Der enge Raum als literarisches Experiment

Rezension von Zuzanna Aleksandra Jakubowski

Barbara Storck:

Erzählte Enge.

Raum und Weiblichkeit in französischen Erzähltexten des 18. und frühen 19. Jahrhunderts.

Heidelberg: Universitätsverlag Winter 2009.

188 Seiten, ISBN 978-3-8253-5586-9, € 32,00

Abstract: Barbara Storck untersucht in ihrer Arbeit die geschlechtsspezifischen Semantisierung literarischer Räume in Erzähltexten Denis Diderots, Jean-Jacques Rousseaus, Mme de Genlis’, Mme de Staëls und Charles Nodiers. Im Zentrum steht dabei das Motiv der räumlichen Enge, insbesondere das der eingeschlossenen Frau. Zielsetzung ist die Erforschung der weiblichen Subjektkonstituierung durch literarische Räume. Leider bleibt eine geschlechteranalytische Perspektive − zugunsten der Darstellung einer Vielzahl ins Verhältnis zur Subjekt-Raum-Konstitution gesetzter zeitgenössischer Diskurse − wenig entwickelt.

Von einer „Renaissance des Raumbegriffs in den Kultur- und Sozialwissenschaften“ seit den 1980er Jahren spricht Doris Bachmann-Medick in ihrem Überblickswerk Cultural Turns. Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften (Reinbek 2006, S. 286). Eine unüberschaubare Anzahl aktueller Publikationen zum Thema scheint dies zu bestätigen. Dabei ist die Annahme eines wechselseitigen Einflusses zwischen Raum und Subjekt der zentrale Ausgangspunkt der im Geiste des so genannten spatial turn verfassten Arbeiten. Räume werden darin nicht länger als geometrisch vermessbare, euklidische Behälter verstanden, sondern als Ergebnis vielschichtiger und häufig inkonsistenter kultureller und sozialer Handlungen. Mit Henry Lefebvre (La Production de l’Espace, Paris 1974) kann man feststellen, Räume, seien sie physischer oder literarischer Art, sind Produkte sozialer Praktiken. Für die Genderforschung bietet die Analyse von Raum daher ein fruchtbares Arbeitsfeld. Denn zum einen ist die Raumforschung, wie die Genderforschung, inter- und transdisziplinär angelegt, zum anderen werden Räume als Produkte sozialer Praktiken wesentlich durch soziale – und somit auch geschlechtsspezifische – Differenzierung bestimmt. Dies wiederum lässt Räume – auch die literarischen – als Träger von geschlechtsspezifischen Machtgefügen erscheinen.

Spatialisierung der Wahrnehmung

Barbara Storck hat mit Erzählte Enge. Raum und Weiblichkeit in französischen Erzähltexten des 18. und frühen 19. Jahrhunderts eine Arbeit vorgelegt, die sich mit der geschlechtsspezifischen Semantisierung literarischer Räume beschäftigt. Von der Philosophischen Fakultät der Ruhr-Universität Bochum 2008 als Dissertation angenommen, ist der Text im Rahmen des von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderten Forschungsprojekts „Raum, Imagination, Subjekt. Spatiale Ausfaltungen des Imaginären in der französischen Erzählliteratur, 1750–1820“ entstanden. Die methodische Perspektive des Projekts unter der Leitung von Prof. Dr. Rudolf Behrens ist die der historischen Anthropologie auf der Ebene der literarischen Repräsentation. Ausgehend von einer zunehmenden Spatialisierung der imaginativen Wahrnehmung im 18. Jahrhundert untersucht Storck innerhalb dieses Projekts die weibliche Subjektkonstituierung durch literarische Räume.

Das von Storck bearbeitete Textkorpus umfasst fünf französische Erzähltexte von Autor/-innen aus dem Entstehungszeitraum 1760 bis 1820: Denis Diderots La Religieuse (1760/1780), Jean-Jacques Rousseaus Julie ou La Nouvelle Héloïse (1761), Mme de Genlis’ Adèle et Théodore (1780), Mme de Staëls Delphine (1802) und zuletzt Charles Nodiers Trilby (1820). Ausgehend von der Hypothese, dass der weibliche literarische Raum im Gegensatz zum männlichen durch Enge gekennzeichnet ist, untersucht Storck, wie sich Weiblichkeits- und Raumdiskurse in dem Motiv der eingeschlossenen und zudem oft handlungsunfähigen Frau in französischen Erzähltexten des 18. Jahrhunderts berühren. Dabei nimmt sie das repressive bzw. subversive Verhältnis von Raum und Subjekt in den Blick: „Die gesellschaftliche, raumbezogene Realität wird im Roman zum Gegenstand von Verschiebungen, Erweiterungen und Umkehrungen, sodass das Raumverhalten der dargestellten Protagonistinnen von der völligen Fremdbestimmung bis zu einer relativen – erhofften oder ansatzweise realisierten – Selbstbestimmung reicht“ (S. 16). Dieser Überlegung liegt das von der soziologischen und geographischen Geschlechterforschung in jüngerer Zeit etablierte Verständnis von Machtausübung und Raumdistribution bzw. -konstellation zugrunde.

