Irene Berkel (Hg.):
Postsexualität.
Zur Transformation des Begehrens.
Gießen: Psychosozial-Verlag 2009.
195 Seiten, ISBN 978-3-8379-2009-3, € 22,90
Abstract: Die Autor/-innen des vorliegenden Sammelbandes, die großteils aus psychologischen und kulturtheoretischen Kontexten stammen, befassen sich mit dem Wandel der Sexualität, der Sexualisierung des öffentlichen Raumes, mit neuen Reproduktionstechniken und dem Phänomen der Ent-Sexualisierung. Dabei liegt ein Schwerpunkt auf der Frage nach den Auswirkungen dieses Wandels auf Gesellschaftsstrukturen, Paarbeziehungen und den Menschen als begehrendes Subjekt.
Der Begriff der Postsexualität stehe nicht für das Ende der Sexualität, betont die Herausgeberin des Sammelbandes Irene Berkel, sondern für eine Verschiebung der Sexualität, – ein Wandel, der uns in Debatten um Reproduktionstechniken, in einer zunehmenden Sexualisierung des öffentlichen Raums und auch in Phänomenen der Ent-Sexualisierung begegne. Am Horizont eines veränderten Begehrens stehen Fragen nach der Auswirkung auf das Sozialgefüge, und nach dem Verständnis des Menschen als begehrendes Subjekt: Fragen, mit denen sich die Autor/-innen in ihren Aufsätzen beschäftigen.
In einem einführenden Eintrag nähert sich Jean Clam der Begrifflichkeit der Postsexualität von einem Lacanschen Standpunkt. Angelehnt an die psychoanalytische Kategorie des „Begehrens“ und der Sichtweise des Menschen als „Begehrenden“ begreift der Autor die Emergenz der Postsexualität im Ende, im Fading und in der Desymbolisierung des Sexuellen. An Romanen des Schriftstellers Houellebecq – Elementarteilchen und Die Möglichkeit einer Insel – und der üblichen Impotenzbehandlung in der Klinik untersucht Clam die Relevanz einer imaginierten Zeit jenseits des Sexuellen; dies rüttelt an den Grundfesten des heutigen ‚Begehrensmenschen‘, und damit an den Rahmenbedingungen der Psychoanalyse. Der neue postsexuelle Mensch falle aus der symbolischen Ordnung der Gesellschaft, er verliert seinen Subjektstatus im Verlust des Begehrens. Der Autor fordert Platz für ein Nicht-Begehren im Begehren als Mischregime zwischen Sexualität und Post-Sexualität.
Robert Pfaller rekurriert in seinem Beitrag auf die Diskrepanz zwischen einer in der Öffentlichkeit zunehmenden Sexualisierung und einer individuellen Ent-Sexualisierung. Er stellt die These auf, dass auf die penetrante Sexualisierung eine Überforderung und Verweigerung gesellschaftlicher Kräfte folgt, dieser Norm des gelebten Sexus nachzukommen; vielmehr resultiere aus der stetigen gesellschaftlichen Konfrontation mit Sexualität und Sexualisierung ein Rückzug aus der Sexualität. Eine Erklärung dieser Zunahme asexueller Tendenzen sieht Pfaller in der Aufhebung der Trennung zwischen privater und öffentlicher Person. In Anlehnung an Richard Sennetts These der Kulturentwicklung in Verfall und Ende des öffentlichen Lebens betont Pfaller die Wichtigkeit „authentischer“ Lebensgefühle, einer Authentizität, die als Befreiungssemantik begegnet, als aggressives Bekenntnis zum Selbst. Ich-konform sind Formen der A-Sexualität, denen als das „Authentische“ und als erfolgreicher Widerstand gegen die nach Aufmerksamkeit heischende Sexualisierung gehuldigt wird. Die Sexualität hingegen formiert sich als Belästigung aus dem öffentlichen Raum, die Einzug in die privaten Räume des Individuums verlange.
