Türkische Schmonzette

Rezension von Susanne Benöhr-Laqueur und Hans-Peter Laqueur

İpek Çalışlar:

Mrs. Atatürk.

Latife Hanım. Ein Porträt.

Berlin: Orlanda Verlag 2008.

272 Seiten, ISBN 978-3-936937-64-0, € 17,90

Abstract: Die 2006 erschienene Biographie über Latife Uşşaki, die geschiedene Ehefrau Mustafa Kemal Atatürks, erregte in der Türkei große Aufmerksamkeit. Das hochgelobte Buch rekonstruierte anhand zahlreicher Fakten die Ehe zweier starker Persönlichkeiten, die nach kurzer Zeit zerbrach. Die stark gekürzte deutsche Übersetzung ist sowohl aufgrund diverser formaler als auch inhaltlicher Defizite nur mit großen Einschränkungen zu empfehlen.

Mustafa Kemal Atatürk, charismatisch-autoritärer Gründer der Türkischen Republik und das Paradebeispiel des,Einsamen Wolfes‘, war zwischen 1923 und 1925 verheiratet! Tatsächlich. Die Heirat mit und die Scheidung von Latife Uşşaki war zwar kein Staatsgeheimnis, wurde jedoch jahrzehntelang geflissentlich ignoriert. Latife Uşşaki, die Atatürk immerhin um 38 Jahre überlebte, geriet in Vergessenheit – sicherlich auch durch eigenes Zutun. Dreißig Jahre nach ihrem Tod widmete ihr die Journalistin İpek Çalışlar ein bemerkenswertes und hochgelobtes Buch. (İpek Çalışlar: Latife Hanım, İstanbul 2006 – Allein in den ersten 16 Monaten erreichte das Werk eine – für Landesverhältnisse sensationelle – Auflage von 95.000 Exemplaren) Auf über 500 Seiten entwickelte die Autorin dabei das Bild eines (allzu) menschlichen Atatürk. In der Türkei, in der Atatürk nach wie vor eine beinahe fast religiöse Verehrung genießt, war das eine Sensation und implizierte die bedeutende Frage: Sollte eine Frau Einfluss auf Atatürks Denken und Handeln genommen haben? In einer Gesellschaft wie der türkischen, die nach wie vor gekennzeichnet ist durch extreme Gegensätze in der Frauenfrage, war und ist dies ein brisantes Problem.

Zwischen Orient und Okzident

Die Lebensgeschichte von Latife Hanım lässt also aufmerken. Um so mehr, wenn man erfährt, dass sie acht Sprachen beherrschte, einige Semester Jura an der Sorbonne studiert hatte, kein Kopftuch trug und auch ansonsten so gar nicht dem Klischee einer türkischen Frau entsprach. Atatürk hatte keine unbedarfte Analphabetin geheiratet, sondern eine moderne, hochgebildete und selbstbewusste junge Frau, die in Frankreich und England gelebt hatte und sich daher problemlos zwischen Orient und Okzident bewegte. Atatürk wusste, was er tat. Die Heirat mit Latife Hanım sollte ein politisches Zeichen setzen; dass seine zukünftige Ehefrau zudem der vermögenden türkischen Oberschicht angehörte, war ein angenehmer Nebeneffekt.

Latifes Einfluss?

Ob und wie Latife konkret auf Atatürk Einfluss ausübte, bleibt aber leider verborgen. Von nur peripherem Interesse ist es, dass Latife „auch weiterhin jeden Morgen eine rosafarbene Rose, die sie selbst im Garten gepflückt hatte, am Kopfende von Mustafa Kemals Bett“ (S. 39) hinterließ bzw. auf dessen Wunsch hin ein dezentes Make-up aufgelegt hatte. (Vgl. S. 53) Aus frauenrechtlicher Sicht stellt sich etwa die Frage, warum Latife, die 1923 als Abgeordnete kandidieren wollte, sich diesbezüglich gegenüber ihrem Ehemann nicht durchsetzen konnte. (Vgl. S. 74) Das Kapitel „Latife und die Frauenbewegung“ gerät zur Plattitüde, wenn einerseits ihre Auseinandersetzung mit dem italienischen Botschafter über die Frauenfrage geschildert wird (vgl. S. 100), andererseits aber Latifes Rolle etwa bei der Ausarbeitung des Zivilgesetzbuches und damit des Familien- und Scheidungsrechts – das nach Schweizer Vorbild entstand – nicht analysiert wird. Latife sprach gut deutsch und französisch, und sie hatte Jura studiert. Hat sie lenkend eingegriffen, als um die wichtige Neukodifikation gestritten wurde? Zumindest der deutsche Leser/die deutsche Leserin erfährt es nicht.

Die Kunst des Übersetzens

Übersetzen ist eine Kunst – wie man anhand dieses Werkes belegen kann. Die deutsche Übersetzung umfasst weniger als 40% des türkischen Originals. Im direkten Vergleich beider Texte erschließen sich keine Regeln für die umfangreichen Kürzungen. Nicht erklärlich ist etwa, warum es die Übersetzerin für angebracht hielt, die im türkischen Text fast drei Druckseiten umfassende (vgl. S. 392 ff.), gerade für deutschsprachige Leser besonders interessante Schilderung von Latifes Freundschaft zum deutschen Publizisten Emil Ludwig und von dessen Begegnung mit Atatürk auf ein Drittel (S. 231 f.) zu kürzen. Es wurde sogar – um einen durch Weglassung entstandenen inhaltlichen Bruch zu kaschieren – eine Anekdote frei erfunden (vgl. S. 22 f.): Die junge Latife kann sich wohl kaum 1919/20 in England in einen Lord verliebt haben, der 1915 an den Dardanellen fiel.

