Isabelle Stauffer:
Weibliche Dandys, blickmächtige Femmes fragiles.
Ironische Inszenierungen des Geschlechts im Fin de Siècle.
Köln u.a.: Böhlau Verlag 2008.
351 Seiten, ISBN 978-3-412-20252-1, € 44,90
Abstract: Stauffer legt eine hervorragende Studie zu ironischen Inszenierungen geschlechtsspezifischer Topoi vor. Literaturgeschichtlich präzise werden die Geschlechterverwirrungen im Fin de Siècle unter besonderer Berücksichtigung der Werke Annette Kolbs und Franziska zu Reventlows kontextualisiert und mit Hilfe eines eigens entwickelten methodologischen Ansatzes analysiert. Überzeugend kann Stauffer darlegen, dass den Ironisierungen der Femme fragile und der Femme fatale, des Décadents und des Dandy die Funktion zukommt, Geschlecht als Konstruktion zu enthüllen. Avant la lettre werde dadurch Judith Butlers Theorie der subversiven Performativität bestätigt. Für die Beschreibung der damit verbundenen Konstruktionsverfahren hält Stauffer allerdings den Begriff der Ironie für treffender als den von Butler u. a. favorisierten Begriff der Parodie.
„Bei der Verwirrung der Geschlechter, die bei uns herrscht, ist es beinahe ein Wunder, seinem eigenen anzugehören“ (Rousseau: Emil oder über die Erziehung). – Verwirrungen der Geschlechter und Ironisierung von Geschlechterstereotypen sind immer wieder Gegenstand der Literatur und der Literaturwissenschaft. Doch während ironische Inszenierungen des Geschlechts durch männliche Autoren mehrfach im Fokus literaturwissenschaftlicher Studien standen, stellt dieses Thema für die Literatur von Autorinnen ein weitgehend unerforschtes Feld dar. Bis zum Erscheinen der vorliegenden Dissertation fehlte es einerseits an Überblicksstudien zu ironischen Schreibtraditionen von Frauen und andererseits an Darstellungen zu weiblichen Topoi in der Literatur, die von Autorinnen im Medium der Literatur verhandelt werden. Stauffer schließt diese Lücke, indem sie die Werke Annette Kolbs und Franziska zu Reventlows mit Blick auf die Topoi der Femme fragile, der Femme fatale, des Dandys und des Décadents und die ideologische Intention dieser Topoi befragt.
Der methodologisch-theoretische Bezugsrahmen ist weit gespannt. Er umfasst Grundlagen zu Ironie und Ironisierung (z. B. Marika Müllers textlinguistischen Ansatz), Basiswissen der Toposforschung (Ernst Robert Curtius, Lambert Wierenga, Lothar Bornscheuer), Einzelstudien zu den hier verhandelten Topoi und zentrale Studien der Genderforschung (u. a. Judith Butlers Theorem der Performativität, Thomas Laqueurs Untersuchung zum Wandel des Geschlechtermodells ab 1800, Robert W. Connells Studien zu Männlichkeitskonstruktionen). Die hier nur exemplarisch aufgeführten Grundlagen referiert Stauffer angemessen, modifiziert sie im Einzelfall überzeugend (vgl. ihre Ausführungen zur Anspielungsironie, S. 21 f.) und setzt sie sinnvoll im Rahmen ihrer Untersuchung ein.
In Stauffers Studie werden die zentralen Analysen zu Kolbs und Reventlows Romanen in ein engmaschiges sozio-historisches Netz einander wechselseitig bedingender Produktions- und Rezeptionseinflüsse eingebettet. Am Beispiel Luise Adelgunde Victorie Gottscheds kann Stauffer zeigen, dass ironisches Schreiben von Frauen in der Frühaufklärung möglich war, sofern es einer didaktischen Funktion gerecht wurde, die Grenzen des Anstandes wahrte und zugleich jenes ästhetische Programm, das Johann Christoph Gottsched zur Voraussetzung für die Partizipation an literarischer Produktion erklärt hatte, zum konstitutiven Element ihres Schreibens erhob.
Nicht mehr weibliche Gelehrsamkeit, sondern „unverbildete Natürlichkeit“ (S. 50) wurde ab der Mitte des 18. Jahrhunderts im Weiblichkeitstypus der ‚Empfindsamen‘ stilisiert. Treffend referiert Stauffer, inwiefern Sophie von La Roche unter dem Einfluss ihres Förderers Wieland dieser Vorstellung nachkam, und gelangt zu dem Schluss, dass „die Divergenz zwischen Ironie und weiblicher Schreibweise in einem historischen Sinne von einer durch bestimmte Weiblichkeitsvorstellungen erzeugten, geschlechtspezifischen Poetik stammt, die als Zugangsbeschränkung fungierte“ (S. 55).
Das 18. Jahrhundert bildet einen Eckpfeiler der literar-historischen Einordnung, das 20. Jahrhundert einen zweiten. Stauffer gibt einen kenntnisreichen, panoramaartigen Überblick über „Affinitäten mit ironischen Schreibweisen“ (S. 307), angefangen bei ironisierten Topoi in Thomas Manns, Richard von Schaukals und Max Beerbohms Werken, übergehend zu der Verschränkung von Ironie und Geschlecht bei Maria Janitschek, Ricarda Huch, Else Lasker-Schüler und Virginia Woolf, bis hin zu Geschlechterverwirrungen an der Wende zum 21. Jahrhundert bei Jeanette Winterson. Dass es sich bei diesem insgesamt 15 Seiten umfassenden Kapitel nicht um Einzelanalysen handeln kann, wohl aber um ein Anführen größerer literarhistorischer Pfade, deren Begehen für weitere Forschungsarbeiten lohnenswert sein könnte, liegt auf der Hand.
