Andrea Fleschenberg, Claudia Derichs:
Handbuch Spitzenpolitikerinnen.
Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 2008.
247 Seiten, ISBN 978-3-531-16147-1, € 29,90
Abstract: „Frauen an die Macht“ – diese schon vor Jahrzehnten erhobene Forderung ist heute immer noch aktuell. Die politische Partizipation von Frauen hat sich zwar deutlich verbessert, aber in Führungspositionen sind sie immer noch selten anzutreffen. Das anschauliche Handbuch führt für alle Erdteile detailliert aus, unter welchen sozioökonomischen, institutionellen und kulturellen Einflussfaktoren Frauen zu Staats- und/oder Regierungschefinnen werden. Zahlreiche Einzelbiographien beleuchten die persönlichen Hintergründe.
Das Handbuch Spitzenpolitikerinnen legt detailliert und anschaulich dar, dass weltweit Frauen in politischen Führungspositionen noch immer die Ausnahme sind. Die Qualität des aus einem Lehrforschungsprojekt hervorgegangenen Handbuchs beruht auf der theoriegeleiteten Untersuchung der politischen Partizipation von Frauen und ihrer Rolle als Führungselite. Dabei geht es Andrea Fleschenberg und Claudia Derichs sowie ihren Mitautorinnen nicht nur um eine quantitative Bestandsaufnahme, sondern auch um eine geschlechtersensible Analyse. Die Verfasserinnen betrachten es als geschlechtsspezifisches Demokratiedefizit, dass Frauen in der Politik unterrepräsentiert sind. Durch die Machtungleichheit haben sie einen geringeren Einfluss auf politische Entscheidungen und gesellschaftliche Gestaltungsprozesse als Männer, deren Lebenswelt und politisches Verhalten den politischen Prozess in allen Gesellschaften, die wir kennen, immer noch normiert.
Basierend auf dem Gender-Ansatz geht es den Herausgeberinnen darum, herauszuarbeiten, welche Faktoren die Teilhabe an der Politik beeinflussen und aufgrund welcher Prozesse und Zusammenhänge Frauen doch in Spitzenpositionen gelangen und dort politischen Einfluss ausüben können. Das „magische Dreieck“ politischer Partizipation von Frauen – ein von Beate Hoecker entwickeltes Modell, das die Verfasserinnen für die Untersuchung heranziehen – unterscheidet drei Einflussfaktoren: sozioökonomische Faktoren eines Landes wie Bildung und Erwerbstätigkeit, institutionelle Faktoren des politischen Systems sowie die politische Kultur mit den entsprechenden Werten und Einstellungen und der vorherrschenden Gender-Ideologie. Die Rolle dieser Einflussfaktoren wird basierend auf statistischen Daten und Umfrageergebnissen (z. B. World Values Survey), auf quantitativen Vergleichsindikatoren zur Messung von Geschlechterunterschieden sowie mithilfe einer umfangreichen Sekundärliteratur und vorliegender Biographien dargestellt. Damit präsentiert diese Studie zu Regierungs- und/oder Staatschefinnen in verschiedenen Weltregionen erstmals eine empirisch gut fundierte Bestandsanalyse.
Die globale Perspektive, die das Handbuch ausbreitet, erweist sich als theoretisch und lebensweltlich äußerst aufschlussreich. Es befasst sich mit den Weltregionen Asien und Ozeanien, subsaharisches Afrika, Naher und Mittlerer Osten, Europa, Südamerika und Karibik sowie in knapper Form mit weiteren Ländern. Eine allgemeine Charakterisierung der Region leitet die einzelnen Kapitel ein, dann werden die Länder mit weiblicher Führung anhand der drei Faktorenbündel – sozioökonomische Situation, politische Systeme und politische Kultur – untersucht und die Ergebnisse durch zahlreiche Tabellen und Grafiken dargestellt.
