Macht und Gewalt im öffentlichen Raum

Rezension von Nina Schuster

Feministisches Kollektiv (Hg.):

Street Harassment.

Machtprozesse und Raumproduktion.

Wien: Mandelbaum Verlag 2008.

169 Seiten, ISBN 978-3-85476-237-9, € 17,80

Abstract: Der Sammelband bietet einen interdisziplinären und über die Grenzen der deutschsprachigen Debatten hinausgehenden Überblick zum Thema der Belästigung im öffentlichen Raum – nicht nur der sexuellen, sondern auch der rassistisch, homophob und transphob motivierten. In den Aufsätzen wird aus verschiedenen sowohl theoretischen als auch praxisbezogenen Perspektiven verdeutlicht, wie sich Machtverhältnisse in Raumkonzepten von öffentlich und privat widerspiegeln und reproduzieren. Der Band zeigt in überzeugender Weise, wie sich in vielschichtigen gewaltförmigen Prozessen eine hierarchische, heteronormativ und rassistisch geprägte Gesellschaftsordnung immer wieder neu im gesellschaftlichen Raum verfestigt.

Unsichtbare Belästigung sichtbar gemacht

Es erscheint kurios, dass im deutschen Sprachgebrauch keine passende sprachliche Bezeichnung für die Belästigung im öffentlichen Raum der Straße, die häufig als Unterdrückung und Gewalt erlebt wird, existiert. Street Harassment, bisher kein geläufiger Begriff in deutschsprachigen Diskursen, auch nicht in feministischen, bezeichnet dieses so alltägliche wie für viele Menschen ärgerliche, z. T. bedrohliche Phänomen. Es umfasst sowohl verbale als auch nonverbale Akte wie Blicke und Gesten, tätliche Angriffe und Symbole (wie solche an öffentlichen Toiletten, die nach Geschlecht differenzieren). Die Autor/-innen des Bandes Street Harassment. Machtprozesse und Raumproduktion würden die begriffliche Nichtexistenz des Phänomens in der deutschen Sprache sicherlich als systematisch bewerten: Sie wäre demnach nur ein weiterer Hinweis darauf, wie sehr die (gewalttätige) Belästigung von Menschen, die im Zusammenhang bestimmter sozialer Praxen von anderen Menschen sozial unterworfen werden sollen, gesellschaftlich unsichtbar gemacht, verharmlost und als bloß privates Problem abgetan wird.

Der vorliegende, von einem feministischen Kollektiv Wiener Studentinnen herausgegebene Sammelband räumt mit diesem Missstand auf. Das Buch basiert auf Beiträgen zu einer interdisziplinären Konferenz zum Thema „Street Harassment. Machtstrukturen im öffentlichen Raum“, die im Dezember 2006 an der Universität Wien stattfand. Da es bislang keine eigene (deutschsprachige) Begrifflichkeit und nur wenige Ansätze einer theoretisch inspirierten Diskussion zum Thema gibt, verwenden die Autor/-innen fast durchgängig die englische Bezeichnung. Dabei geht das Verständnis von Street Harassment bei den meisten über sexuelle Belästigung und Gewalt (gegen Frauen) bzw. Unterdrückung hinaus. Viele Beiträge erweitern den Fokus auf die Belästigung von Lesben und Transgender sowie auf rassistische Übergriffe (dies besonders im Beitrag von Vlatka Frketić). Dabei beziehen sich alle Aufsätze auf Belästigungen in öffentlichen Räumen, womit hier Straßen und Plätze in Städten, Cafés, Restaurants und Geschäfte sowie Toilettenräume, öffentliche Verkehrsmittel und Gebäude öffentlich-städtischer Institutionen gemeint sind. Die thematisierte, häufig gewalttätige Belästigung wird als systematische dargestellt, d. h. als eine, die in den Gesellschaftsstrukturen eines heteronormativen Systems verankert ist. Differenziert wird zudem in einigen Beiträgen zwischen Sexual Harassment (meist als auf den Arbeitsplatz bezogen verstanden) und Public/Street Harassment (besonders im Beitrag von Olena Prykhodko). Letzterem Phänomen sei bislang kaum wissenschaftliche Aufmerksamkeit gewidmet worden. Prykhodko führt das darauf zurück, dass sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz mit ökonomischer Benachteiligung in Zusammenhang gebracht werde, während mit Street Harassment zunächst keine materiellen Schäden einherzugehen schienen und das Phänomen daher weniger ernst genommen werde (vgl. S. 40).

