Judith Butler:
Krieg und Affekt.
Zürich u.a.: diaphanes 2009.
99 Seiten, ISBN 978-3-03734-079-0, € 8,00
Abstract: Seit einigen Jahren nimmt die gender-Theoretikerin Judith Butler in zunehmendem Maße auch Themen der politischen Ethik in den Blick. Ihre in den drei Texten des schmalen Bandes vorgetragene pazifistische Ideen und ihre Überlegungen angesichts des Irak-Kriegs, aber auch zur Burka oder der universellen Geltung von Menschenrechten sind allerdings nicht immer so originell oder gar überzeugend wie Butlers bahnbrechenden gender-theoretischen Entwürfe während der ersten Hälfte der 1990er Jahre.
„Ich spreche immer gern über Gender“, versichert Judith Butler zu Beginn eines Gespräches mit Jill Stauffer. (S. 69) Das glaubt man ihr sofort; das heißt, glauben muss man es ihr gar nicht: Ihr Œuvre belegt es auf Schritt und Tritt beziehungsweise eben Seite für Seite. Doch in ihrem neuen, aus drei Teilen bestehenden Buch Krieg und Affekt ist davon über weite Strecken nicht allzu viel zu bemerken. Dass der Schwerpunkt des den Band beschließenden Interviews anders gelagert ist, lässt sich jedoch ebenso leicht erklären wie einsehen. Denn es wurde am 22. März 2003 geführt und stand somit ganz unter dem Eindruck des von der Bush-Administration „72 Stunden vor Beginn unserer Unterhaltung“ (ebd.) gestarteten zweiten Irakkrieges. Butler führt die militärische Attacke zunächst darauf zurück, dass die Vereinigten Staaten so „versuchen, das Unrecht, das ihnen am elften September zugefügt wurde, zu rächen“. (S. 70) Zudem habe sich das Land durch die Terroranschläge auf die twin towers „gedemütigt“ gefühlt und mit der kriegerischen „Verbreitung von ‚Schrecken und Ehrfurcht‘ [sein] beschädigtes Gefühl von Unverwundbarkeit und Überlegenheit ‚wiederher[…]stellen‘“ wollen. (ebd.) Versuche, die eigene Verletzbarkeit „auszumerzen“ und sich „als unverwundbar, ja als undurchdringlich vorzustellen“, münden jedoch in einem „entsetzliche[n] Maskulinismus“, konstatiert Butler und fügt fast augenzwinkernd hinzu: „Damit sind wir ganz schön schnell auf Gender gekommen, was?“ (S. 72)
So ist es. Doch wird der gender-theoretische Gedankengang, den Butler nun offensichtlich entwickeln möchte, von der Interviewerin sogleich unterbunden, die lieber „aus der Perspektive der Verletzbarkeit über Politik sprechen“ will (S. 73). Dennoch lässt Butler es sich nicht nehmen, kurz über die „amerikanisch-maskulinistische Militärideologie“ (S. 84) zu sprechen, der sie das „europäische Bekenntnis zum Multilateralismus“ (S. 82) und die „verlässlich anti-nationalistische[n] Strömungen in Europa“ (S. 83) entgegensetzt. Denn wie die Bush-Administration zurückzuschlagen, das „vergrößere“ nur „ die Verletzbarkeit aller und erhöhe die Wahrscheinlichkeit“ (S. 71), dass es zu weiterer Gewalt komme. Aus diesen Gründen gelte es, „Widerstand gegen die Versuchung des Krieges“ zu leisten. (S. 81) Nicht etwa, weil es möglich sei, menschliche Aggressivität ganz abzuschaffen, bleibe der Frieden eine „Aufgabe“, sondern vielmehr gerade „weil wir Aggressionen haben, weil wir fähig sind, Krieg zu führen und zurückzuschlagen und massiven Schaden anzurichten.“ (ebd.)
