Annette Kreutziger-Herr, Katrin Losleben (Hg.):
History Herstory.
Alternative Musikgeschichten.
Wien u.a.: Böhlau Verlag 2009.
430 Seiten, ISBN 978-3-412-20243-9, € 42,90
Abstract: Der Sammelband beschäftigt sich mit der Frage geschlechtergerechter Musikgeschichtsschreibung und bringt nach einleitenden methodischen Überlegungen zahlreiche Beispiele aus der musikwissenschaftlichen Genderforschung. Neben Beiträgen über musikalische Akteurinnen, wie die mittelalterlichen Trobairitz, Harfenistinnen des 18. Jahrhunderts, Fanny Hensel oder die All-Female Black Metal-Band Astarte, bietet der Band auch ge-genderte Lesarten aus der Kompositions- und Rezeptionsgeschichte.
Die Frage, wie Musikgeschichte sinnvoll zu erzählen ist, wie eine männliche Geschichtsschreibung abgelöst werden kann, erweist sich seit Jahrzehnten als neuralgischer Punkt der musikwissenschaftlichen Genderforschung und ist nach wie vor meist unbefriedigend gelöst. Politisch korrekte Abhandlungen über die Geschichte der Musik hängen dem üblichen „männlichen“ Mainstream ein Kapitel über Komponistinnen an, andere ignorieren die Thematik ganz, wieder andere versuchen eine Integration, umgehen aber oft die heikle Frage nach musikalischer Qualität zugunsten einer Sozialgeschichtsschreibung. Ein Buch, das „alternative Musikgeschichten“ erzählen will, hat nach wie vor viel zu tun.
„Die Zeit ist reif für ein neues Musikhaus“, heißt es emphatisch auf der ersten Seite des vorliegenden Bandes, der aus einer Ringvorlesung an der Kölner Hochschule für Musik hervorgegangen ist. Diese Metapher zieht sich durch das gesamte Buch, ebenso wie das Leitmotiv der Stadt der Frauen von Christine de Pizan aus dem Jahr 1405. Mit dieser setzt sich Margarete Zimmermann in einer Vorrede auseinander; Illustrationen aus dem Umkreis von Pizans schriftstellerischem Werk bebildern die vier Großabschnitte des Buches, die die „Bauplanung“ gliedern.
Der erste Abschnitt nennt sich „Grund und Boden“. Annette Kreutziger-Herr erörtert hier einleitend die Ausgangssituation des Bandes: männlich dominierte Geschichtsschreibung und Auslesemechanismen. Dabei vollzieht sie historisch nach, wie geschlechtergetrennte musikalische Anthologien entstanden, die entlang geschlechtlicher Hierarchisierungen die Geschichte von Frauen marginalisierten. Sie plädiert für eine „Geschichtsschreibung, die sich der Grenzen und der Parteilichkeit von Wissensbeständen bewusst ist und zugleich die reichen Schätze an kulturellem Erbe und musikhistorischem Beitrag von Frauen aus dem historiographisch toten Winkel holt.“ (S. 46) In einem Essay mit dem Titel „Being a Man“ erzählt die Schriftstellerin Siri Hustvedt, wie sie im Schreiben eine männliche Subjektposition einnehmen kann, die zugleich zutiefst ihre eigene ist. Der Literaturwissenschaftler Stefan Horlacher beschließt diesen Teil mit einem kulturhistorischen Überblick über die feministischen Entwicklungen in Politik und Forschung.
Der zweite Teil trägt den Titel „Blaupausen für den Städtebau“ und enthält fünf Aufsätze. Beate Kutschke untersucht die Verknüpfung von Genderstudies mit Ethik, da „Genderkonzepte in der Vergangenheit aufs engste mit moralisch-ethischen Anschauungen und Grundsätzen verwoben waren und sind.“ (S. 97) Sie erläutert diese Zusammenhänge anhand zweier Kantaten über Dido aus dem frühen 18. Jahrhundert; hier ist ein Wandel vom heroischen Frauentypus des 17. Jahrhunderts hin zum Opfermodell feststellbar. Christoph Müller-Oberhäuser setzt sich mit der „Maske des Genies“ auseinander und stellt dabei die historisch kongruente und weitreichende männliche Genie-Konstruktion seit dem 18. Jahrhundert in den Mittelpunkt, erläutert aber auch Ambivalenzen, etwa wenn das Genie aus konventionellen Männlichkeitsbildern ausbricht. Zwei Artikel beschäftigen sich mit Musikanalyse und Musiktheorie. Annegret Huber plädiert dafür, „auch die musikanalytischen Methoden historisch im Hinblick auf ihre ideologischen Hintergründe zu differenzieren und so eine Schnittstelle zu schaffen, an der Kompatibilität zwischen Objekt und Betrachtungskategorien gewährleistet ist.“ (S. 135) Thomas Dietrich gibt einen Überblick über Gender-Konnotationen in der Musiktheorie und stellt am Beispiel von Haydns Schöpfung fest, dass der Geschlechterdiskurs hier „eindrucksvoll repliziert“ wird (S. 153). Fragen der Musikgeschichtsschreibung, die an Annette Kreutziger-Herrs einleitenden Artikel anschließen, stehen schließlich bei Susan Fast wieder im Zentrum. Die Autorin zeigt die Schwierigkeiten, Frauen in die Geschichte der Rockmusik zu integrieren, da der Kanon der Rockmusik von männlichen Künstlern dominiert wird und das Genre an sich als „maskulin“ angesehen wird.