Räumliche Subjektkonstituierung

Storck führt die Abkehr vom „Behälter-Raum-Konzept“ (S. 12) hin zu einem Konzept von sozialem Raum, der sich erst durch die Anordnung von Objekten konstituiert, auf die naturtheoretischen und philosophischen Überlegungen Leibniz’ zurück. Dieses Konzept bildet die Grundannahme ihrer Überlegungen, erlaubt es ihr doch, von einem Verhältnis von (literarischem) Raum und (literarischem) Subjekt auszugehen: „Das Subjekt wird demnach nicht in ein Verhältnis zu seinem Raum gesetzt, um ihm lediglich eine messbare Position im Raum zuzuweisen, sondern um eine Verortung vorzunehmen, die der Definition und Stabilisierung des Subjekts dient“ (S. 12). Die Autorin konzentriert sich bei ihrer Lektüre auf die Betrachtung der von den Protagonistinnen erfahrenen räumlichen Enge in den ausgewählten Texten und widmet ihre Aufmerksamkeit der vom Raum beeinflussten Subjektformation der literarischen Figuren. Zu diesem Zweck zieht Storck medizinische, religiöse, literaturtheoretische und sexuelle Diskurse um 1800 zur Analyse heran. Ausführungen zur Hysterie (in La Religieuse) und zum Schauerroman (in Adèle et Théodore) dienen Storck zur Etablierung eines ‚hysterischen Raums‘und eines Schreckensraums; ebenso die Überlegungen zu räumlicher Unmittelbarkeit und Medialität (in La Nouvelle Héloïse) und Fantastik und Imagination (Trilby). Die Verflechtung so vielfältiger diskursiver Ebenen mit der Untersuchung des literarischen Raums liefert eine Fülle von Interpretationsansätzen, insbesondere zur Subjektformation, führt aber dazu, dass stellenweise das zentrale Anliegen – die geschlechtsspezifische Analyse erzählter Enge – aus den Augen verloren wird. Letztlich gelingt es Storck aber, deutlich zu machen, und darin besteht die eigentlich innovative Leistung ihres Ansatzes, dass sich der Raum nicht nur auf der Ebene der histoire, sondern auch auf der Ebene des discours einschreibt. So führt, um nur ein Beispiel zu nennen, der ‚hysterische Raum‘ auch zu einem hysterischen Erzählen der Protagonistin in La Religieuse.

Kritisch anzumerken ist, dass eine Auseinandersetzung mit dem Machtpotential von räumlichen Konstellationen über deren Benennung hinaus leider marginal bleibt, ebenso eine über die Zuschreibung von engem Raum zu Weiblichkeit hinausgehende kritische Untersuchung des Verhältnisses von gender und Raum. Eine solche Zuschreibung reflektiert nicht bloß Geschlechtskonzeptionen um 1800, wie die Autorin abschließend konstatiert, sondern wird gerade erst über die Verwendung räumlicher Motive in der Literatur hergestellt und im gleichen Schritt naturalisiert. Zudem hätte sich die Autorin noch kritischer mit dem von ihr verwendeten Begriff der Weiblichkeit auseinandersetzen können. So dechiffriert Storck zwar sehr überzeugend Diderots Darstellung des Klosters als „genuin weibliche[n] Ort“ (S. 175) und das „hysterische […] Sprechen“ Suzannes als „weibliches Sprechen“ (S. 176), macht aber bei dieser Feststellung halt. Eine Rückkopplung an Machtdiskurse und diskursive Geschlechtskonstruktion bleibt implizit.