Neben dem militärischen Maskulinismus kommt Butler im Laufe des Interviews auf ein zweites gender-Thema zu sprechen, und zwar auf eine in einigen islamischen Gesellschaften übliche geschlechtsspezifische Kleidung: die Burka, über deren kulturelle Symbolik und Bedeutung sich die gender-Theoretikerin nach eigener Auskunft bei Lila Abu-Lughod kundig gemacht hat. Die Burka, so erfuhr sie von der zeitweilig in Ägypten tätigen Ethnographin, „symbolisiert“ zunächst einmal, „dass eine Frau bescheiden ist und dass sie ihrer Familie verbunden ist, aber auch dass sie nicht von der Massenkultur ausgebeutet wird und dass sie stolz auf ihre Familie und ihre Gemeinschaft ist“. (S. 86)
Dazu ist zunächst einmal zu bemerken, dass die freie Entscheidung, eine Burka zu tragen, zwar tolerabel sein mag, doch keineswegs sakrosankt ist. Dies ist sie schon alleine deshalb nicht, weil sie den Druck auf diejenigen Frauen dieser Gesellschaften erhöht, welche die Burka nicht aus freien Stücken tragen wollen. Ebenso, wie etwa der bis hin zu gesundheitsgefährdeten Operationen führende ‚Schönheits‘wahn vorwiegend junger Frauen in westlichen Gesellschaften einem normierenden Druck auf alle anderen Vorschub leistet. Es befremdet daher, dass Butler vor „Entfremdung und Zwangsverwestlichung“ warnt, die der „Verlust der Burka“ mit sich führen könne (S. 86), ohne auch nur ein Wort über all die Frauen zu verlieren, die unter die Burka gezwungen werden. Doch diese Überlegungen stellt Butler im vorliegenden Interview überraschenderweise ebenso wenig an, wie sie einen möglichen Zusammenhang zwischen dem sich in der Burka, dem Tschador und ähnlichen ‚weiblichen Kleidungsstücken‘ ausdrückenden und von diesen vermittelten Frauenbild und der mit ihnen einhergehenden misogynen Geschlechter- und Sexualitätskonstruktionen sowie der tyrannischen Heteronormativität ins Auge fasst, die in diversen islamisch geprägten Staaten etwa dazu führen, dass vergewaltigte Frauen, ‚Ehebrecherinnen‘ und Homosexuelle mit der Todesstrafe rechnen müssen.
Die Problematik von Burka und „Zwangsverwestlichung“ korrespondiert mit „verschiedenen, zuweilen miteinander konkurrierenden Interpretationen universaler Werte“ (S. 84) und den „Rechte[n], die universal sind oder sein sollten“ (S. 95), – wie etwa die nach ‚westlicher‘ Auffassung universellen Menschenrechte, die in der Öffentlichkeit islamisch geprägter Gesellschaften nicht selten als bloß ‚westliche‘ Konstruktion gelten, der eigene, islamische Menschenrechtsdeklarationen entgegengestellt werden. Butler zufolge gilt es nun „herausfinden, welche Bedeutung“ universelle Rechte „hinsichtlich je konkreter Leben annehmen können.“ (ebd.) Denn „das, was ‚universal‘ ist“, werde „unablässig produziert“. (S. 96) Letzteres ist sicher zutreffend. „[Z]u erforschen, welche Bedeutung Rechte haben, wie, auf welche Weise man sie an verschiedenen kulturellen Schauplätzen interpretiert“, mache Universalisierung allererst aus, wie Butler weiter darlegt. (S. 95) Auch dieses Argument ist nicht unplausibel, krankt allerdings daran, dass es über den tatsächlichen politischen und kulturellen Gegebenheiten mit all ihren Kontroversen und Problematiken schwebt.
Ähnlich vage bleibt Butler, wenn sie als „einzig wirkliche Alternative zu der schlechten Praxis, in der sich eine dominierende Kultur ihren ‚anderen‘ gewaltsam aufzwingt“ die „[k]ulturelle Übersetzung“ universaler Rechte fordert. (S. 96) Was meint die Autorin damit? Dass die Menschenrechte zwar universell sind, die Weise, wie sie zu verstehen beziehungsweise zu füllen sind, jedoch nicht? Bedeutet „Übersetzung“ Transformation in dem Sinne, dass im ‚Westen‘ als Menschenrecht gilt, was dieser darunter versteht, in anderen Kulturkreisen, was jene als Menschenrecht definieren? Angesichts der Sexismen und der Misogynie diverser islamischer Menschenrechtserklärungen wäre dies eine geradezu fatale Haltung. (Zu islamischen Menschenrechtserklärungen vgl. Hiltrud Schröter: Das Gesetz Allahs. Menschenrechte, Geschlecht, Islam und Christentum. 2007, S. 179–222.) Zu hoffen ist also, dass Butler etwas anderes im Auge hat, etwa, dass universelle Rechte universell ausgehandelt werden müssten. Doch wäre auch dies durchaus keine unproblematische Vorstellung.
