Meistererzählungen und die Geschlechtergeschichte

Rezension von Serpil Hengeöz

Karen Hagemann, Jean H. Quataert (Hg.):

Geschichte und Geschlechter.

Revisionen der neueren deutschen Geschichte.

Frankfurt am Main u. a.: Campus Verlag 2008.

370 Seiten, ISBN 978-3-593-38382-8, € 34,90

Abstract: Nach fast 40 Jahren Frauen- und Geschlechtergeschichte untersuchen renommierte Historiker und Historikerinnen aus Deutschland und den Vereinigten Staaten, inwieweit ‚Geschlecht‘ als Gegenstand und Analysekategorie in die Geschichtswissenschaft Eingang gefunden hat. Anhand von Schlüsselthemen zur neueren deutschen Geschichte beleuchten sie Einfluss sowie Grenzen der historischen Frauen- und Geschlechterforschung. Der Band demonstriert, dass die systematische Einbeziehung der Kategorie ‚Geschlecht‘ zu weitreichenden Neuinterpretationen in der Historiographie zur deutschen Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts geführt hat.

Seit den emphatischen Aufrufen, der Hälfte der Menschheit ihre Vergangenheit zurückzugeben und damit auch die sogenannte ‚allgemeine‘ Geschichte zu verändern, hat sich die Frauen- und Geschlechtergeschichte zu einem stark expandierenden Forschungsgebiet entwickelt. Unbestritten hat sie inhaltlich wie methodisch maßgeblich zur Innovation der Geschichtswissenschaft beigetragen. Die Frage jedoch, inwieweit es ihr tatsächlich gelungen ist, die Meistererzählungen der Geschichte umzuschreiben und damit die historischen ‚Großdeutungen‘ zu verändern, steht im Zentrum des vorliegenden Sammelbandes, der von Karen Hagemann und Jean H. Quataert herausgegeben wurde. Er „bilanziert in transatlantischer Perspektive den Einfluss der Frauen- und Geschlechterforschung auf die Geschichtsschreibung zur neueren deutschen Geschichte.“ (S. 11) Elf renommierte amerikanische und deutsche Historikerinnen und Historiker vergleichen die Forschungsentwicklung sowie den Forschungsstand in der Bundesrepublik Deutschland und den Vereinigten Staaten. Anhand von Fallstudien zu Schlüsselthemen der deutschen Geschichte untersuchen sie, in welchem Ausmaß ‚Geschlecht‘ als Gegenstand und Analysekategorie die verschiedenen Disziplinen der Geschichtswissenschaft beeinflusst hat.

Nation, Militär und Kolonialismus

Angelika Schaser untersucht unter dem Titel „Nation, Identität und Geschlecht“ die neuere deutsche Nationalgeschichtsschreibung aus frauen- und geschlechterhistorischer Perspektive. Als wichtige Themenfelder einer Nationalismusforschung, die geschlechtsspezifische Aspekte berücksichtigt, nennt sie die Beteiligung von Frauen an nationalen Bewegungen, die diskursive Konstruktion der Nation, nationaler Symbole und Repräsentationen, die Entstehung eines nationalen Bewusstseins sowie das Zusammenspiel von individueller und kollektiver Erinnerung. Während diese thematischen Bereiche dies- und jenseits des Atlantiks gleichermaßen behandelt werden, beschäftigen sich insbesondere deutsche Historikerinnen zudem mit Männlichkeitskonstruktionen. Nichtsdestoweniger resümiert Schaser, dass sich ‚Geschlecht‘ als Kategorie innerhalb der Analyse von Nation und Nationalstaat erst allmählich etabliert. Zwar scheint die Integration kulturgeschichtlicher Fragestellungen in die Sozial- und Gesellschaftsgeschichte diesen Prozess zu beschleunigen, doch bleibt die Meistererzählung davon bisher unberührt.