Peinlich ist es zudem, wenn die Berufsbezeichnung „sefir“ (Gesandter) für einen Namensbestandteil gehalten wird (S. 48) und aus dem „konsolos“ (Konsul) ein „Botschafter“ wird (S. 97). Wer das Wort „hariciye“ (veraltete Bezeichnung des Außenministeriums) nicht im gängigen Wörterbuch findet, der möge sich bei versierten Muttersprachler/-innen erkundigen. Im Rahmen einer Übersetzung zu formulieren „während Ismail in/bei Hariciye arbeitete“ (S. 209) ist als unprofessionell zu werten. Begriffe, die für erläuterungsbedürftig gehalten wurden, hat die Übersetzerin in ein Glossar aufgenommen. Als Verweis im Text dient ein dem Begriff nachgestellter Stern *. Offenbar wurde dieses Glossar zur Drucklegung erheblich gekürzt, ohne dass jedoch die Verweise darauf im Text getilgt wurden.

Das Literaturverzeichnis der Originalausgabe verzeichnet – mit Rücksicht auf die türkische Leser/-innenschaft – fremdsprachliche Literatur, wenn verfügbar, in türkischer Übersetzung. Dieses Verzeichnis wurde eins zu eins in die deutsche Übersetzung übernommen, nicht einmal die Hinweise auf die Sprache der Publikation (z. B. bei Villalta (S. 272) die Angabe „inglizce“) wurden übersetzt. Unverändert übernommen wurden auch die Druckfehler aus dem türkischen Literaturverzeichnis, dazu etliche neue hinzugefügt, z. B. wurde der zweite Vorname des Autors İsmail Habib Sevük als Teil des Buchtitels aufgefasst (vgl. S. 271).

Ein leidiges Problem ist die Wiedergabe türkischer Sonderzeichen in deutschen Publikationen. Hier wurde es um eine neue Variante bereichert: Inkonsequenz – auf ein und derselben Seite finden sich korrekte wie fehlerhafte Schreibweisen.

Als Petitesse der besonderen Art ist die Übersetzung der Beurteilung des Buches durch den Literaturnobelpreisträger Orhan Pamuk zu werten. Gemäß Klappentext der türkischen Ausgabe bezeichnete er das Werk als „Çok zengin, güven verici, şaşırtıcı ve derin...“ Das heißt übersetzt: „Sehr reichhaltig, glaubwürdig, überraschend und tiefgründig [...]“ Auf dem Rückumschlag der deutschen Ausgabe findet sich hingegen: „Sehr reichhaltig, vertraut, tiefgehend und überraschend […]“.

Verkennung historischer Zusammenhänge

Als negativ zu bewerten ist zudem der Umstand, dass grundlegende Fakten der türkischen Geschichte falsch dargestellt wurden. So bezeichnet die Übersetzerin die jungtürkische Partei „İttihat ve terakki“, die von 1909 bis 1918 fast ohne Unterbrechung Regierungspartei (iktidar partisi) war, als Oppositionspartei (S. 201). Aus Atatürks berühmter „Büyük Nutuk“ (Große Ansprache), seinem fast 40-stündigen mündlichen Rechenschaftsbericht, den er vom 15. bis zum 20.10.1927 vortrug, macht sie „sein Buch Büyük Nutuk“ (S. 77 u. a.); und die Fehlübersetzung von „işgal“ (Besetzung) als Belagerung (von Izmir, S. 26: Kapitelüberschrift) ist ihr gar einen Eintrag im Glossar wert (S. 256). Nachgerade peinlich ist es, wenn die Übersetzerin aus der eingesessenen nicht-muslimischen Bevölkerung Anatoliens eine „zugewanderte“ Minderheit macht (S. 16).

Bilanz

Das deutsche Publikum hätte primär eine informative Darstellung dieser kurzen Ehe, ihrer Vorgeschichte, ihrer Begleitumstände, ihrer Nachwirkungen und ihrer Bedeutung in der Geschichte der Türkischen Republik interessiert. Während die Originalausgabe durch präzise Belege der Zitate für sich einnimmt und zudem ein profundes politisches und geschichtliches Bild zeichnet, muss die Leserschaft der deutschen Ausgabe sich mit emotionalen Plattitüden zufrieden geben.

Bedauerlicherweise wurde die Chance vertan, die Geschichte einer modernen türkischen Frau, die zudem noch mit Mustafa Kemal Atatürk verheiratet war, profund darzustellen. Die Übersetzung geriet zu der Art von sentimentalem Rührstück, wie es sich Kritiker von Frauenliteratur seit jeher fälschlicherweise vorzustellen pflegen.

URN urn:nbn:de:0114-qn102188

Dr. jur. Susanne Benöhr-Laqueur

Rechtsanwältin in Bremerhaven; Universität Hamburg

Vertretungsprofessorin an der Universität Hamburg, Fakultät Wirtschafts- und Sozialwissenschaften, Fachbereich Sozialökonomie, Fachgebiet Recht, SoSe 2009.

Homepage: http://www.sblq.de

E-Mail: dr_benoehr@web.de

Dr. phil. Hans-Peter Laqueur

Ehemaliger Professor für Türkische Literatur an der University of Cyprus in Nicosia, jetzt freiberuflicher Dozent.

Homepage: http://www.hplqr.de

E-Mail: laqueur@web.de

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