Das von Butler zu Beginn des Irakkrieges mit Stauffer geführte Gespräch bietet somit einige Anregungen, wirft aber noch mehr Fragen auf und löst sogar verschiedene Bedenken aus. Doch nicht das Interview war der Anlass für die hier besprochene Publikation, sondern ein Vortrag, den die gender-Theoretikerin am 20. Juni 2008 an der Universität Potsdam hielt und in dem sie ein – wie die Herausgeberinnen Judith Mehrmann, Juliane Rebentisch, Eva von Redecker formulieren – „neue[s] pazifistische[s] Projekt“ (S. 7–8) vorstellte. Vervollständigt wird der Band durch einen kürzeren Text, in dem Butler gegen Susan Sontags Befürchtung argumentiert, der zufolge „die Fotografie ihre Fähigkeit zu schockieren verloren habe“ (S. 58) und „‚eine Erzählung [...] wirksamer [ist] als ein Bild‘, wenn es darum geht, uns gegen den Krieg zu mobilisieren.“ (S. 59) – Kontroversen, die interessanterweise bereits in Ingeborg Bachmanns 1972 veröffentlichter und noch immer lesenswerter Erzählung Drei Wege zum See angesichts des Vietnamkrieges thematisiert und literarisiert wurden.
Der den Band eröffnende Potsdamer Vortrag füllt diesen nahezu zur Hälfte und steht unter dem Titel Über Lebensbedingungen. Gender-Themen sind hier noch etwas randständiger als in dem Gespräch mit Stauffer, doch verzichtet Butler auch diesmal nicht ganz auf gender- oder allgemeiner differenz-theoretische Überlegungen, die sie die Frage einer „neue[n] Konzeptualisierung des Körpers“ aufwerfen lässt. (S. 38) Vor allem aber kommt in diesem Text der neben Krieg zweite titelstiftende Begriff des Bandes zu seinem Recht: Affekt. Butler fasst ihn ausgesprochen weit und unterscheidet nicht zwischen Affekten im engeren Sinne, Gefühlen, Emotionen, Empfindungen und Gemütsverfassungen, sondern subsumiert etwa Lust, Wut, Leid, Hoffnung und Schuld gleichermaßen unter den Terminus. (vgl. S. 12 u. 28)
Tatsächlich aber legen ihre Ausführungen weithin eine enge Interpretation ihres Affektbegriffes nahe. Etwa wenn sie darlegt, das „Moment primärer affektiver Reaktionen“ werde von etwas wie einem Akt der Interpretation bestimmt, wobei dies „nicht im Sinne eines spontanen Akts eines einzelnen Bewusstseins [zu] verstehen“ sei, „sondern als Konsequenz aus einem sozial konstituierten Feld der Intelligibilität, das unsere Ansprechbarkeit für die andrängende Welt zu formen und zu rahmen hilft“. (S. 12) Da Affekte zudem immer schon „vermittelt“ seien, würden sie in „bestimmte[n] Interpretationsrahmen aufgerufen und aktualisiert“. (S. 13) Dabei würden sie „von Deutungsmustern strukturiert [...], die wir nicht vollständig durchschauen“. (S. 23) Vor allem aber seien „wir“ immer schon „in die soziale Produktion von Affektivität eingebunden, bevor wir einen Affekt als unseren fühlen und behaupten können. „[U]nser Affekt“ sei somit „niemals bloß unser eigener.“ (S. 35)
Das alles ist ohne weiteres plausibel, ja nicht mal sonderlich originell. Der Clou ihrer Argumentation folgt allerdings noch. Er besagt, dass die affektiven Reaktionen daher „umgekehrt“ die „vermeintliche Selbständigkeit solcher Rahmen“ in Frage stellen und sogar als „affektive Basis von Gesellschaftskritik fungieren“ können. (S. 13) Damit meint Butler selbstverständlich nicht einfach, ein schlechtes Gefühl sei schon Gesellschaftskritik genug. Vielmehr zieht die gender-Theoretikerin Affekte als eine Grundlage für die Möglichkeit heran, die „imperialistische Aneignung“ „globaler Verantwortung“ durch eine eigene Konzeption zu „kontern“. (S. 17)
Butler erhebt allerdings keinen gar so radikal pazifistischen Anspruch, wie die Einleitung der Herausgeberinnen erwarten lässt. Denn sie konzediert ohne weiteres, „dass es Fälle gibt, in denen Interventionen wichtig sind – etwa um einen Genozid abzuwenden.“ (S. 16) Zwar erklärt sie nicht explizit, dass diese Interventionen notfalls auch militärisch sein können, sie zieht es vor, in dieser Hinsicht zu schweigen. Man wird sie allerdings kaum für so naiv halten dürfen, dass sie glaubt, irgendeine diplomatische Maßnahme hätte einen der Genozide des 20. und 21. Jahrhunderts verhindern können. Und die Frage, wie probat pazifistische Reaktionen im Falle eines feindlichen Angriffs sind, ist damit noch nicht einmal gestellt.
