Die Mobilisierung des Kostüms. Überlegungen zur Rolle des Rockes in formeller und halbformeller Kleidung

Charlotte Giese

Abstract: Die seriöse Repräsentation von Staat und Unternehmen ist untrennbar verbunden mit dem Herrenanzug und seinem weiblichen Pendant, dem Hosenanzug. Auch das Kostüm, die Kombination aus Jackett und Rock, ist an den Herrenanzug angelehnt und war den damaligen Kleidungskonventionen entsprechend eher da als der weibliche Hosenanzug. Dieser Beitrag befasst sich mit der heutigen Bedeutung des Rockes für formal-repräsentative Anlässe und seinen halbformellen Weiterentwicklungen. Der Rock wird in urbaner Alltagskleidung zunehmend ersetzt durch eine Kleidung-Körper-Formation aus enger Hose und Frauenbein. Die Anpassung des Outfits an das urbane Mobilitätsverhalten und die Codierung des Kostüms als weiblich verdrängen ihn zunehmend aus der (halb-)formellen Alltagskleidung.

Einführung: Seriös im Anzug

Der Blick in die Zeitung, in Magazine, ins Internet oder ins TV bestätigt: Der Herrenanzug ist aus Politik und Wirtschaft nicht wegzudenken. Als Evergreen der formellen Kleidung findet er besondere Beachtung, nicht nur in den Medien, sondern auch in der Kulturwissenschaft. An der Universität Oldenburg beleuchtete man im Mai 2009 seine unterschiedlichsten Facetten im Rahmen des Symposiums „Evidenz und Ambivalenz des Herrenanzugs“[1], unter anderem auch seine Rolle in der Repräsentation von Institutionen.[2] Wo auch immer eine Institution, ob Staat oder Wirtschaftsunternehmen, verkörpert werden soll, kann man davon ausgehen, dass ein Herrenanzug im Spiel ist bzw. ein Hosenanzug oder Kostüm bei den Frauen, bestehend aus Jackett plus Rock.

Die männliche Politik und die Entscheiderebene in Wirtschaftsunternehmen[3] trägt üblicherweise Anzug. Ausnahmen bestätigen wie immer auch hier die Regel und werden in den Medien als Konventionsbruch thematisiert. So wurde z. B. FIAT-Chef Sergio Marchionne bei der Zusammenkunft mit Bundes-Wirtschaftsminister zu Guttenberg Anfang Mai 2009 nicht mit Jackett, sondern im Strickpulli gesichtet. Dafür ist er bekannt, und dieses ‚Markenzeichen‘ beschert ihm gleichzeitig immer wieder mediale Aufmerksamkeit. Die Konvention verlangt von Staats- wie Wirtschaftsrepräsentanten offenbar nach wie vor ein vollständiges Anzug-Ensemble aus Hemd, Hose, Jackett und Krawatte. Strickpullover gehören nicht dazu. Vielmehr wird bei einem solchen eher dem Privaten zugeordneten und im Gegensatz zum rüstungsähnlichen, ausgepolsterten Jackett anschmiegsamen Kleidungsstück (vgl. Ellwanger 2002, 109) im medialen Diskurs die Machtausstrahlung infrage gestellt.[4] Offensichtlich gilt hierzulande der Herrenanzug in Gänze als staatstragend, nicht aber seine Fragmente in Kombination mit informelleren Elementen wie Pullovern. Der Herrenanzug ist in der Wahrnehmung eng mit Seriosität und Kompetenz verknüpft (vgl. z. B. Szodruch 2008). Trugen früher vor allem Männer im als seriös und sachlich codierten Outfit die politische und wirtschaftliche Verantwortung, spielen seit Anfang des 20. Jahrhunderts zumindest in der europäischen Politik zunehmend durchaus auch Frauen tragende Rollen. Für die Teilnahme am öffentlichen Arbeits- und politischen Leben haben sich die Frauen schon früh den Herrenanzug angeeignet, ob als Jackett mit Rock oder später als Hosenanzug, allerdings nicht vollständig mit Hemd und Krawatte, sondern mit einer ‚weicheren‘ Variante, die z. B. ein lockeres Halstuch genauso zulässt wie ein ausgeschnittenes Shirt unter der Jacke (Ellwanger 2002, 116 ff.). Augenfällig ist jedenfalls die Analogie von Business-Anzug und Staats-Anzug als institutionelle Repräsentationskluft, die ein sachlich-seriös-männliches Auftreten auch für Frauen obligatorisch werden lässt. Der Rock im Kostüm markiert das eigentlich männlich codierte Business-Outfit als weiblich. Folgt man der These von Silke Wenk, dass in der Moderne ‚Nation‘, also die Gemeinschaft, vor allem durch weibliche Allegorien repräsentiert wird (Wenk 1996), steht das Rocktragen der Repräsentation von ‚Staat‘ eigentlich entgegen. Dieses Modell bestätigt sich im umgekehrten Sinne aktuell durch Michelle Obama, die in ihrer aktiven Zeit vor der Wahl ihres Mannes zum US-Präsidenten ihre eigenständige Arbeit in Hosenanzügen verrichtete und für ihre Rolle an der Seite des Präsidenten mittlerweile vor allem zu (mitunter ärmellosen und heiß diskutierten) Kleidern übergegangen ist.[5] Sie trug also während ihrer Berufstätigkeit kein Kostüm, sondern die weibliche Variante des Herrenanzugs, wie es heute bei vielen Frauen populär ist. Ob es bewusst oder unbewusst geschieht: Was bedeutet das Rocktragen oder der Verzicht darauf?