Zu einem ähnlichen Befund gelangt Karen Hagemann, die den Zusammenhang von Geschlechtergeschichte und Militärgeschichte thematisiert. Die Militärgeschichte, die lange Zeit zu den traditionellsten Bereichen der Historiographie zur deutschen Geschichte gehörte, hat sich in den letzten 15 Jahren zu einem innovativen Forschungsfeld entwickelt. Insbesondere beeindruckt die Vielfalt der Ansätze, mit denen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler in der BRD und den USA im letzten Jahrzehnt Militär und Krieg in der deutschen Geschichte untersuchen. Dementsprechend sind die Ergebnisse der geschlechtergeschichtlichen Forschung zu diesem Themenkomplex von grundlegender Bedeutung. Dennoch behandelt die sogenannte ‚allgemeine‘ Militärgeschichte auf beiden Seiten des Atlantiks die Geschlechterdimension nach wie vor nur am Rande, so dass eine Revision dieses Forschungsfeldes noch aussteht.

Im Vergleich zur Militärgeschichte bildet die Geschichte des deutschen Kolonialismus einen verhältnismäßig neuen Gegenstand der historischen Forschung. Ausgehend von der deutschen Geschichtsschreibung, die erst allmählich die Debatten der britischen und amerikanischen Forschung rezipiert, verweist Birthe Kundrus darauf, dass eine Geschlechtergeschichte des Kolonialismus ebenso erst im Entstehen begriffen ist. Daher sind die Studien, die sich einem geschlechtergeschichtlichen Ansatz verpflichtet sehen, bisher vorwiegend durch eine Verengung der Kategorie ‚Geschlecht‘ auf Frauen bzw. Weiblichkeit geprägt. Obgleich viele Projekte diesen Themenkomplex zurzeit erarbeiten, bleibt die Stellung geschlechtergeschichtlicher Ansätze innerhalb der Kolonialismusforschung unsicher.

Politik und Protest, Klasse und Arbeit

Unter dem Titel „Das Private ist politisch“ gibt Belinda Davis einen Überblick über die amerikanische und bundesdeutsche Historiographie zum Thema Geschlecht, Politik und Protest seit den 1970er Jahren. Hierbei verbindet sie die Geschichtsschreibung über Staat und staatsorientierte Politik mit der Geschichte des sozialen Protests. Die Autorin arbeitet heraus, wie die Frauen- und Geschlechtergeschichte den Politikbegriff maßgeblich erweitert hat, der heute weit über den Staat und dessen Institutionen hinausgeht und auch das so genannte Private als politisch begreift.

Insbesondere dieses Potential der historischen Frauen- und Geschlechterforschung, vorherrschende Begriffe und Periodisierungen der Geschichtswissenschaft grundlegend neu zu konzeptualisieren, betont auch Kathleen Canning. Sie untersucht die Relevanz der Schlüsselbegriffe „Klasse, Staatsbürgerschaft und Wohlfahrtsstaat“ für die Entwicklung der deutschen und europäischen Geschlechtergeschichte. Hierbei unterstreicht sie, dass die feministische Forschung zu Arbeiterbewegung und Arbeitsalltag maßgeblich für den Übergang zur Geschlechtergeschichte war. Insbesondere habe die Kategorie ‚Geschlecht‘ in Kombination mit ‚Klasse‘ und ‚Arbeit‘ für die Analyse von Staatsbürgerschaft und Wohlfahrtsstaat Erkenntnismöglichkeiten hervorgebracht, die vor allem für die Forschung zum Kaiserreich und zur Weimarer Republik wegweisend waren. Vor dem Hintergrund dieser innovativen Kraft der geschlechterhistorischen Forschung steht Canning ihrer Integration in den akademischen Mainstream kritisch gegenüber.

Religion, deutsch-jüdische Beziehungen und Nationalsozialismus

Mit einem Arbeitsfeld der Geschichtswissenschaft, das in den letzten Jahren vor allem durch frauen- und geschlechterhistorische Arbeiten an Bedeutung gewonnen hat, beschäftigt sich Ann Taylor Allen. Unter dem Titel „Religion und Geschlecht“ bietet sie einen historiographischen Überblick zur religionsgeschichtlichen Forschung. Die Autorin hebt hervor, dass Arbeiten in diesem Forschungsfeld sowohl individuelle religiöse Erfahrungen als auch die Bedeutung von Religion für die Konstruktion kollektiver Identitäten herausgearbeitet haben. Nicht zuletzt in diesem Kontext fordert sie, religiösen Glauben nicht nur als eine Spur der Vergangenheit zu begreifen, sondern auch als eine wichtige Kraft der Gegenwart.