Mme de Staëls Briefroman Delphine

Aufgrund seiner interpretatorischen Kohärenz ist das Kapitel „Gesellschaftlicher und gelebter Raum in Mme de Staëls Briefroman Delphine (1802)“ besonders hervorzuheben. Es ist in weiten Teilen identisch in deutscher und französischer Sprache in den Zeitschriften PhiN. Philologie im Netz (41/2007) und Cahiers staëliens (59/2008) erschienen. Storck zeichnet hier die Wandlung des literarischen Raumes von einem sozialen, vordergründig durch gesellschaftliche Konstellationen bestimmten, zu einem aus der Perspektive der Protagonistin subjektiv erlebten Raum nach. Delphine, eine zu Beginn des Romans sozial ungebundene (verwitwete und verwaiste) und somit aus den üblichen räumlichen Beschränkungen für Töchter und Ehefrauen um 1800 entlassene Protagonistin, passt sich mit dem Verlauf der Handlung zunehmend in die Konventionsvorstellungen ihres Geliebten ein, der diese unreflektiert aus den angesehenen Gesellschaftskreisen bezieht. Storck stellt einen aufschlussreichen Zusammenhang her zwischen der sukzessiven räumlichen Einengung der Protagonistin (die auch wieder in einem Kloster-Raum gipfelt), der qualitativen Minderung ihres subjektiven Raumerlebens und ihres verschwindenden ‚Aktionsraumes‘. So tritt aus Delphines Schilderung zunehmend ein ‚gestimmter Raum‘ (nach Elisabeth Ströker, Philosophische Untersuchungen zum Raum, Frankfurt am Main 1965) hervor, ein sich durch die Handlungsunfähigkeit der in ihm situierten Protagonistinnen auszeichnender Raum. Storck geht hier den psychischen und implizit letztlich hegemonialen Auswirkungen beengender räumlicher Konstellationen auf weibliche Protagonistinnen nach.

Aufgrund seiner interpretatorischen Kohärenz ist das Kapitel „Gesellschaftlicher und gelebter Raum in Mme de Staëls Briefroman Delphine (1802)“ besonders hervorzuheben. Es ist in weiten Teilen identisch in deutscher und französischer Sprache in den Zeitschriften PhiN. Philologie im Netz (41/2007) und Cahiers staëliens (59/2008) erschienen. Storck zeichnet hier die Wandlung des literarischen Raumes von einem sozialen, vordergründig durch gesellschaftliche Konstellationen bestimmten, zu einem aus der Perspektive der Protagonistin subjektiv erlebten Raum nach. Delphine, eine zu Beginn des Romans sozial ungebundene (verwitwete und verwaiste) und somit aus den üblichen räumlichen Beschränkungen für Töchter und Ehefrauen um 1800 entlassene Protagonistin, passt sich mit dem Verlauf der Handlung zunehmend in die Konventionsvorstellungen ihres Geliebten ein, der diese unreflektiert aus den angesehenen Gesellschaftskreisen bezieht. Storck stellt einen aufschlussreichen Zusammenhang her zwischen der sukzessiven räumlicher Einengung der Protagonistin (die auch wieder in einem Kloster-Raum gipfelt), der qualitativen Minderung ihres subjektiven Raumerlebens und ihres verschwindenden ‚Aktionsraumes‘. So tritt aus Delphines Schilderung zunehmend ein ‚gestimmter Raum‘ (nach Elisabeth Ströker, Philosophische Untersuchungen zum Raum, 1965) hervor, ein sich durch die Handlungsunfähigkeit der in ihm situierten Protagonistinnen auszeichnender Raum. Storck geht hier den psychischen und implizit letztlich hegemonialen Auswirkungen beengender räumlicher Konstellationen auf weibliche Protagonistinnen nach.

Fazit

Barbara Storcks Arbeit Erzählte Enge bildet einen wesentlichen Beitrag zur Aufarbeitung geschlechtsspezifischer räumlicher Konstellationen in literarischen Texten bzw. in deren soziokulturellen Dimensionen. Von besonderem Interesse ist dabei ihre Feststellung, dass sich geschlechtsspezifische räumliche Konstellationen nicht nur in der histoire finden, sondern auch im discours – also in der Art und Weise des Erzählens – niederschlagen. Leider bleibt die geschlechteranalytische bzw. -konstruktivistische Perspektive – auf die der Untertitel Raum und Weiblichkeit in französischen Erzähltexten des 18. und frühen 19. Jahrhunderts schließen lässt – wenig entwickelt zugunsten der Berücksichtigung einer Vielzahl von ins Verhältnis zur Subjekt-Raum-Konstitution gesetzten zeitgenössischen Diskursen. Zu Beginn ihrer Arbeit wirft Storck die hochinteressante Frage auf, was an der Protagonistin eines solchen Textes abzulesen wäre, würde man die Raumkonstellation im Roman nicht als Abbildung einer sozialen Realität oder Erfahrungswelt, sondern als Experiment verstehen. Im fünften Teil der Arbeit, dem Kapitel zu Mme de Staëls Briefroman Delphine, gibt die Autorin einen Eindruck davon, wie eine solche Frage angemessen beantwortet werden kann.

URN urn:nbn:de:0114-qn103108

Zuzanna Aleksandra Jakubowski

Universität Potsdam

Wissenschaftliche Mitarbeiterin der AG Studiumplus

E-Mail: zjakubow@uni-potsdam.de

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