Dadurch wird nicht nur der Blick auf die Verschiedenheit von Lebens- und Arbeitsbedingungen geöffnet, sondern es wird auch deutlich, wo Unterschiede und Gemeinsamkeiten zwischen den Ländern und innerhalb der Weltregionen liegen. So zeigen die Verfasserinnen, dass die vergleichsweise hohe Anzahl von Spitzenpolitikerinnen in Süd- und Südostasien nicht die Teilhabechancen von Frauen auf nachgeordneten politischen Ebenen in der Region widerspiegelt. Widersprüchliche Realitäten werden so sichtbar, etwa wenn die Repräsentanz von Frauen in Pakistan im Parlament mit 21% hoch, ihr gesellschaftlicher Bildungsstand mit einer Analphabetenrate von mehr als zwei Dritteln jedoch äußerst niedrig ist. In afrikanischen Ländern mit Staats- und Regierungschefinnen wiederum ist ein bedeutender Anstieg in den parlamentarischen Repräsentationsraten von Frauen in der letzten Dekade zu verzeichnen (S. 91 f.). Aufschlussreich ist auch die Schilderung der Frauenbewegung sowie die Darstellung von Ansätzen zu Empowerment und Reform in der islamischen Welt (S. 138 f.). Für Europa ist die außerordentlich große Bandbreite politischer Präsenz mit großen Unterschieden zwischen den Ländern bezeichnend, etwa zwischen Skandinavien und Südeuropa.
Im Anschluss an die Analyse der Situation in den einzelnen Ländern werden deren Spitzenpolitikerin(nen), ihr Werdegang, ihre Ziele und die Beurteilung ihrer Arbeit vorgestellt. Dabei finden sich erhebliche Unterschiede, so ist den Verfasserinnen zuzustimmen, wenn sie feststellen, dass es keinen Prototyp einer weiblichen Staats- oder Regierungschefin gibt (S. 10).
Angereichert durch Einzelbiographien der wichtigsten Politikerinnen weltweit bietet das Handbuch eine sehr gute Gesamtschau auf das, was Frauen in der Politik – trotz oft widriger Umstände – geleistet haben und zurzeit leisten. Zu den dargestellten Persönlichkeiten gehören die Präsidentin Liberias Ellen Johnson-Sirleaf, die sich zum Ziel gesetzt hat, das durch jahrzehntelangen Bürgerkrieg zerstörte Land wiederaufzubauen, und hierfür auch das Tabu der Vergewaltigung von Frauen und der sexuellen Gewalt öffentlich thematisiert hat, und die inzwischen zur Außenministerin ernannte US-Präsidentschaftskandidatin der Demokraten, Hillary Clinton oder die durch keine formale Bildung qualifizierte ehemalige Premierministerin der Zentralafrikanischen Republik Elisabeth Domitien. Unter den europäischen Spitzenpolitikerinnen finden so verschiedene Persönlichkeiten wie die ehemalige türkische Ministerpräsidentin Tansu Ciller, die britische Premierministerin Margret Thatcher oder Kanzlerin Angela Merkel in Deutschland Beachtung.
Der insgesamt positive Gesamteindruck des Handbuchs wird durch einige Darstellungsmängel leicht geschmälert. Historisch negativ konnotierte Begriffe wie ‚Führer‘ stören auch in der weiblichen Form; anstelle der direkten Übersetzung aus dem Englischen (leader) wäre es geschickter, von politischen Führungspersönlichkeiten zu sprechen. In den Kapiteln sind zuweilen Schaukästen eingefügt, wobei der didaktische Stellenwert der Abgrenzung vom Text nicht immer ersichtlich ist; bei den sehr hilfreichen Kurzbiographien in Kastenform fehlt teilweise eine Länderzuordnung der Politikerinnen. Angesichts der Fülle an Biographien ist es zudem bedauerlich, dass kein Personenregister vorhanden ist.
Angesichts der immer noch bestehenden Machtungleichheit zwischen den Geschlechtern liefert das Handbuch erstmals einen alle Weltregionen umfassenden, systematischen Überblick über die politische Partizipation von Frauen. Es ist informativ und anschaulich geschrieben, übersichtlich gegliedert und bietet eine Fülle an Anschauungsmaterial. Ein sehr gutes Handbuch für die Lehre, das auch für eine breitere, an Gender-Themen interessierte Öffentlichkeit geeignet ist. Die Verfasserinnen haben ein Werk vorgelegt, das zum Weiterdenken und Erforschen der komplexen gesellschaftlichen Geschlechterungleichheiten anregt.
URN urn:nbn:de:0114-qn102282
Prof. Dr. Christiane Lemke
Leibniz Universität Hannover
Professorin für Politische Wissenschaft an der Leibniz Universität Hannover; Sprecherin des Jean Monnet European Center of Excellence; Gastprofessuren an der Unversity of North Carolina at Chapel Hill und an der Harvard University
Homepage: http://www.ipw.uni-hannover.de/christiane_lemke.html
E-Mail: lemke@ipw.uni-hannover.de
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