Judith Butler:
Die Macht der Geschlechternormen und die Grenzen des Menschlichen.
Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag 2009.
414 Seiten, ISBN 978-3-518-58505-4, € 24,80
Abstract: Judith Butler beschäftigt sich in dieser Aufsatzsammlung mit den politischen und rechtlichen Anliegen von Homo- und Transsexuellen. Im Mittelpunkt stehen die Menschenrechte und die gesetzlichen Bestimmungen, durch die homosexuelle Paare bei der Familiengründung benachteiligt werden. Der Bedarf nach einer theoretisch gehaltvollen Kritik und nach praktischen Verbesserungen ist groß. Exemplarisch analysiert Butler den öffentlich verhandelten Fall einer operativen Geschlechtsveränderung, in dem weder die Kritiker/-innen noch die Befürworter/-innen ausreichend darauf eingingen, was sich die betroffene Person wünschte. Ein Schwachpunkt des Bandes liegt im vieldeutigen Gebrauch des Begriffs Gender.
In seinem Vortrag Gesetzeskraft. Der ‚mystische Urgrund der Autorität‘ (Frankfurt am Main 1991) wies Jacques Derrida auf die Schwierigkeiten hin, die eigene Position an eine eventuell reservierte Zuhörerschaft zu adressieren. Seine Sorge bestand darin, die Hörer/-innen könnten das Anliegen der Dekonstruktion nicht ernst nehmen. Mit einem ähnlich gelagerten Problem ist Judith Butler in der Aufsatzsammlung Die Macht der Geschlechternormen und die Grenzen des Menschlichen beschäftigt. Der Titel klingt genauso sperrig, wie die Themen und Fragen es sind. Butlers Programm lautet „Minoritätenphilosophie“ (S. 318), was erstens bedeutet, dass sie als Philosophin die Anliegen von Minoritäten artikuliert. Hier sind es Homo- und Transsexuelle. Zweitens versteht sie darunter die Marginalisierung ihrer Argumentationsstrategien in der akademischen Philosophie. Während sich der Feminismus generell an den Universitäten etablieren konnte, wurden die Zwänge der heterosexuellen Geschlechter- und Gesellschaftsordnung noch zu wenig bedacht. Das Verdienst des Bandes, von dem bereits vier Texte in deutschsprachigen Publikationen erschienen waren, besteht im erneuten Nachweis der Dringlichkeit dieser Aufgabe.
Seit dem Sammelband Gefährdetes Leben. Politische Essays (Frankfurt am Main 2005) widmet sich Butler weniger epistemologischen als politischen und ethischen Fragen. Das ist zwar nicht als Kursänderung zu verstehen, denn auch ihre früheren Arbeiten zielten darauf ab, der Geschlechterdifferenz und ihren negativen Folgen entgegenzuwirken (vgl. S. 331). Doch seit einigen Jahren setzt sich Butler dafür ein, dass bei der Diskussion um Menschenrechte auch jene berücksichtigt werden, die nicht in die Schublade der Heterosexualität oder Zweigeschlechtlichkeit passen. Sie hält daher den Begriff des „Menschlichen“ für diskussionswürdig. Ihr Vorschlag lautet, das Leiden zu einem entscheidenden Kriterium für den Kreis der Adressat/-innen von Menschenrechten zu machen, weil dieses Merkmal zu allgemein ist, um auf eine bestimmte Bevölkerungsgruppe beschränkt zu werden. Wenn die Menschenrechte der Verminderung von Leiden dienen sollen, sei der Begriff des „Menschlichen“ zu reformulieren. Über die rechtlichen und politischen Konsequenzen von Butlers Argumentation wäre ausführlich zu diskutieren. Es könnte sich dabei als nützlich erweisen, stärker auf die Arbeiten von Seyla Benhabib, Martha Nussbaum und anderen Feministinnen einzugehen, die sich ebenfalls für ein geschlechtersensibles Rechtsverständnis einsetzen.