Im dritten Abschnitt des Buches „Vom Reißbrett zum Bauen“ versammeln sich ebenfalls fünf Aufsätze. Die Soziologin Martina Löw beginnt mit einer Einführung in die Raumtheorie, Susanne Rode-Breymann spezifiziert im Folgenden für die Musikwissenschaft, dass in dieser „Orte und Räume kulturellen Handelns von Frauen“ und ihre Musik aus einer Heroengeschichtsschreibung ausgegrenzt werden. Marion Fürst stellt eine 1823 von Alexandrine Sophie Baronne de Bawr geschriebene Histoire de la musique vor, die sich explizit an ein weibliches Publikum wendet. Von feministischem Anspruch sei hier noch keine Spur, Bawr habe aber die Tradition begründet, dass Frauen populärwissenschaftlich und zielgruppenorientiert Musikgeschichte schreiben. Thomas Jung setzt sich mit aufklärerischen Aspekten in Paul Dukas’ Ariane et Barbe-Bleu auseinander und verknüpft dies mit Fragen von Erziehung und Feminismus. Eva Rieger beschließt diesen Abschnitt mit einem Beitrag zur Filmmusik der 1940er Jahre, in der sie eine Replizierung der Wagner’schen Darstellung von Männlichkeit und Weiblichkeit erkennt.
Der vierte Teil des Buches mit dem Titel „Räume, Gärten und Felder von Frauen und Männern“ ist der umfangreichste. Neben einem Ausschnitt aus Christine de Pizans Le Livre de la Cité des Dames erzählen acht Beiträge (nicht ganz konsequent chronologisch geordnet) einzelne Musik-Geschichten. Annette Kreutziger-Herr beginnt mit der Trobairitz (dem weiblichen Pendant zum Trobadour) im 12. Jahrhundert und zeigt, wie deren literarische Zeugnisse regulierend zum höfischen Liebesdiskurs funktionieren. Mit Sabine Meines Aufsatz erfolgt ein Sprung ins späte 18. Jahrhundert; sie unterzieht den weiblich konnotierten Schauplatz des Gartens in Giovanni Paisiellos Nina einer detaillierten Analyse. Peter Schleuning beleuchtet das weitgehend zurückgezogene Leben von Fanny Hensel, die mit dem Schritt zur Veröffentlichung ihrer Werke im Jahre 1846 ein kurzes „zweites Leben“ begann. Robert Adelson und Jacqueline Letzter erläutern in ihrem Beitrag, wie die Harfe in der Mitte des 18. Jahrhunderts zu einem weiblichen Instrument wurde. Christine Siegert berichtet von Luigia Polzelli, einer Sängerin und Geliebten von Joseph Haydn. Marcia Citron zeigt, wie Brahms in der frühen Rezeption erst durch Männlichkeitszuschreibungen zum Nationalkomponisten werden konnte. In Amanda Harris’ Beitrag werden Zeitungsrezensionen über Komponistinnen der Jahrhundertwende einer Analyse unterzogen und Florian Heesch untersucht abschließend „Mythenrezeption und Weiblichkeitsbilder“ im Album Sirens der griechischen All-Female Black-Metal-Band Astarte. Als Nachwort fungiert die Aufzeichnung einer Gesprächsrunde durch Julia Cramer, in der es um altbekannte Themen der geschlechtlichen Asymmetrie im Musikleben geht.
Obwohl viele der Beiträge qualitativ hochwertig sind, wird der Band gerade im Hinblick auf die Metapher des „neuen Musikhauses“ seinem Anspruch nicht gerecht. Zunächst suggerieren die vier Abschnitte thematische Zusammenhänge, die allerdings wenig ersichtlich sind. So beginnt der Abschnitt „Vom Reißbrett zum Bauen“ mit einer vielversprechenden Raumtheorie (die jedoch später kaum eine Rolle spielt), endet aber mit einem Beitrag über Filmmusik. Im einleitenden Abschnitt hätte ein Mehr an Auseinandersetzung mit aktuellen Positionen in der Musikwissenschaft nicht geschadet – insbesondere der Beitrag von Stefan Horlacher ist eher als eine Einführung in Grundbegriffe für Studierende geeignet denn als Beitrag zur aktuellen Forschung. So ist das Buch dort am stärksten, wo echte „Alternativen“ zu herkömmlicher Geschichtsschreibung aufscheinen, und interessant dort, wo auf qualitativ hohem Niveau Genderforschung betrieben wird. Es verschenkt aber auch einige Möglichkeiten, die sich durchaus geboten hätten, etwa in der Beschäftigung mit dem männlichen Genie, die an aktuelle Diskussionen um Männlichkeit, Künstlermythos und die Pathologisierung weiblicher Kreativität nicht anschließt. Zudem bleibt weitgehend unklar, was die „reichen Schätze an kulturellem Erbe und musikhistorischem Beitrag von Frauen“ (S. 46) denn nun sind und in welchem Zusammenhang sie zur „männlichen“ Musikgeschichte stehen, da eine analytische Beschäftigung mit Musik von Frauen und deren gattungshistorische Einordnung beinahe gänzlich fehlt. Ein neues Musikhaus zu bauen heißt, sich diesen Spannungsverhältnissen auch tatsächlich auszusetzen.
URN urn:nbn:de:0114-qn103164
Kordula Knaus
Universität Graz
Institut für Musikwissenschaft
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