Retro-Szene der Mods.
Frankfurt am Main u.a.: Campus Verlag 2007.
367 Seiten, ISBN 978-3-593-38352-1, € 34,90
Abstract: Die Geschichte der britischen Mods und der Genese ihres Styles im ‚Swinging London‘ der 1960er Jahre verknüpft Heike Jenß mit einer Ethnographie von deren aktueller Aneignungsgeschichten in der deutschen Sixties-Szene. Der Focus liegt auf einer Zeit-Geschichte der Mode, die nicht nur den Begriff des Retro in Frage stellt, sondern auch spannende Auseinandersetzungen mit Methoden und Theorien der Jugend-, Konsum- und Popkulturforschung führt; die Auseinandersetzung mit den Gender Studies bleibt hierbei (leider) äußerst marginal. Dennoch zeigen die dichten Beschreibungen in beeindruckender Weise, dass kulturelles Kapital und historisches Wissen zu ‚Elementarteilchen‘ für Geschlechterperformanzen in der Szene und zu Mechanismen der Inklusion, Distinktion und Exklusion in der Popkultur avancierten.
In Deutschland entstand die Mod-Szene Anfang der 1980er. Zu dieser Zeit waren die Mods als Mythos des ‚Swinging London‘ längst passé. Doch hatte das Erscheinen von „Quadrophenia“ 1974 das visuelle, akustische und semiologische Material geliefert, mit dem an den Rändern der Punk- und New-Wave-Bewegungen in Großbritannien bereits das erste Mod-Revival begonnen hatte. Diese Aneignung historischer Moden und die Verkörperung von Zeit als Alltagspraxis Jugendlicher ist Gegenstand der Dissertation von Heike Jenß, die sie im Forschungsprojekt „Uniformen in Bewegung: Zum Prozess der Uniformität von Körper und Kleidung (2002–2006)“ am Institut für Kulturanthropologie des Textilen an der TU Dortmund erarbeitete. Die Arbeit ist in vier ‚Geschichten‘ aufgefächert: Vorgeschichte, Mod(e)geschichte, Retrogeschichte und Aneignungsgeschichten.
Die Mods (Modernists), die sich in den späten 1950ern aus dem Modern Jazz entwickelten, sind spätestens seit Mitte der 1960er synonym mit britischer Popkultur und dem Bild des ‚Swinging London‘. Die Geschichte der Mods wird von Jenß sehr präzise als die einer Fusion von Mode und Pop und von unternehmerischen Strukturen und Konsumpraktiken erzählt: Carnaby-Street-Boutiquen, geführt von „Million Pound Mods“ wie John Stephen; Designer/-innen wie Mary Quant; Plattenläden, Clubs und Bands wie die Small Faces; oder die TV-Musiksendung „Ready Steady Go“. Die Entwicklungen des Mod-Styles ist die Geschichte einer britischen Jugendszene, die anfangs amerikanische, jamaikanische und italienische Stile zusammenbrachte und in der die männlichen Faces, wie sich die Mods nannten, da sie sich als individuelle Styleleader verstanden, dominierten. Als Männer ‚mit Sinn für Differenz‘ adaptierten sie weibliche Stylingpraktiken wie Augen-Makeup oder Haarspray zum Fixieren ihrer (etwas längeren) toupierten Haare. Umgekehrt schufen Mod-Mädchen maskuline Styles, trugen Jeans, Hemden und Rollkragenpullover, und Designerinnen wie Mary Quant kombinierten in ihrer Damenmode Elemente der Männerkleidung mit denen der Kinderkleidung. Dennoch bewegten sie sich, wie Heike Jenß schreibt, im Einklang mit den konventionellen Vorstellungen (vgl. S. 75).
In dieses spannende, sehr gut recherchierte Kapitel der Mod(e)geschichte sind in einem historischen Rückblick nicht nur die Retrostile der Neo-Edwardians oder der Teddy Boys nach dem 2. Weltkrieg einbezogen, sondern auch die Stylewars der Macaronis im London des ausgehenden 18. und der Dandies des 19. Jahrhunderts.
Die aktuelle deutsche Sixties-Szene hat Heike Jenß während ihrer ethnographischen Feldstudie auf Events quer durch Deutschland und Europa begleitet. Den Aneignungsgeschichten der 16- bis 35-jährigen Akteurinnen und Akteure, ihren Konsum- und Verkörperungspraktiken im Umgang mit materieller und visueller Geschichte räumt die Publikation das größte Kapitel ein. In ihren dichten Beschreibungen folgt Jenß stringent dem Ansatz, dass Mode eine materielle und visuelle Konsumpraxis ist, in der die zentralen Produzenten nicht die Designerinnen und Designer sind, sondern die Konsument/-innen (vgl. S. 33). So werden Alltagspraxen des Sammelns, des Einkaufens in Secondhand-Geschäften und im Internet, das Kopieren von Kleidung aus Filmen und Magazinen, die Eventisierung der Sixties durch Parties und Weekenders, das Einrichten der Wohnung als Sixties-Environment, Praxen des Selbermachens und des Stylings sowohl aus der Perspektive der Akteurinnen und Akteure als auch sehr detailliert im Kontext ihrer transnationalen Pop-, Medien-, Konsum- und Designgeschichte hervorragend nachgezeichnet.