Ähnlich wie in dem Interview mit Stauffer (vgl. S. 81) argumentiert Butler auch in ihrem Potsdamer Vortrag, dass es nicht darum gehen könne, „sich der Destruktivität per se entgegenzustellen“ und zu glauben, es genüge oder sei auch nur möglich, dem „gespaltenen Subjekt des US-Nationalismus ein Subjekt gegenüberzustellen, dessen Psyche stets nur nach Frieden strebt.“ (S. 33) Ein solches Vorhaben würde auf eine „Verdrängung von Zerstörung“ hinauslaufen, die „nur durch die Verlagerung der Zerstörung in den Akt der Verdrängung selbst funktionieren“ könne. (ebd.) So finde „jeder Pazifismus, der auf Verdrängung basiert“, stets „einen anderen Kanal für Destruktivität“, sei aber außerstande, sie zu „tilgen“. (S. 33) Die einzig realistische „Alternative zur Destruktion“ bestehe daher darin, „ihr eine lebbare Form zu geben.“ (ebd.)
Zur Grundlegung und Begründung dieses Vorhabens schlägt Butler, ganz wie man es von ihr kennt, einen weitgespannten Zirkel. Er führt sie von Antigone (vgl. S. 18) über Platon (vgl. S. 19 f.), Hegel (vgl. S. 33 u. ö.) und die Psychoanalytiker/-innen Freud (vgl. S. 33 u. ö.) und Melanie Klein (vgl. S. 26 ff.) bis hin zu The Names Project Aids Memorial Quilt (vgl. S. 19) eines in Abu Graib gefangenen Lyrikers (vgl. S. 46 ff.).
Nachdrücklich beklagt Butler, dass „diese gegenwärtigen Kriege eine Sichtweise voraussetzen und fortschreiben, die Leben aufteilt in einerseits diejenigen, die es wert sind, verteidigt, wertgeschätzt und bei Verlust betrauert zu werden, und andererseits jene, bei denen es sich nicht um wertvolle Leben handelt, die nicht im vollen Sinne wertvoll, und daher auch nicht ganz anzuerkennen oder eben der Trauer würdig sind“ (S. 24).
Sicher kann und sollte der (gewaltsame) Tod eines jeden Menschen bedauert werden. Doch ist wohl kaum möglich, alle Menschen in dem Maße zu betrauern wie die Liebsten. Und vermutlich wäre das auch kaum wünschenswert. Die Empörung über das massenhafte Dahinschlachten der Menschen allerdings sollte keine Unterschiede kennen.
Eine wichtige Unterscheidung, die von Butler nicht hinreichend herausgearbeitet wird. Der entscheidende Punkt ihrer Argumentation zielt jedoch nicht auf die Trauer. Denn Butler setzt ihre Hoffnung vielmehr auf die „Macht des Affektes“ der Empörung, die nicht nur „die öffentliche Meinung gegen den Krieg wenden“ konnte (S. 21), sondern zwischenzeitlich auch zu einem Macht- und somit Politikwechsel in den USA führte. Solange der Islam jedoch als „barbarisch oder vormodern“ gelte, erklärte Butler einige Monate vor der Wahl Obamas, scheinen die Opfer, die im Krieg gegen den Terrorismus getötet werden, „nicht ganz menschlich und ihr Leben nicht ganz vollwertig“ zu sein. (S. 23 f.) Eine zweifellos berechtigte Kritik. Da diese jedoch Selbstmordattentäter wie diejenigen vom 11. September und ihre Sympathisanten ebenso trifft, befremdet es, dass Butler sie nur an eine der kämpfenden Parteien richtete. Immerhin wurde und wird nirgends so offen, ja demonstrativ über die Ermordung der Anderen gejubelt wie von islam(ist)ischer Seite etwa im Gaza-Streifen angesichts von Selbstmordattentaten in Israel oder auch nach dem 11. September.
Butler begründet die Einseitigkeit ihrer Kritik am „Zerstörungsdrang [...] der Ersten Welt“ damit, dass sie „Bürgerin eines Landes“ ist, „das seine eigenen Kapazitäten zu morden systematisch idealisiert.“ (S. 30) Eine wenig überzeugende Argumentation, denn letzteres trifft etwa auch auf Nord-Korea und einige andere Länder zu, die nicht der „Ersten Welt“ angehören. Und sicher in noch stärkerem Maße auf terroristische Organisationen wie Al Quaida.
URN urn:nbn:de:0114-qn103269
Rolf Löchel
Philipps-Universität Marburg
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E-Mail: loechel@staff.uni-marburg.de
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