Ich möchte der Frage nachgehen, welchen Status der Rock in formeller und halbformeller Kleidung heute hat und mit einem Blick auf Politik und Wirtschaft[6] mögliche Gründe dafür erörtern.

Ist mit dem Rock Staat zu machen?

Der Rock ist kein Strickpulli. Er gehört als Teil des weiblichen Kostüms analog dem Herrenanzug eigentlich zum formellen Repertoire. Aber können Frauen mit ihm ‚Staat‘ auf Dauer glaubwürdig darstellen? Es mag ihre persönliche Vorliebe sein, die aber zu einer eindeutigen Aussage führt: Bundeskanzlerin Angela Merkel erscheint zu offiziellen politischen Anlässen nicht im Kostüm, sondern immer im Hosenanzug.[7] Auch wenn sie auf offiziellen Fotos auf den Webseiten http://www.bundeskanzlerin.de und http://www.bundesregierung.de immer in schwarzen Jacken abgebildet ist, sieht man sie bereits seit Jahren sowohl im Tagesgeschäft als auch bei offiziellen Staatstreffen wie z. B. dem G8-Gipfel oder beim Besuch von Barack Obama in auffallend farbigen Jacken, mit denen sie sich visuell von den gedeckten Farben der Herren abhebt. In der Inszenierung wird das ‚weibliche‘ Stilmittel (Farbe) in einen Hosenanzug eingebettet und damit weniger als ‚weiblich‘ wahrgenommen als im Vergleich ein farbiges Kostüm.

Ähnlich austarierte Outfits findet man bei der Schweizer Außenministerin Micheline Calmy-Rey, die überwiegend dunkle Hosenanzüge mit weißen Blusen trägt. Sie kombiniert dazu oft ein ‚typisch‘ weibliches Kleidungselement jenseits des Rockes wie z. B. einen verzierten Hüftgürtel oder eine Art Leibchen über der weißen Bluse. Sehr selten sieht man Fotos von ihr in heller Kleidung bzw. im dunklen Kostüm mit Rock. Ihre Kleidung ist, zumindest auf den ersten Blick, in ihrer kontrastreichen Strenge noch näher am Herrenanzug der männlichen Kabinettsmitglieder angesiedelt, auch wenn sie ab und zu im Rock auftritt.