Transgressionen der Geschlechtergrenzen anhand von Filmen von David Cronenberg und Monika Treut bilden die Bezugspunkte des Beitrags von Marcus Stiglegger. An einzelnen Filmbeispielen – wie M. Butterfly von Cronenberg, der mit der Selbstinszenierung des begehrten Anderen spielt, da Madame Butterfly unter der weiblichen Performance ein männliches Geschlecht verbirgt, oder wie Gendernauts von Treut, der dokumentarischen Einblick in das Leben von Transgender-Individuen in San Francisco gibt, – zeichnet Stiglegger Szenen der Überschreitung und Grenzziehung von Geschlecht nach. Während apokalyptische Körpertransformationen die Themen David Cronenbergs sind, geht es im filmisch vielschichtigen Werk von Monika Treut weniger um ein post-sexuelles Kino als vielmehr um eine beharrliche Neudefinition sexuellen Begehrens. Machtverhältnisse zwischen Mann und Frau, die lange Zeit Mittelpunkt der Werke Treuts waren, werden nun immer mehr verwischt, um das System der Binarität zu verunsichern.
Irene Berkel, die Herausgeberin des Sammelbands, widmet sich der „Erosion des Inzestverbots“. Mit der Herauslösung der Sexualität aus dem Fortpflanzungsgedanken und der zunehmenden Gleichberechtigung zwischen Mann und Frau büße die Kleinfamilie an psychoanalytischen Stimuli ein. Neue Reproduktionstechniken sowie die Anerkennung homosexueller Gemeinschaften würden zusätzlich die Bedeutung biologischer Verbundenheit und die daran gebundene Ordnung von Verwandtschaft relativieren. Insbesondere inzestuöse Phantasien im öffentlichen Raum deutet Berkel als Aufweichung des Inzestverbots. Im Diskurs über sexuellen Missbrauch, den sie in der Unterscheidung zum Geschwisterinzest als intergenerationelle Inzestproblematik thematisiert, konstatiert sie ein Bedrohungsszenario, das von sexuellen Bedürfnissen des Vaters/Stiefvaters gegenüber seinen Nachkommen/Stiefkindern geprägt sei und in der medienpolitischen Diskussion dennoch als Einzelfallproblematik aufgefasst werde. Die Autorin sieht darin eine mangelnde Verinnerlichung des Inzestverbots und keineswegs eine Aneinanderreihung von Einzelfällen sexuellen Missbrauchs.
Christina von Braun diskutiert die Gesetze der Sexualität in Ableitung von Säkularisierungsprozessen. Der Schwerpunkt liegt dabei auf der Geschlechterordnung, die im Mittelpunkt einer Auseinandersetzung und Abgrenzung zwischen Judentum, Christentum und Islam steht. Diese symbolische Ordnung verhandelt die Rollen von Mann und Frau entsprechend dem Verhältnis zwischen Gott und den Menschen. Während im Judentum Sexualität als Begegnung mit Gott, aber auch als Unterscheidungsmechanismus zwischen dem unvollständigen Menschen und dem metasexuellen Gott gilt, basiert der moderne Islam auf einer Segregation der Geschlechter. Im Christentum ist die Trennung von Mensch und Gott in der Person Jesu aufgehoben. Christina von Braun charakterisiert die Postsexualität als Folge christlicher Denk- und Säkularisierungsprozesse. Auch sie konstatiert zwei Grundtendenzen, ähnlich wie Robert Pfaller: die sexuelle Aufladung des öffentlichen Raums und eine Sexualität, die sich aus der Fortpflanzung herauslöst. Die Sexualisierung des öffentlichen Raums wird durch das Heilversprechen der Genwissenschaft als libidinöse besetzt, während die Sexualität einen sakralen Status bekommt und funktionslos bleibt.
Ursula Neugebauer begreift menschliche Existenz als An- und Abwesenheit von Körpern. Sie stellt einige Arbeiten ihrer Kunststudenten vor, in denen sich die Sehnsucht nach dem großen Anderen oder dem einfachen Gegenüber herauskristallisiert. Es werden Videos, Installationen und Fotos beschrieben, die um die Mittelbarkeit des menschlichen Körpers kreisen. Eine junge Künstlerin tauscht in einer öffentlichen Toilette ihre gesamte Kleidung und entscheidende Identitätsmerkmale wie Pass, Geldkarte, Handy und Wohnungsschlüssel mit einem jungen Mann hinter einer Trennwand, der nicht auf dem Bildschirm erscheint. Ein junger niederländischer Künstler inszeniert dieselbe Abwesenheit in seinen Fotos: Man betrachtet ein zerwühltes Bett, einen leeren Schreibtischstuhl und einen verwelkenden Blumenstrauß auf einer Wohnzimmergarnitur. Ursula Neugebauers Beitrag wirkt isoliert in diesem Konglomerat an psychoanalytisch geprägten Sichtweisen, die sich mit dem Phänomen des Begehrens auseinandersetzen. Ein innovativer Beitrag, dessen thematische Einbettung und Erörterung mehr Platz verdient hätte.