Mit der Frage nach Rechten für Homo- und Transsexuelle stellt sich unmittelbar die nach ihrer Elternschaft. In den meisten westlichen Ländern sind homosexuelle Paare gesetzlichen Benachteiligungen ausgesetzt, wenn sie eine Familie gründen möchten. Bisher wurde das Thema selten von kritischen Theoretiker/-innen aufgegriffen und blieb privaten beziehungsweise politischen Initiativen vorbehalten. Dass jedoch Bedarf nach einer solchen Theoriebildung besteht, zeigt Butlers Auseinandersetzung mit denen, die das heterosexuelle Privileg auf Elternschaft befürworten und sich dabei auf die von Claude Lévi-Strauss inspirierte Psychoanalyse berufen. Sie lehnen die Elternschaft homosexueller Paare mit dem Argument ab, Kinder seien auf einen echten Vater und eine echte Mutter angewiesen, wobei der Mutter typischerweise mehr Bedeutung für die Erziehung zugemessen wird. Um die Liberalisierung der Familienpolitik aufzuhalten, stellen sie die Behauptung auf, es gebe unveränderbare „symbolische Grundlagen“ (S. 194) der Kultur, die durch die Auflösung der Rollenbilder in Gefahr gerieten. Im Klartext: Homosexuelle werden wieder einmal als Gefahr für die Gesellschaft dargestellt.
Butler arbeitet heraus, wie fadenscheinig diese Argumentation ist, doch stellt sich die Frage, woher überhaupt die Überzeugungskraft solcher Annahmen rührt. Sind sie tatsächlich glaubwürdig, oder ist die Ursache nicht viel eher in der symbolischen Macht zu suchen, mit der die Verfechter/-innen heterosexueller Privilegien ausgestattet sind? Und geht es in diesen Debatten nicht auch um darum, die Entwertung sozialen Kapitals zu verhindern, das sich aus dem Leitbild des wohlgeordnet-bürgerlichen Haushalts speist? Je nach Antwort würde die von Butler angestrebte Kritik mehr dekonstruktiv oder mehr soziologisch ausfallen müssen.
Zu den gelungensten Aufsätzen des Bandes gehört „Jemandem gerecht werden. Geschlechtsangleichung und Allegorien der Transsexualität“. Hierin analysiert Butler, wie mit operativen Methoden aus David Brenda und wieder David wurde. Dabei zeigt sie, wie sich die Anhänger/-innen verschiedener Geschlechtskonzeptionen auf den Fall Brenda/David stützten, um ihre jeweilige Auffassung in der Öffentlichkeit zu vertreten. So schildert Butler, dass dem behandelnden Arzt vorgeworfen wurde, einer „sozial-konstruktivistischen Theorie“ (S. 104) anzuhängen, die von der völligen Formbarkeit des Geschlechts ausgehe. Er wurde nicht nur als rücksichtslos kritisiert, sondern auch als Beispiel dafür angeführt, wohin bestimmte Richtungen des „modernen Feminismus“ (S. 105) führen könnten. Die Gegenseite hingegen berief sich performativ auf Chromosomen-Theorien, also die vermeintliche Natur, um die Grenzen chirurgischer Eingriffe aufzuzeigen. Butler fasst die Paradoxie der daraus resultierenden Situation pointiert zusammen: „Formbarkeit wird sozusagen gewaltsam aufgezwungen. Und Natürlichkeit wird künstlich herbeigeführt.“ (S. 110)
Butler untersucht aufmerksam, wie sich Brenda/David angesichts dieser Anrufungen des Geschlechts verhielt, um den Paternalismus zu verdeutlichen, der in allen Positionen mitschwang. Wenn ihre Darstellung mit den Tatsachen übereinstimmt, gab es kein ausreichendes Interesse für das, was in Brenda/David vorging und was sie/er sich eigentlich am meisten wünschte. Die Entscheidung Brendas/Davids für das männliche Geschlecht interpretiert Butler als Beleg, wie stark Geschlechternormen wirken. Sie stützt sich dabei auf Selbstzeugnisse, in denen deutlich wird, wie groß der Druck sein kann, ein eindeutiges Geschlecht anzunehmen.