Frauen in staatstragenden Ämtern wandeln mit ihrer Kleidung in der öffentlichen Wahrnehmung stets auf dem schmalen Grat zwischen ‚zu männlich‘ und ‚zu weiblich‘. Beides würde in der in Kleidungserwartungen verhafteten Öffentlichkeit zu einem Glaubwürdigkeitsverlust führen. Viele Politikerinnen tragen heute Hosenanzug, vermutlich auch aus rein praktischen Gründen. Der Rock und damit auch das Kostüm haben möglicherweise zwei strategische Nachteile. Erstens ist mit üblicherweise einem schmalen, etwa knielangen Rock – selten gibt es beim Kostüm deutlich längere und kürzere Varianten– die körperliche Mobilität eingeschränkt, weshalb er von vielen schlichtweg im Alltag als unpraktischer empfunden wird. So erlaubt die Hose mehr Bewegungsfreiheit als ein knielanger schmaler Rock, der z. B. spezielle Sitztechniken erfordert. Zweitens beinhaltet er als eindeutig weiblich codiertes Kleidungsstück eine sexuelle Konnotation, die vielleicht sogar unbewusst von den Trägerinnen und Berater/innen als weniger geeignet empfunden wird: Bedeckt der Rock zwar den Schritt der Frau, enthüllt er aber das „nur noch hauchdünn bekleidete Frauenbein“, das seit „dem Eintritt der Frauen in die Moderne“ für „Erweiterung und Erotisierung der Mobilität“ steht (Ellwanger 2002, 116). Dem Kostüm steht möglicherweise seine eigene Geschichte im Weg.

Es steht einerseits für die Teilhabe von Frauen am öffentlichen Leben, andererseits aber auch für ihr ‚anderes‘ Dasein als Frauen. Neben dem Eintritt in die Politik der Weimarer Republik nahmen die jungen Frauen seither auch nicht zuletzt am Arbeitsleben teil, insbesondere aber als Hilfsarbeiterinnen, Stenotypistinnen usw. Ihre Berufstätigkeit gaben sie mit Heirat in den meisten Fällen häufig auf. (Die Rolle von jungen Frauen im frühen 20. Jahrhundert veranschaulichen z. B. Siegfried Kracauer in seinem Essay „Die Angestellten“ oder Irmgard Keun in ihrem Roman „Das kunstseidene Mädchen“.) Verantwortliche Positionen lagen in den allermeisten Fällen in weiter Ferne. Der Rock gehörte bis in die 1970er Jahre nicht nur im Deutschen Bundestag (Ellwanger 2002, 118), zur weiblichen Kleiderordnung; die Hose wurde erst spät als Teil der weiblichen Garderobe akzeptiert (vgl. Wolter 1994). Die Frauen konnten kaum umhin, sich die Anzugjacke als männliches Symbol anzueignen und es mit dem hierzulande eindeutig Frauen zugeordneten Rock zu kombinieren. Damit konnten sie zwar am Spiel der männlich konnotierten Ökonomie in gewisser Weise teilhaben, aber bis an die Spitze eines Wirtschaftsunternehmens oder eines Staates gelangten erfahrungsgemäß in dieser Kombination nur wenige (eine Ausnahme wäre z. B. Margret Thatcher mit dem aussagekräftigen Beinamen „Iron Lady“). Der Rock bzw. das Kostüm als historischer Kompromiss aus Herrenanzug und Frauenkleidung ist demnach historisch mit Weiblichkeit, niedrigeren Hierarchiestufen und Sekretärinnen-Image verknüpft und wohl eher mit Sexappeal denn mit „männlich-sachlicher“ Ausstrahlung (Ellwanger 2002, 118) belegt. Der Hosenanzug wirkt in der Schlussfolgerung daher insbesondere auch deshalb seriös-kompetent, weil er keine ablenkenden sexuellen Signale wie die Beine enthüllt. Um Staat zu machen, muss augenscheinlich die Hose her.

