Martina Oster, Waltraud Ernst, Marion Gerards (Hg.):
Performativität und Performance.
Geschlecht in Musik, Theater und Medienkunst.
Hamburg u.a.: LIT Verlag 2008.
323 Seiten, ISBN 978-3-8258-0660-6, € 29,90
Abstract: Der Band versammelt Perspektiven unterschiedlicher wissenschaftlicher Disziplinen zur performativen Herstellung von Geschlecht in den Bereichen von Musik, Theater und Medienkultur. Ausgangspunkt und Verbindungsglied der Beiträge ist Judith Butlers Konzept zur Performativität von Geschlecht, das in seiner Relevanz für musikwissenschaftliche Frauen- und Genderforschung diskutiert wird. Im Zentrum steht die Reflexion der musikalischen Aufführung als Aufführung performativer Akte zur Konstruktion von Geschlechteridentitäten. Über die musikwissenschaftliche Perspektive hinaus liefern die verschiedenen Studien anregende und weitreichende Impulse zur Betrachtung künstlerischer Ausdrucksformen im Prozess der soziokulturellen Konstruktion von Geschlecht und Sexualität.
Mit dem Sammelband liegt die Dokumentation der gleichnamigen Tagung vor, die vom 16. bis 18. Februar 2007 an der Universität Hildesheim stattfand. In 31 prägnant verfassten Beiträgen wird die Fülle der Tagungsergebnisse breit präsentiert. Vorgelegt wird ein ebenso umfassender wie tiefgehender Einblick in die aktuelle Diskussion zur Konstruktion von Geschlecht in intermedialen Verknüpfungen von Musik, Theater, Tanz und Medienkunst. Die Strukturierung der Beiträge erfolgt im Band thematisch unter den Überschriften „Spiel mit den Geschlechteridentitäten“, „‚Neue‘ Männlichkeit in ‚neuer‘ Musik?“, „Raumpraktiken“, „Medialitäten“, „Zeremonien und Ritualisierungen“ und „Protagonistinnen – Diven – Stars“.
Ausgehend von einer auf Judith Butler zurückgehenden Differenzierung wird Performance „als darstellerische Realisierung und bewusste Inszenierung von Geschlecht in künstlerischen Praktiken“ und Performativität „als alltägliche, zitierende, normierende aber auch subversive Praxis von Geschlecht“ verstanden. (Einleitung der Herausgeberinnen, S. 10) Grundlegend für die Übertragung der butlerschen Perspektive auf musikwissenschaftliche Fragestellungen ist die Auffassung der musikalischen Aufführung als eine kulturelle und performative Praxis, die sich in der Situation des Ereignisses realisiert.
Diese Auffassung prägt auch den Text von Kirsten Reese, die Inszenierungen elektronischer Musik von den Anfängen der 1950er Jahre bis zu der zeitgenössischen Aufführungspraxis der Laptop-Performance im Hinblick auf die Präsenz von Körper und Geschlecht befragt. Welche Bedeutung haben die Dominanz männlicher Körper und die technische Disposition für die Rezeption elektronischer Musik? Haben Medien ein Geschlecht? Reese diskutiert am Beispiel des Performancekollektivs The Lappetites Veränderungen der performativen Qualität der Aufführungsform, die durch die Präsenz weiblicher Körper ausgelöst werden; dabei scheint der Laptop eher als Instrument denn als Demonstration von Coolheit und Macht in den Vordergrund zu treten. Inwiefern sich das subversive Potential von Frauengruppen in der Musik auch in der Musikwissenschaft entfalten kann, zeigt der aufschlussreiche und kritische Text von Christa Brüstle zur Selbstorganisation von Frauen in Kollektiven. Deutlich wird, wo in einem – allen Anschein nach männlich dominierten Metier – die Grenzen weiblicher Vernetzungsstrategien liegen und durch welche Mechanismen von Wissenschaft und Macht diese bestimmt werden.
Im Beitrag von Tatjana Böhme-Mehner wird das Verhältnis von Interpretation und Komposition in der elektroakustischen Musik in Frankreich im Hinblick auf die Inszenierung von Weiblichkeit und Männlichkeit untersucht. Welchen Vermarktungsstrategien unterliegt die Darstellung von Subjekt und Geschlecht? Welche Bilder von Weiblichkeit und Männlichkeit passen zu welcher Musik? – Ebenso gesellschaftskritisch sind die Beiträge von Dunja Brill, die die performativen Codes von Männlichkeit in der Elektro- und Industrial-Musik untersucht, sowie von Bianca Schemel, die den deutschen Identitätsdiskurs in Bezug auf die heterosexuelle männliche Potenz in den Songs und Videos des Rappers Fler untersucht. Musikwissenschaftliche Perspektiven wie die hier vorwiegend für den Bereich elektroakustischer Musik-Performance eingenommenen versprechen fruchtbare Impulse auch für bereits bestehende theater-, medien- und kulturwissenschaftliche Theorien zu ‚Performativität und Gender‘.