Im Anschluss daran geht Ben Maria Baader mit der Frauen- und Geschlechterforschung zur deutsch-jüdischen Geschichte einem verwandten Thema nach. Um diesem komplexen Themenfeld gerecht zu werden, arbeitet Baader wichtige Verbindungslinien der verschiedenen Historiographietraditionen heraus. Hierbei konzentriert er sich zum einen auf das Beziehungsgefüge zwischen deutscher und jüdischer Geschichtsschreibung und zum anderen auf die Entwicklung der Frauen- und Geschlechterforschung zur deutsch-jüdischen Geschichte. Baader betont, dass die deutsch-jüdische Frauen- und Geschlechtergeschichte zu einem Bestandteil deutscher Geschichte geworden ist. So sei vor allem die Geschichte jüdischer Frauen und Männer aus der deutschen Sozialgeschichte nicht mehr wegzudenken.

Die Frauen- und Geschlechtergeschichte hat ebenso die Geschichtsschreibung zum Nationalsozialismus und in geringerem Maße zum Holocaust wesentlich bereichert und erweitert. Unter dem Titel „Geschlecht, Gedächtnis und Geschichtsschreibung“ analysiert Claudia Koonz die Historiographie zum ‚Dritten Reich‘ und zum Holocaust. Sie betont, dass insbesondere der allgemeine Paradigmenwechsel in der Geschichtswissenschaft, die Internationalisierung der Forschung sowie der Wandel der Politik des öffentlichen Gedenkens Veränderungen auf diesem Forschungsfeld begünstigten. Wenngleich die historische Frauen- und Geschlechterforschung die Meistererzählungen zum Nationalsozialismus nicht zu beeinflussen vermochte, sei sie doch in alle Bereiche des Mainstream vorgedrungen.

Sexualität und Familie

Dass es überhaupt noch einen Mainstream der Geschichtswissenschaft gibt, in den die Geschichte von ‚Geschlecht‘ und insbesondere von ‚Sexualität‘ integriert werden könnte, stellt dagegen Atina Grossmann in Frage. Sie befasst sich mit der Bedeutung von Sexualität und Körper in den Kontinuitäten und Brüchen der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts. In ihrem Forschungsüberblick arbeitet sie Möglichkeiten, Grenzen und Probleme von Sexualität als Fokus historischer Untersuchung heraus. Grossmann betont, dass die akademische Anerkennung des historischen Studiums der Sexualität einen wesentlichen Erfolg der Frauen- und Geschlechtergeschichte darstellt.

Im letzten Kapitel behandelt Robert G. Moeller unter dem Titel „Unbenannt und allgegenwärtig“ die Familie in der deutschen Zeitgeschichtsschreibung. Er kritisiert die Frauen- und Geschlechtergeschichte, welche die Erforschung dieses Gegenstandes zwar angestoßen, dann aber viel zu lange vernachlässigt habe. Die ‚Familie‘ bildet daher in der aktuellen historischen Frauen- und Geschlechterforschung keinen eigenständigen Forschungsgegenstand, sondern ist beispielsweise unter den Themen Sozialpolitik, Wohlfahrtstaat, Konsum und Staatsbürgerrecht zu finden. Vor diesem Hintergrund schlägt der Autor ein vielschichtiges Verständnis von Familie vor und fordert, sie erneut in die Hauptthemenfelder der modernen deutschen Geschichte sowie der Geschlechtergeschichte einzubringen.

Fazit

Anfang des 21. Jahrhunderts, nach fast 40 Jahren Frauen- und Geschlechtergeschichte, bildet ‚Geschlecht‘ einen wesentlichen Bestandteil der historischen Forschung zur neueren deutschen Geschichte. Der Band zeigt die Bedeutung der Geschlechterforschung für verschiedene historische Themenfelder, theoretische Ansätze und Methoden. Ohne Frage hat die Geschlechterperspektive – gerade weil sie außerhalb des Mainstream stand - die Historiographie zur modernen deutschen Geschichte herausgefordert und wesentlich verändert. Ob die geschlechtergeschichtliche Forschung jedoch den alten Meistererzählungen neue bedeutende historische Narrative gegenüberstellen wird, bleibt abzuwarten.

URN urn:nbn:de:0114-qn102316

Serpil Hengeöz

Universität zu Köln

Historisches Seminar I, Universität zu Köln

E-Mail: serpil.hengeoez@uni-koeln.de

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