Die Hose und die Silhouette des weiblichen Beins

Der Anzug steht also in seiner männlichen wie weiblichen Variante für Formalität, institutionalisierte Seriosität und (Staats-) Männlichkeit, Stabilität und Sicherheit, für Erfolg und Professionalität. Wie sieht es aber auf einer weniger formalen Ebene aus, wenn nicht die Repräsentation einer Institution wie Unternehmen oder Staat im Vordergrund steht, sondern operatives Alltagsgeschäft mit speziellen Kompetenzen eingekleidet wird, z. B. bei Freiberuflern oder auch bei Angestellten einer projektbasierten Ökonomie? Arbeitsstrukturen haben sich dynamisiert und mobilisiert, die Treffen werden zunehmend informeller, Zeit und Raum von Arbeit lösen sich auf (vgl. Tully/Baier 2006). Je nach Branche ist es durchaus üblich, sich nach dem jeweiligen Tagesablauf zu kleiden, statt morgens zur ‚Büro-Uniform‘ zu greifen. Ob offizielles Meeting, reine Büro-Arbeit oder gar Home-Office, die Outfits werden variantenreicher und vor allem: bequemer und praktischer. Denn auch sich abwechselnde Arbeits- und Freizeitcluster (Bröckling 2007, 48 f.) fordern ihren multimodalen Mobilitäts-Tribut. Anzug und Aktentasche des Pendlers weichen informelleren Outfits mit Anzugfragmenten je nach Formalitätsgrad und Umhängetasche mit Büro-Ausstattung und sonstigem urbanen Survival-Kit von der Wasserflasche bis zum iPod.

Das ist nun nicht neu. Bereits in den 1980er Jahren wurde der Anzug variantenreicher und brachte in Kombinationen salonfähige Beweise von Coolness hervor. Ob Crockett und Tubbs in Miami Vice mit aufgekrempelten Sakko-Ärmeln und Mokassins ohne Socken, ob im Alltag als Sakko zur Jeans oder als ‚Casual Friday‘: Allen Varianten blieb im Ensemble ein Stück weit Eleganz und Ausstrahlung des Anzugs. Diese informelleren Outfits haben sich nach dem Aufmerksamkeitsüberschuss der Anfänge sukzessive in den Konventionen etabliert und weiterentwickelt. Es wurden auch weibliche Pendants ausgebildet, die sich seit Kurzem in einem beachtenswerten Stadium befinden.

Mit einem Blick auf aktuelle Frauenkleidung bzw. vor allem auf die Silhouette fällt ein Phänomen ins Auge, das erneut die Beine in gewisser Weise als erotisierte Attraktion in Szene setzt: Viele Frauenhosen sind hauteng, die Beine werden z. B. durch Stiefel betont, in die die Hose zumeist hineingesteckt wird, oder auch durch Leggings, Overknees und Stulpen zum Blickfang gekürt. Dies geschieht zwar weniger wie seinerzeit durch bestrumpftes Entblößen, sondern eher durch (Teil-) Verhüllen und durch entsprechend kurze Oberteile, aber das Bein steht im Fokus der augenblicklichen Mode. Und das nicht nur bei der informellen Kleidung, sondern auch in Varianten der Businesskleidung. Viele Frauen tragen im (Berufs-) Alltag ‚Business Casual‘, eine Art halbformelle Form der Business-Kleidung, z. B. enge Jeans und Stiefel zum Jackett. Man kann dies als eine Verschiebung deuten, die das eng verhüllte Bein zwar wieder sexualisiert, aber es durch die Verhüllung auch für den formelleren Kontext salonfähig macht. Das weibliche Bein wird mit der Seriosität männlicher Hosen bekleidet, die ihnen aber durch die Körperbetonung gleichzeitig auch wieder entzogen wird. Setzt man hautenge Hosen mit Stiefeln mit bestrumpften Beinen gleich, erhält man ein dem Kostüm vergleichbares Ensemble – mit auf Hosenbasis pseudo-verhüllten Beinen. Eine Art neo-urbane Form des Kostüms. Die Beine sind verhüllt und (vermeintlich) vor Blicken geschützt, die Bewegungsfreiheit ist nicht eingeschränkt wie bei einem schmalen Rock. Trotzdem werden die Beine durch die Kürze der Jacke freigelegt, durch die Enge der Hose betont und ihre Silhouette nachgezeichnet.