Margaret Hauch und Silja Matthiesen gehen in ihrem Aufsatz auf die Bedeutung der Sexualität in der heterosexuellen Paarbeziehung ein. Forschungsleitende Frage ist, ob sich das Geschlechterverhältnis von sexuellen Rollenvorbildern gelöst hat oder ob es nicht vielmehr die Diskurse um Gleichberechtigung sind, die diese auch in den sexuellen Lebensstilen erwartbar, aber nicht unbedingt einlösbar machen. Anhand empirischer Daten des Institutes für Sozialforschung und Forensische Psychiatrie an der Universität Hamburg untersuchen sie die These der Angleichung bzw. der Auflösung tradierter Geschlechterbilder in den Feldern heterosexuelles Verhalten, Beziehungsverhalten, Masturbation und Orgasmushäufigkeit. Sie stellen fest, dass eine Angleichung in der sexuellen Erlebnisfähigkeit von Männern und Frauen in heterosexuellen Paarbeziehungen stattgefunden habe. Damit verbunden sei ein stärkerer gesellschaftlicher Druck, diese Erlebnisfähigkeit auch einzufordern, respektive sexuell aktiv zu sein und zu bleiben. Etwas einfach machen es sich die Autorinnen in der Frage nach der Orgasmusfähigkeit. Obwohl Frauen nach den Studien des Institutes im heterosexuellen Geschlechtsverkehr deutlich weniger als Männer zum Höhepunkt kommen, wird diese Differenz zwischen männlichen und weiblichem Sex nur unzureichend hinterfragt. Zwar erläutern die meisten der Teilnehmerinnen, dass sie Sexualität auch ohne Orgasmus genießen, doch spricht diese Aussage zugleich für ein traditionelles Geschlechterverhältnis, das Weiblichkeit mit Konsens und Empathie dem Partner gegenüber gleichsetzt und ein Pochen auf eigene Bedürfnisse ausschließt. Die Autorinnen erklären diese Diskrepanz damit, dass Frauen fehlende Höhepunkte besser kompensieren könnten, ohne zu hinterfragen, warum Männer Kompensation nicht nötig zu haben scheinen.
Das Sammelwerk beleuchtet schlüssig die Verwendung des Begehrensbegriffs der Post-Sexualität. Eine Auseinandersetzung mit neuen Medien, die ebenfalls zu einer Transformation des Begehrens beitragen, hätte dem Sammelband keinen Abbruch getan. Abrufbares Begehren im Internet, wie es von Partnerbörsen oder der Pornografie angeboten wird, ist kein Thema, unzureichend diskutiert wird zudem der noch stets aktuelle Zwang, sein Begehren nach gesellschaftlichen Normen zu richten und damit in heterosexuellen Beziehungsformen auszuleben. Wünschenswert wäre hier eine gender- oder queerspezifische Auseinandersetzung. Zudem fällt es mitunter schwer den verwendeten Begriff der Postsexualität als psychoanalytisches Novum aufzugreifen. Es hat den Anschein als hielte sich der Großteil der Autor/-innen in psychoanalytischem Fahrwasser auf, das mit den Freud’schen Debatten um das Inzestverbot und den Ödipuskomplex zu kämpfen hat. Dennoch bietet das Werk einen vielfältigen Einblick in den Begriffsdschungel des Begehrens.
URN urn:nbn:de:0114-qn103231
Julia Jäckel
Promotionsstudentin an der Universität München im Fach Soziologie, Forschungskolleg Prof. Dr. Paula-Irene Villa
E-Mail: juliasjaeckel@googlemail.com
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