Annemarie Bauer, Katharina Gröning (Hg.):
Gerechtigkeit, Geschlecht und demografischer Wandel.
Frankfurt am Main: Mabuse-Verlag 2008.
277 Seiten, ISBN 978-3-938304-84-6, € 25,90
Abstract: Der Sammelband belegt einmal mehr, dass Fürsorgeleistungen für Kinder und Ältere überwiegend von Frauen übernommen werden. Diese können und wollen die unbezahlte und oft unsichtbare Arbeit aber nicht mehr leisten – auch eine Frage der Gerechtigkeit. Die Autor/-innen plädieren für eine politische Debatte, um diesen Missstand aufzuheben. Wie wollen wir im Alter leben, was sind uns Unterstützung und Pflege wert? Die Fragen gehen uns alle an und verlangen eine gesamtgesellschaftliche Lösung. Da in Zukunft mehr alte Menschen auf Unterstützung angewiesen sein werden, muss die Fürsorge dringend neu organisiert werden.
Frauen übernehmen einen großen Anteil der Fürsorge für Ältere und Kinder. Wie kann diese meist unbezahlte Arbeit gerechter zwischen den Geschlechtern verteilt werden? Und wie können die, die sich um andere kümmern, dafür die ihnen zukommende Anerkennung erhalten? Welchen Wert misst unsere Gesellschaft dieser Arbeit bei? Diese Fragen stellen sich die Sozialwissenschaften schon lange. Insbesondere die Frauen- und Geschlechterforschung hat ‚Care‘ zu einem zentralen Forschungsbereich gemacht, da sich darin viele Debatten um Familie und Erwerbstätigkeit, Geschlechterrollen und -gerechtigkeit kreuzen.
Auch der vorliegende Sammelband von den Herausgeberinnen Annemarie Bauer, Professorin für Soziale Arbeit an der Evangelischen Fachhochschule in Darmstadt, und Katharina Gröning, Professorin für pädagogische Beratung an der Universität Bielefeld, ist in diesem Forschungsfeld verortet. Er nimmt eine unumstrittene Entwicklung mit in den Blick: Der demographische Wandel verstärkt den Druck, dass die oben gestellten Fragen nun endlich auch als gesamtgesellschaftliche Aufgaben wahr- und ernst genommen werden. Denn die Menschen in Deutschland werden immer älter, und auch wenn viele sich ihre Gesundheit länger bewahren können, als es früher der Fall war, so nimmt doch die Zahl der Unterstützungsbedürftigen zu, etwa die der Demenzerkrankten. Dieser wachsenden Zahl Pflegebedürftiger steht jedoch in Zukunft eine immer kleiner werdende Zahl Erwerbstätiger gegenüber, denn seit 1964 hat die Zahl der Geburten stetig abgenommen. Besonders ungünstig wird das Verhältnis werden, wenn die ‚Babyboomer‘ ins Rentenalter kommen, denn es ist unwahrscheinlich, dass Deutschland in den kommenden Jahren genug Zuwanderer anziehen wird, um die sinkende Geburtenzahl der letzten Jahrzehnte auszugleichen.
Hinzu kommt, dass Frauen, auch wenn sie Verantwortung für ihre Kinder und für ihre Eltern übernehmen und deren Unterstützung als sinn- und wertvolle Tätigkeiten betrachten, längst nicht mehr automatisch als unter- oder sogar unbezahlte Arbeitskräfte bereitstehen: Sie wollen – genau wie Männer – gemäß ihrer Ausbildung tätig sein, dafür Anerkennung erhalten und bezahlt werden. Die Erfüllung der Forderung „Gleicher Lohn für gleiche Arbeit“, von der die meisten Länder der Welt noch weit entfernt sind, muss aber nicht automatisch mit einer Verschlechterung der Situation von Älteren und Kindern verbunden sein.
Die Herausgeberinnen wollen die soziale Sprengkraft nutzen, die das Spannungsverhältnis von Geschlechtergerechtigkeit und generativer Fürsorge enthält, um eine Debatte darüber anzustoßen. Dabei wollen sie auch den – scheinbaren – Antagonismus entlarven, der ebenso wie die von der Politik als Lösungswege angeführten Konzepte ‚Eigenverantwortung‘ und ‚Individualisierung‘ nur dem Erhalt der bestehenden Machtstrukturen dient und ethische und emotionale Bedürfnisse weitgehend ausblendet.
Das Buch versammelt Vorträge einer Bielefelder Ringvorlesung aus dem Wintersemester 2006/07, Beiträge anderer Tagungen und einen neuen Aufsatz. Die Texte unterstreichen und illustrieren den in der Einleitung skizzierten und hier zusammengefassten Missstand, indem sie den theoretischen oder historischen Hintergrund kritisch ausleuchten, einzelne empirische Arbeiten zum Thema vorstellen oder den dringenden Forschungs- und Handlungsbedarf hervorheben. Dabei sind einige Wiederholungen grundlegender Zusammenhänge wohl nicht zu vermeiden.
Der Band gliedert sich in drei Teile, deren Beiträge aber durchaus ineinandergreifen: Der erste Teil legt den Schwerpunkt auf das Verhältnis von Fürsorge und Gerechtigkeit als Thema der Generationen, der zweite Teil auf Konflikte und Aushandlungsstrategien innerhalb der Familie, wenn es um die Elternpflege geht, und der dritte Teil auf das Geschlechterverhältnis im Zusammenhang mit dem demographischen Wandel.
Erfüllt das Buch also seinen Anspruch, zu einer neuen Diskussion anzuregen? Das hängt von der Rezeption ab. Das Problem ist bekannt, die Argumente liegen auf dem Tisch – die Autor/-innen haben viele davon neu aufbereitet. Wer sich einen Überblick über die Bandbreite an Themen verschaffen will, die mit Care und Gender zusammenhängen, ohne dabei eine klare Systematik zu erwarten, dem kann das Buch sehr nützlich sein. Allerdings verwenden einige der Autor/-innen leider verklausulierende Formulierungen, die eine breite Leserschaft in der Regel eher abschrecken. Wer sich wissenschaftlich schon länger mit dem Thema beschäftigt, dem bietet der Band wenig neue grundsätzliche Erkenntnisse, aber viele Anregungen dazu, wo weitere Forschung sinnvoll wäre. Wer neugierig geworden ist, kann jederzeit zum Literaturverzeichnis greifen, das zu jedem Aufsatz gehört. Wer praktisch in Beratungsstellen oder in der Pflege tätig ist, ist nach der Lektüre bestimmt neu sensibilisiert für Generationen- und Geschlechtergerechtigkeit. Das Buch zeigt jedenfalls einmal mehr, dass angesichts der alternden Gesellschaft eine Debatte und eine Veränderung der Strukturen dringend anstehen – und es liefert zahlreiche Argumente dafür.
URN urn:nbn:de:0114-qn102279
Dr. Margret Karsch
Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung
Wissenschaftliche Mitarbeiterin
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