Das Kernstück der Studie, die Untersuchungen zur Ironisierung geschlechtsspezifischer Topoi und deren Funktionen in den Werken Kolbs und Reventlows, umfasst etwa 200 Seiten. Unter Bezugnahme auf die topoi-konstitutiven Merkmale sowie auf die unterschiedlichen Realisierungsformen der Anspielungsironie – Bruch, Mimesis und Metadiskurs – gelingt es Stauffer, differenziert die Poetizität der in Frage stehenden Topoi nachzuweisen. Exemplarisch sei in diesem Zusammenhang Reventlows Ironisierung des Décadents erwähnt: In enger Auseinandersetzung mit den Primärtexten erarbeitet Stauffer die Relationalität des Exzentrikbegriffs. In mimetischer Übertreibung werde die ‚Charaktereigenschaft‘ der dekadenten Innerlichkeit durch die Einführung einer Spiegel- und Reflexionsfigur des Protagonisten ironisch unterlaufen. Metadiskursiv werde diese Ironisierung gesteigert durch erzähltechnische Spiegelungen, die Form des Diariums sowie durch das Aufrufen von Literatur- und Theatermetaphern. Das tragisch passive Ausgeliefertseins des Décadents werde insofern ironisch unterminiert, als es zum einen als selbstverantwortet dargestellt und zum anderen metadiskursiv als das Verhalten eines Typus kommentiert werde. Letzteres gelte auch für die Morbidität.
Ausgehend von ihren Einzeluntersuchungen stellt Stauffer die Frage nach der Funktion dieser Ironisierungen und gelangt zu dem Schluss, dass Kolb und Reventlow lange vor Butler den Konstruktionsaspekt von Geschlecht beleuchten und seine Destabilisierung inszenieren. Zudem kommt sie zu folgendem Ergebnis: „In der Konfrontation von Butlers Theorie mit Kolbs und Reventlows Texten hat sich herausgestellt, dass zur Dekonstruktion der Vorstellung einer originären Geschlechtsidentität die kontaminierende Funktionsweise der Ironie besser geeignet ist als der Begriff der Parodie, da er die Vorstellung eines Originals verdächtiger macht“ (S. 235). Mit diesem weitreichenden Fazit wird Stauffer insofern dem untersuchten Textkorpus gerecht, als hier in der Tat eine (entkräftende) Umkehr der herrschenden Matrix zu konstatieren ist. Distanz wird durch eine bestimmte Negation hergestellt. Mit der stärkeren Betonung des Ironiebegriffes geraten jedoch zugleich die Spielräume der differenziellen Verschiebung, die dem Begriff der Parodie inhärent sind, teilweise aus dem Blick.
In einem weiteren Schritt schließt sich eine differenzierte Untersuchung an, die sich den Auswirkungen der Geschlechterverwirrung auf die Geschlechterbeziehungen widmet. Während in Reventlows Werk z. B. Feudalismus, Hedonismus und flirtende Leseranrede zentrale Analysekategorien bilden, lasse sich der Liebesdiskurs in Kolbs Romanen etwa unter den Aspekten des Protests, des Vorbehalts und der Homosexualität fassen, wobei letztere zunächst unter biologistischen, dann unter psychoanalytischen Erklärungsansätzen verhandelt und schließlich zugunsten eines Transgender-Konzepts aufgelöst wird.
Stauffer legt eine höchst lesenswerte Studie vor, die in mehrfacher Hinsicht überzeugt: Die Gliederung der Ausführungen ist folgerichtig und transparent, die Sprachgestaltung elaboriert und eingängig. Die Anwendung des eigens entwickelten ‚Modells‘ zur Untersuchung geschlechtsspezifischer Topoi liefert präzise Analyseergebnisse, die ihrerseits wiederum in Relation zu methodologisch-theoretischen Wissensbeständen der Kulturwissenschaften gestellt werden. Zudem entgeht Stauffer der Gefahr einer ahistorischen Darstellung, indem sie Kolb und Reventlows Werk in ein weitgreifendes literaturhistorisches Umfeld einordnet. Die pointierten Zusammenfassungen am Ende eines jeden Kapitels sowie das Namensregister erleichtern der Rezipientin/dem Rezipienten die Orientierung angesichts der großen Materialfülle. So ist eine Studie entstanden, die man erstens bedenkenlos empfehlen kann, die zweitens Lust auf die (erneute) Lektüre Kolbs und Reventlows macht und die drittens ein auf Studien zu Ironisierung, Topos- und Genderforschung basierendes Analyseinstrumentarium bereitstellt zu weiteren Untersuchungen geschlechtsspezifischer Topoi.
URN urn:nbn:de:0114-qn102122
Jens F. Heiderich
Frauenlob-Gymnasium Mainz
Studienrat für die Fächer Deutsch und Französisch am Frauenlob-Gymnasium Mainz; Mitglied im wissenschaftlichen Beirat der Zeitschrift für Romanische Sprachen und ihre Didaktik (http://www.ZRomSD.de); Lehrbeauftragter für französische Fachdidaktik an der Johannes-Gutenberg-Universität Mainz
E-Mail: mail@jensheiderich.de
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