Dieses weibliche Business Casual ist damit eine Weiterentwicklung und Informalisierung des weiblichen Business-Outfits, parallel zu den männlichen Anzug-Fragmenten. Die Stiefel-Hosen-Kombination ist weniger eine ‚Angleichung‘ der Frauen an den Mann durch Aneignung ursprünglich männlich codierter Kleidung. Vielmehr wird ein mittlerweile ‚unisex‘-Kleidungsstück, die Hose, sozusagen ein Stück weit umgedeutet und bildet als eindeutiger Bestandteil eines weiblich codierten Outfits eine Einheit mit einem Körperteil, dem weiblichen Bein. Das weibliche halb-formelle Outfit wird durch die verhüllten Beine versachlicht und für die urbane Alltagsmobilität optimiert; gleichzeitig bleibt die Silhouette des weiblichen Beines erhalten. Es ist eine neue kreative Zwischenform, die Mobilität, Seriosität und Weiblichkeit der Frauen im urbanen Alltag miteinander verbindet und modisches Symbol der dynamisierten und flexibilisierten urbanen Arbeitsformen.

Fazit: Mobile Zeiten

Im entstandenen Hose-Stiefel-Outfit der letzten Jahre als urban-mobile Verhüllung des Frauenbeines haben sich die dynamisierten urbanen Lebensumstände in Kleidung und Mode eingeschrieben. Der urbane Alltag erfordert von den Akteuren mehr Mobilität, die ein Rock-Outfit offenbar für viele Frauen nicht (mehr) erfüllen kann. Es wäre sicherlich lohnenswert, die Rock-Tragegewohnheiten im (Arbeits-) Alltag oder das derzeitige ‚Image‘ des Rockes in urbanen Kontexten näher zu untersuchen, um seinen Status noch zu präzisieren. Ablesbar ist jedenfalls, dass das Kostüm – ähnlich wie der Herrenanzug – in den letzten Jahren im allgemeinen Stadtbild seltener geworden ist. Das dürfte ähnlich wie die Herrenanzugdichte sicherlich von Stadt zu Stadt divergieren. Die fällt nach eigener Beobachtung in einem Vergleich z. B. des Pendlerverkehrs im öffentlichen Personentransport in Berlin und München in München frappierend höher aus. Das homogenere Erscheinungsbild der Münchener Pendler bzw. das heterogenere Bild in Berlin kann u. a. als Indiz für eine konservativere Einhaltung von Bürokonventionen in München oder auch auf unterschiedliche Arbeits- (z. B. mobiler Freiberuf versus festes Büro eines Angestellten) und Mobilitätsstrukturen (z. B. Modalmix Fahrrad/ÖPNV versus Auto/ÖPNV) gedeutet werden.

Mit dem Hose-Stiefel-Outfit hat sich im Spannungsfeld von urbaner Mobilität und der vestimentären Darstellung von Geschlecht eine Kombination herausgebildet, in der männliche Kleidung und Frauenkörper hybridisiert werden. Eine ähnliche Entwicklung ist interessanterweise gerade auch beim Herrenanzug zu beobachten. Mica Wirtz diskutierte auf dem Oldenburger ‚Herrenanzug-Symposium‘ mit ihrem Vortrag „How to wear your suit? How to wear your body?“ ein Phänomen, das aus dem aktuell zu beobachtenden Fitness- und Körperkult resultiert. Insbesondere der Herrenanzug ist ein Kleidungsensemble, das den (männlichen) Körper idealisiert und durch aufwendige Schnittkonstruktion viele körperliche ‚Defizite‘ verzeiht (Hollander 1994). An diesen ‚Defiziten‘ werde hart gearbeitet und der Körper heute im Fitness-Studio so lange in Form gebracht, bis er Teile der Anzugfunktion überflüssig mache. Ein trainierter Oberkörper kann z. B. das Erhöhen des Torso-Volumens durch Wattieren der Brust ersetzen; das Jackett wird überflüssig, der von der starren Außenhülle befreite, leichter bekleidete Körper genügt – und wird dadurch nicht zuletzt beweglicher. Teile der formellen Kleidung werden also durch ausgeformte und trainierte Körperteile ersetzt. Ähnliches scheint sich auch für den Frauenkörper zu bestätigen. Durch die engen Hosen wird das Bein eben nicht ver- sondern enthüllt, was die schlanken Beine zum kurzen Rock ersetzt. Und sogar noch mehr: Die Kürze der dazu gewählten Oberteile, z. B. Jacketts bis etwas unterhalb der Taille, legt den Po mit frei, der so in die Kleid-Körper-Formation mit einbezogen wird. Diese Formation darf und sollte insgesamt schlank und sportlich, aber wiederum auch nicht zu muskulös sein, da Muskeln männlich codiert sind und das Bild irritieren würden.[8] Wurde früher der Körper mehr von der Kleidung überformt und bildete die Silhouette, formt der Körper diese heute zunehmend selber, indem Teile der formellen Kleidung durch den Körper ersetzt werden. Die Fragmentarisierung des formellen Outfits und seine Informalisierung sind auf dem Vormarsch.