„Nur nix mit Blümchen, das ist schon End-Sechziger!“, postuliert beispielsweise eine Akteurin der Sixties-Szene, die sich subjektiv als „Early Sixities“ einordnet, obwohl ihre Popart-Kleider kostümgeschichtlich erst seit Mitte der 1960er Jahre existieren (S. 202). Vehement grenzt sich die Retro-Stylistin gegen die floralen „Late Sixties“ ab, gegen die bunten Blümchenhemden der „Psychodelics“ bzw. „Psych-Kids“ und die „zu langen Haare“ ihrer Typen (ebd.).
Heike Jenß argumentiert aus einer nach-subkulturellen Perspektive, die mit dem Bias des Center for Contemporary Cultural Studies (CCCS) und dessen Definitionen von Subkulturen sehr hart ins Gericht gegangen ist. Das betrifft sowohl Dick Hebdiges idealisierende Gleichung, dass jugendkulturelle Styles – in der ideologischen Verlängerung der Arbeiterklasse – eine Art semiologischen Guerillakrieg führten, als auch die Position Angela McRobbies, die die Perspektive von/auf Frauen in der Subkulturforschung postuliert. Herausragend positioniert ist in diesem Zusammenhang auch das Kapitel „Retrogeschichte“. Kritisiert werden hier nicht nur dessen negative Bewertungen in den CCCS-Studien, die zwischen dem authentischen Original der ‚old school‘ und dessen Revival in der ‚new school‘ hierarchisieren, sondern auch die kulturpessimistischen Deutungen von „Retro Stilen“ durch Theoretiker der Postmoderne wie Frederic Jameson und Jean Baudrillard (vgl. S. 10, S. 142). Obwohl der Begriff des Retro (leider) nicht zugunsten einer neuen theoretischen Position verworfen wird, so wird er doch zentral in Frage gestellt und erfährt im Verlauf der Arbeit zumindest einen ethnographischen Perspektivwechsel.
Als Ergebnis ihrer Feldstudie zeigt Heike Jenß, dass gerade im Umgang mit der Mode in der Sixties-Szene eine „Historical Reconstruction through Knowingness“ (Gregson, Nicky/Crewe, Louise: Second-Hand Cultures. Oxford 2001) und damit verbunden die Bedeutung von kulturellem Kapital und Wissen als Mittel der Distinktion gegenüber anderen zugenommen hat (vgl. S. 249). Es geht dabei gerade nicht darum, Distanz zur Modegeschichte herzustellen, sondern umgekehrt durch die Nähe von Original und Kopie das eigene Selbst als Authentisches zu produzieren (vgl. S. 173). Die Kontinutiät des Stils wird über eine flexible oder dynamische Uniformierung im Stil der 1960er Jahre erreicht, durch die (Re-)Kreation eines einheitlichen mit dem historischen Vorbild ‚konformen‘ Stils, der sich jedoch in sich ausdifferenziert (vgl. S. 200). Anachronistische Stilbrüche werden in diesem System nicht nur als Störung des einheitlichen Bildes, sondern auch als Zeichen mangelnder subkultureller Kompetenz bewertet (vgl. S. 339 f.).
Dies scheint gleichermaßen auf Stilbrüche hinsichtlich der Kategorie ‚Geschlecht‘ zuzutreffen, liest man die Studie unter dieser Perspektive. Heike Jenß arbeitet empirisch nicht nur eine Inszenierung der Sixties-Szene mittels „Geschlechter-Uniformen“, d. h. „Frauen im Kleid“ oder „Männer in Hosen“ (S. 201) heraus, sondern auch, dass weibliche Mitglieder ihren Status in der durch die Kleidung und das mit ihr assoziierte Wissen definieren, während sich die männlichen stärker durch Musik konstituieren, sprich über ihre Schallplattensammlungen oder ihre Rolle als DJs. Obwohl sie argumentiert, dass es gerade nicht darum gehe, die Geschlechterrollen der 1960er Jahre zu reaktivieren (vgl. S. 325), zieht die Studie dennoch keine Rückschlüsse auf aktuelle gesellschafts- und gendertheoretische Kontexte. Auch der Kontext der Uniformierung vermag diese hier nicht zu verflüssigen.
Was am Ende zurückbleibt, ist trotz – oder vielleicht gerade auch wegen – der dezidiert auf die Materialität, die Visualität und den Konsum der Objekte gerichteten Perspektive das Surrogat der symbolischen Politik, ohne dass das gesellschaftliche Material ihrer Auseinandersetzungen scharf erkennbar geworden wäre: Mode als ein Handlungsfeld zu verstehen, in dem die jeweiligen Gestaltungen und Bedeutungen von den historischen Akteurinnen und Akteuren immer wieder aufs Neue ausgehandelt werden (vgl. S. 333).
URN urn:nbn:de:0114-qn102070
Prof. Dr. Elke Gaugele
Akademie der Bildenden Künste Wien
Institut Künstlerisches Lehramt: Moden und Styles
Homepage: http://www.akbild.ac.at/Portal/studium/institute/kunstlerisches-lehramt/textiles-gestalten
E-Mail: e.gaugele@akbild.ac.at
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