Während in diesen musikorientierten Beiträgen performative Aspekte der Aufführung von Musik hervorgehoben werden, konzentrieren sich die Reflexionen zu Medienkunst und Theater auf die Art der Herstellung von Geschlecht. So auch in den umfassenden Betrachtungen von Annette Jael Lehmann zu Geschlechterbildern und Identitätsmodellen in der Videokunst der 1970er und in fotografischen Performances der 1990er. Anhand der sehr ausführlichen und anschaulichen Beschreibungen einzelner Beispiele der Videokünstlerinnen Ulrike Rosenbach und Joan Jonas hebt Lehmann das Video als künstlerisch-politisches Medium und als kritische Reflexion stereotyper Repräsentationsmuster weiblicher Körper und traditioneller Geschlechterrollen hervor. Zudem liefert der Beitrag einen interessanten Einblick in die Fotografie der 1990er Jahre. Ausgehend von fotografischen Arbeiten etwa von Collier Schorr und Yasumasa Morimuras konstatiert Lehmann innerhalb der Genderperformances eine „Wendung gegen das strukturelle Muster, Ansichten von Gender und Sexualität nach den Vorstellungen von Original und Essenz zu organisieren.“ (S. 33)
Die Auflösung des Originalitätsparadigmas wird auch von Miriam Dreysse in der Betrachtung zur (De)konstruktion von Geschlechtsidentität thematisiert. Anhand des Phänomens des Cross Dressing markiert sie in Rekurs auf Theorien von Butler und Garber Geschlechtsidentität als Konstruktion ohne Original. Auch hier überzeugt die den Band kennzeichnende Einbindung künstlerischer Beispiele in die theoretische Diskussion zur Performativität der Geschlechter, die anhand der Inszenierung von Shakespeares Macbeth von Jürgen Gosch (Düsseldorf, 2005) und der Choreographie Reproduction von Eszter Salomon (Berlin, 2004) vorgenommen wird.
Eine Übertragung grundlegender Aspekte der Gendertheorien auf die künstlerische Praxis leistet in besonderem Maße auch der Beitrag von Melanie Hinz. Hinz widmet sich einer szenisch-theatralen Auseinandersetzung mit den Konzepten Butlers am Beispiel der studentischen Produktion Bodycheck an der Universität Hildesheim im Sommer 2006. Als eine der künstlerischen Leiterinnen des Projektes gibt sie einen ausführlichen und spannenden Einblick in die Entstehung der Inszenierung, in der bereits während der Probenarbeit in geschlechtergetrennten Gruppen Modelle von Gender bewusst verhandelt wurden.
Das Potential der hier vorgenommenen kritischen Re-Vision von Traditionen und Konventionen der Geschlechterrollen besteht nicht zuletzt in der Rückbindung der theoretischen Implikationen an eine grundlegende Reflexion der Konstruktion von Identität in Kunst und Wissenschaft. Exemplarisch hierfür ist der Beitrag von Peggy Mädler zum „Animatograph“ von Christoph Schlingensief, der es an verschiedener Stelle erlaubt, den Horizont von einer im Band vornehmlich an Weiblichkeitsmodellen orientierten Diskussion von Gender auf die Frage nach der Konstruktion und Dekonstruktion des Subjekts zu öffnen. Die Autorin sieht in der Arbeit Schlingensiefs – auch wenn dieser sich nicht explizit mit der Geschlechterdebatte beschäftigt – „eine Art Strategie, über die ein spielerischer und provokativer Umgang mit den als Behauptungen dekonstruierten Zuschreibungen des Seins versucht wird.“ (S. 189) Sie nimmt diese Strategie als Ansatzpunkt für die Auseinandersetzung mit den Konstruktionen von Geschlecht und Sexualität, die sie mit Butler in ihrer Handlungspraxis und politischen Wirksamkeit weiterdenkt. Die labyrinthische Konstruktion des „Animatographen“ aus Holz, Papier, Leinwänden, Stahl und verschiedenen Drehbühnen (AREA 7/Eine Matthäusexpedition, Wien 2006) bietet keine einheitliche Lesart und Bedeutungsorientierung an, sondern verweist durch seine offene Struktur auf Handlungsmöglichkeiten für das Subjekt, das sich – Butler zufolge – erst in kulturellen Handlungen und Strukturen performativ und sprachlich neu konstituiert und konstelliert. Der „Animatograph“ Schlingensiefs wird so als Apparat zur performativen Hervorbringung von Geschlechteridentitäten. Der Beitrag Mädlers erlaubt es, die Konstruktion des „Animatographen“, einer Formulierung Butlers folgend, als jene „notwendige Bühne der Bedingungen und Handlungsmöglichkeiten des Subjekts“ weiter zu denken. (Judith Butler: Das Unbehagen der Geschlechter, Frankfurt am Main 1991, S. 216 f.) Auf dieser Bühne der Geschlechter konstruiert sich jenseits der Dichotomie von Subjekt und Objekt, von weiblich und männlich die Identität im permanenten Entscheidungs- und Behauptungsprozess selbst als performativer Akt.
URN urn:nbn:de:0114-qn102084
Juniorprof. Dr. Isa Wortelkamp
Freie Universität Berlin
Juniorprofessorin für Tanzwissenschaft am Institut für Theaterwissenschaft/Freie Universität Berlin
Homepage: http://www.geisteswissenschaften.fu-berlin.de/we07/mitarbeiter/wortelkamp/index.html
E-Mail: isa.wortelkamp@fu-berlin.de
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