Dem entspricht auch eine aktuelle Beobachtung aus der Modebranche, die die zunehmende Informalisierung der Herrenkleidung jüngst in der TextilWirtschaft für den Sommer 2010 als sich fortführenden Trend ankündigte.[9] Im Mix aus Arbeit und Freizeit, eben auf der halbformalen Ebene, scheinen sich Kombinationen aus Anzugfragmenten und Sportswear durchzusetzen. Weswegen man Herrn Marchionne mit seinem Strickpulli augenzwinkernd eigentlich auch italienisch-modische Voraussicht bescheinigen könnte. Die institutionalisierte Repräsentationskleidung ist aber noch immer der Herrenanzug und Hosenanzug in Gänze – und wird es wohl auch bleiben. Das komplette formelle Ensemble wird aber möglicherweise künftig tatsächlich als Nischenphänomen bestimmter Berufsgruppen wie Banker/innen einerseits und vor allem offiziellen Repräsentant/innen in Politik und Unternehmen andererseits zementiert, also überall dort, wo die Darstellung von Seriosität und Kompetenz der Institution gefragt ist. Dort wird auch der weibliche Hosenanzug weiterhin eine tragende Rolle spielen, dessen Hose die Beine der Frauen ähnlich lose umspielt wie die Anzughose die der Männer. Man könnte prognostizieren, dass Kostüm und Rock auch auf dieser Repräsentationsebene zunehmend Seltenheitswert bekommen und als traditionell weiblich konnotiertes Kleidungsstück in diesen mobilen Zeiten weiter an Boden verlieren werden.

Anmerkungen

[1]: Ein Tagungsband ist in Vorbereitung.

[2]: Dieser Beitrag knüpft an die Überlegungen aus meinem Vortrag „Ist der Business-Anzug ein Auslaufmodell? Einkleidungen informalisierter Arbeit“ im Rahmen des genannten Symposiums am 08.05.2009 an.

[3]: Was sich mit den Fotos der Vorstandsmitglieder in Geschäftsberichten von börsennotierten Unternehmen immer wieder eindrucksvoll bestätigt, vgl. Szodruch 2008, insb. 139 f.

[4]: Siehe dazu z. B. sueddeutsche.de vom 04.05.09: „Der Retter im Wollpulli“ oder faz.net vom 10.05.09: „Von Mode und Macht. Der Pullover des Sergio Marchionne“. Siehe dazu auch die taz online vom 14.05.09: http://www.taz.de/1/leben/alltag/artikel/1/der-anzug-verzeiht-viel/ (10.06.09). Wirtschaftslenker ohne ‚korrektes‘ Outfit fallen aus dem Rahmen. Vgl. dazu auch Biehl 2007, 128 ff.

[5]: Zur Inszenierung von Weiblichkeit als ‚Gründerinnen‘ jenseits des politischen Machtbereiches in Ausstellungen siehe den Beitrag von Silke Wenk (2002): „Geschlechterdifferenz und visuelle Repräsentation des Politischen“.