In dem Aufsatz „Die Entdiagnostizierung von Gender“ wird zusätzlich beschrieben, wie zweischneidig die Konsequenzen einer diagnostizierten „Geschlechtsidentitätsstörung“ (S. 124) sind: Wer sich darauf beruft, wenn auch nur aus strategischen Gründen, kann finanzielle Hilfe für eine Geschlechtsveränderung bekommen. Doch sollten die betreffenden Personen darauf vorbereitet sein, wie schwierig das Leben mit einer solchen Diagnose ist, unabhängig davon, ob der Wunsch nach einer Geschlechtsveränderung überhaupt als ‚Störung‘ erlebt wird. Butler führt vor Augen, wie geboten eine Diskussion über den medizinischen Status von Geschlechternormen ist, in der vor allem die Betroffenen zu Wort kommen können.
In dem Aufsatz „Kann das ‚Andere‘ der Philosophie sprechen?“ wird dafür plädiert, Übersetzungsfragen auch als Sachfragen zu behandeln. Während der Titel von „Geschlechternormen“ spricht, ist in den Beiträgen durchgehend von „Gender“ die Rede, wie auch der Band im Original „Undoing Gender“ heißt. Sabine Hark hat darauf hingewiesen, inwiefern die Übersetzung von „Gender Trouble“ in „Das Unbehagen der Geschlechter“ von Diskussionen beeinflusst war, in denen alte und neue Feminismuskonzeptionen verhandelt wurden. (Vgl. Sabine Hark: Dissidente Partizipation. Eine Diskursgeschichte des Feminismus, Frankfurt am Main 2005, S. 269) Im Fall des vorliegenden Bandes muss festgestellt werden, dass der Gebrauch des Ausdrucks Gender oft an seine Grenzen stößt. Ein Beispiel: „Gender ist der Mechanismus, durch den Vorstellungen von Männlichkeit und Weiblichkeit produziert und naturalisiert werden. Gender könnte aber auch der Apparat sein, durch den solche Vorstellungen dekonstruiert und denaturalisiert werden.“ (S. 74) Wenn Butler Geschlechtskonzeptionen analysiert, um die suggestive Verwendung sprachlicher Ausdrücke aufzuzeigen, wäre es sinnvoll, sich selbst möglichst präzise auszudrücken. Was soll damit gemeint sein, „Gender“ sei ein „Mechanismus“ oder ein „Apparat“? Es lässt sich einiges darunter vorstellen, und genau diese Vieldeutigkeit ist das Problem, dem auch jemand wie Derrida hätte entgehen können, wenn er sich mehr Zeit für die Erläuterung seiner Position genommen hätte. Dekonstruktion und Präzision schließen sich nicht aus. Übersetzt heißen die beiden terminologisch verkomplizierten Sätze doch nicht mehr als: Geschlechtsidentitäten sind veränderbar, auch wenn wir das manchmal vergessen und einige es nicht wahr haben wollen.
Butler tritt für dafür ein, dass Homo- und Transsexuelle mehr Rechte bekommen, und demonstriert, wie ein rücksichtsvoller Umgang mit dem Thema Geschlechtsidentität in Zukunft aussehen könnte. Sie überdeckt jedoch die Lücke, die zwischen der praktischen Bedeutung und der theoretischen Schärfe ihrer Überlegungen klafft, durch anspielungsreiche Formulierungen, anstatt nach alternativen Konzepten zu suchen. Dieser Mangel in der Theoriebildung zeichnete sich schon im Anfang der 90er Jahre geführten Streit um Differenz ab. (Vgl. Seyla Benhabib, Judith Butler, Drucilla Cornell, Nancy Fraser: Der Streit um Differenz. Feminismus und Postmoderne in der Gegenwart, Frankfurt am Main 1994, S. 108 f.) Dass das Interesse an Butlers Werk trotzdem nicht abnimmt, wie bei ihren Vorträgen in Deutschland zu sehen ist, die sich einer übergroßen Beliebtheit erfreuen, weist darauf hin, wie erfolgreich sie ihr politisches Anliegen adressiert. Doch wie belastbar ist dieser Kompromiss?
URN urn:nbn:de:0114-qn102110
Ruben Marc Hackler
Freie Universität Berlin
SFB 700 „Governance in Räumen begrenzter Staatlichkeit“
E-Mail: largesse@gmx.net
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