In bester feministischer Tradition

Anspruch und Ziel des vorliegenden Buches ist, verschiedene wissenschaftliche und praxisbezogene Auseinandersetzungen zusammenzuführen und weiterzuentwickeln und dabei einen Überblick über verschiedene Forschungsansätze, aktuelle Debatten und unterschiedliche Methoden der kritischen Auseinandersetzung mit Street Harassment zu bieten. Dies soll sowohl durch disziplinäre Vielfalt als auch durch die Breite der Perspektiven und angeschnittenen Themen erreicht werden. Die Herausgeberinnen berufen sich auf zwei „für die feministische Bewegung von Anfang an wichtige Themen, nämlich Gewalt und die Dichotomie Öffentlichkeit/Privatheit“ (S. 7), die auf das Phänomen Street Harassment bezogen werden sollen. Debatten um eine Konzeption von Macht(verhältnissen) spielen dabei ebenso eine Rolle wie die Frage danach, wie Raum produziert wird und welche Rolle die Dualität Öffentlichkeit/Privatheit in solchen machtvollen Prozessen spielt.

Zielgruppen des Bandes sind einerseits Wissenschaftler/-innen, die sich mit der Verschränkung von Gewalt, Machtverhältnissen, Raumproduktion und der Wirkmächtigkeit sozialer Kategorisierungen beschäftigen wollen, welche sich exemplarisch an der Beschäftigung mit Street Harassment herausarbeiten lassen. Zum anderen eignen sich die versammelten Aufsätze für Aktivist/-innen, die sich anhand der vorliegenden, gut lesbaren Texte einen Einblick in die z. T. eher theoretischen Debatten zu Street Harassment verschaffen können, z. B. in die Zusammenhänge von Macht und Gewalt, Macht und Raum(produktion), sozialen Ungleichheiten und Raum und in die Problematik der Dichotomie von Öffentlichkeit und Privatheit.

Die Beiträge sind hinsichtlich ihres theoretischen und empirischen Anspruchs sehr unterschiedlich. Einige Autorinnen stellen eher die Reflexion persönlicher Erfahrungen in den Vordergrund, andere nehmen sich eine vorwiegend theoretische Auseinandersetzung mit dem Thema vor. Street Harassment wird dabei in mehreren Beiträgen als diskursive Strategie gedeutet (Frketić, Baumgartinger) und häufig im Kontext einer heteronormativen Gesellschaftsordnung gesehen. Nur wenige Texte sitzen der heteronormativitätsblinden Interpretation auf, dass Street Harassment ein patriarchales, unterdrückerisches „Männer gegen Frauen“ darstellt; dies findet sich besonders plakativ und damit für eine differenzierte Auseinandersetzung kontraproduktiv in einem „Feministischen Manifest“, das der Einleitung folgt und als Ergebnis eines kollektiven Produktionsprozesses feministischer Aktivist/-innen präsentiert wird (vgl. S. 9–12). Entgegen der Annahme der Herausgeberinnen wirkt dieses wild zusammen gewürfelte Pamphlet eben nicht inspirierend, sondern abschreckend, zumindest auf die queer/feministisch informierte Wissenschaftlerin.

Vielseitige Perspektiven und Widersprüche

Insgesamt enthält das Buch eine facettenreiche Auseinandersetzung mit dem Phänomen. Es bietet sowohl eine soziologische Diskussion zum Machtbegriff (besonders im Beitrag von Deutschländer-Bauer, der in diesem Kontext zentral ist) als auch zu den vielfältigen Verbindungen von Macht und Gewalt und deren Verschränkungen mit den räumlichen Dimensionen von Öffentlichkeit und Privatheit sowie mit diskriminierenden Praktiken, die in den Beiträgen sowohl als sexistisch als auch rassistisch, homophob und transphob motiviert interpretiert werden. Deutlich wird, dass Street Harassment am besten verständlich ist, wenn es als ein komplexer, machtvoller Prozess der Aushandlung von Grenzen verstanden wird, bei dem es um die nie abgeschlossene performative Produktion hierarchischer sozialer Positionen geht. Dieser Prozess ist in eine gesellschaftliche Ordnung eingebettet, die sich u. a. diskursiv als heteronormative und rassistische manifestiert.