[6]: Frauen in Führungspositionen der Wirtschaft finden sich leider kaum, weswegen im ersten Teil die Kleidung von Politikerinnen im Vordergrund steht. Laut einer neuen Auswertung der Hans-Böckler-Stiftung liegt der Frauenanteil in den Vorständen von Aktiengesellschaften weiterhin niedrig bei 3%. http://www.boeckler.de/32006_95294.html (09.06.09)

[7]: Eine Ausnahme bilden gesellschaftliche Events, die für die weibliche Rolle ‚weibliche‘ Gesellschaftskleidung vorsehen, z. B. Abendgarderobe wie bei den Wagner-Festspielen in Bayreuth.

[8]: Für den Gedanken zu den schlanken und sportlichen Beinen danke ich herzlich Mica Wirtz.

[9]: TextilWirtschaft Nr. 23, 04.06.2009: „Informal Wear: Die richtige Balance in der Männermode“, 52–59

Literatur

Biebl, Sabine; Verena Mund; Heike Volkening (Hg.) (2007): Working Girls. Zur Ökonomie von Liebe und Arbeit. Berlin: Kulturverlag Kadmos

Biehl, Brigitte (2007): Business is Showbusiness. Wie Topmanager sich vor Publikum inszenieren. Frankfurt am Main u. a.: Campus Verlag

Brändli, Sabina (1998): „Der herrlich biedere Mann“. Vom Siegeszug des bürgerlichen Herrenanzuges im 19. Jahrhundert. Zürich: Chronos Verlag

Bröckling, Ulrich (2007): Das unternehmerische Selbst. Soziologie einer Subjektivierungsform. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag

Ellwanger, Karen (2002): Kleiderwechsel in der Politik? Zur vestimentären Inszenierung der Geschlechter im Raum des Politischen. In: Landesmuseum Oldenburg (Hg.) (2002): Kleider machen Politik. Zur Repräsentation von Nationalstaat und Politik durch Kleidung in Europa vom 18. bis zum 20. Jahrhundert. Oldenburg: Isensee (Kataloge des Landesmuseums Oldenburg, 19), 108–124

Ellwanger, Karen (1994): Bekleidung im Modernisierungsprozess. Frauen, Mode, Mobilität 1870–1930. Dissertation. Dortmund.

Franck, Georg (1998): Ökonomie der Aufmerksamkeit. Ein Entwurf. München u. a.: Carl Hanser Verlag

Hollander, Anne (1994): Anzug und Eros. München: Deutscher Taschenbuch Verlag

Landesmuseum Oldenburg (Hg.) (2002): Kleider machen Politik. zur Repräsentation von Nationalstaat und Politik durch Kleidung in Europa vom 18. bis zum 20. Jahrhundert. Oldenburg: Isensee (Kataloge des Landesmuseums Oldenburg, 19).

Szodruch, Kerstin Charlotte (2008): Brand Fashion. Eine Studie über die Potentiale von Mode für Marken und Unternehmen. Saarbrücken: VDM

Tully, Claus J.; Baier, Dirk (2006): Mobiler Alltag. Mobilität zwischen Option und Zwang – Vom Zusammenspiel biographischer Motive und sozialer Vorgaben. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften

Wenk, Silke (2002): Geschlechterdifferenz und visuelle Repräsentation des Politischen. In: Härtel, Insa; Schade, Sigrid (Hg.): Körper und Repräsentation. Opladen: Leske + Budrich (Schriften der Internationalen Frauenuniversität ‚Technik und Kultur‘, 7), 223–236.

Wenk, Silke (1996): Versteinerte Weiblichkeit. Allegorien der Skulptur in der Moderne. Köln u. a.: Böhlau

Wolter, Gundula (1994): Hosen, weiblich. Kulturgeschichte der Frauenhose. Marburg: Jonas Verlag

URN urn:nbn:de:0114-qn102326

Dr. Charlotte Giese

Charlotte Giese ist freie Kulturwissenschaftlerin, Referentin und Autorin. Ihre Forschungsinteressen gelten urbanem Lifestyle, Mobilität, Kommunikation und deren Verstrickungen mit Kleidung. An der Universität Oldenburg, an der sie auch promoviert hat, ist sie derzeit an einem Forschungsprojekt zu historischen Kleidungsformen im Wendland beteiligt. Sie lebt in Berlin.

E-Mail: cg@keabo.de

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