Die vorliegende Sammlung stellt erstmals eine umfassende und kritische Bestandsaufnahme zu Street Harassment zur Verfügung. Aufgrund der Engführung der Thematik bleibt es allerdings nicht aus, dass sich inhaltliche Annahmen in verschiedenen Beiträgen des Buches wiederholen. Zugleich ergeben sich aus der Bandbreite der Perspektiven eine Reihe von Widersprüchen bezüglich der Problemdefinition und der Erklärungszusammenhänge. Dies kann sowohl als Potential des Buches als auch als Nichtvorhandensein einer klaren Linie ausgelegt werden. Für Letzteres spricht, dass die verwendeten Begrifflichkeiten in einigen Beiträgen kaum definiert werden und das Reflexionsniveau sehr unterschiedlich ist. Während dichotome Betrachtungsweisen – sowohl von Räumen als auch von Geschlecht, Sexualität und ethnischer Zugehörigkeit – in einigen Beiträgen abgelehnt bzw. dekonstruiert werden, fallen andere Beiträge hinter diesen Anspruch zurück bzw. berücksichtigen ihn erst gar nicht. Als besonders positiv sind in diesem Zusammenhang die komplex und schlüssig argumentierenden Aufsätze von Ruth Becker und Vlatka Frketić hervorzuheben.

Die unterschiedliche berufliche Herkunft der Autor/-innen verweist darauf, dass das Buch einen Brückenschlag zwischen Theorieproduktion und der Seite der Aktivist/-innen versucht. Dies macht womöglich manche begriffliche Schludrigkeit entschuldbar. Auch die interdisziplinär angelegte Zugangsweise zum Thema zeigt, dass das Buch in bester feministischer Tradition steht, die von jeher für eine Verbindung kritischer Praxis und Theoriebildung (und umgekehrt) plädiert und interdisziplinären Austausch fördert. Die Autor/-innen stammen aus den Sprach- und Kommunikationswissenschaften, der Raumplanung, der Soziologie, der Philosophie und der Politologie, der Kunstgeschichte, der Geschichte und der Kulturwissenschaften. Hinzu kommt die erfreuliche Erweiterung der Perspektive über den mitteleuropäischen Tellerrand hinaus in die Türkei und die Ukraine (Prykhodko, Tekerek), die sich in der Zweisprachigkeit des Bandes widerspiegelt (die Mehrzahl der Beiträge ist in deutscher Sprache verfasst, zwei in Englisch).

Anschlüsse

Der Band stellt mit seinem Fokus auf den öffentlichen Raum eine Weiterentwicklung feministischer Sicherheitsdiskurse in den raumbezogenen Wissenschaften dar, die sich häufig auf die Sicherheit von Frauen im öffentlichen Raum konzentrierten und zunehmend auf das Thema ‚Angsträume‘ verkürzt wurden (z. B. in Kerstin Siemonsen, Gabriele Zauke: Sicherheit im öffentlichen Raum. Städtebauliche und planerische Maßnahmen zur Verminderung von Gewalt. Zürich 1991; Stefanie Rohbeck, Katharina Williams: Ein-Sicht ist der erste Schritt. Soziale Sicherheit für Frauen und Mädchen im öffentlichen Raum. Kassel 1993; Kerstin Sailer: Raum beisst nicht! Neue Perspektiven zur Sicherheit von Frauen im öffentlichen Raum. Frankfurt am Main 2004 [eine Kritik daran in dem Aufsatz von Becker im vorliegenden Band]).

In Street Harassment wird dagegen der (wissenschaftliche) Blick auf belästigende Praktiken erweitert: von der sexuellen Belästigung am Arbeitsplatz, zu der bereits viel geforscht und publiziert wurde, auf Gewalt und Belästigung im öffentlichen Raum, die noch eher einen blinden Fleck in der Forschung und ein gesellschaftliches Tabu darstellen. Eine Ausnahme bildet hier die Monographie Raum Macht Geschlecht (Opladen 2003) von Renate Ruhne, die das Thema mit ähnlicher thematischer Fokussierung und theoretischer Differenzierung behandelt. Für eine Weiterentwicklung der in Street Harassment vorliegenden Ergebnisse wäre es wünschenswert, zukünftig queer/feministisch inspirierte Debatten deutlicher mit einer kritischen Auseinandersetzung mit neueren Sicherheits- und Kontrolldiskursen sowie städtischen Sicherheitspolitiken zu verbinden. Letztere werden z. B. in dem von Volker Eick, Jens Sambale und Eric Töpfer herausgegebenen Sammelband Kontrollierte Urbanität. Zur Neoliberalisierung städtischer Sicherheitspolitik (Bielefeld 2007) aufgegriffen.

URN urn:nbn:de:0114-qn103075

Nina Schuster M.A.

TU Dortmund

Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Fakultät Raumplanung der TU Dortmund, Fachgebiet Stadt- und Regionalsoziologie

E-Mail: nina.schuster@tu-dortmund.de

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