Wer hat’s erfunden? Geschlechterdebatten um 1800 im männlichen Blick

Rezension von Esther Suzanne Pabst

Christoph Kucklick:

Das unmoralische Geschlecht.

Zur Genese der negativen Andrologie.

Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag 2008.

380 Seiten, ISBN 978-3-518-12538-0, € 13,00

Abstract: Christoph Kucklick rekonstruiert auf der Grundlage von zeitgenössischen Schriften Männlichkeitsentwürfe um 1800. In einer systemtheoretischen Ausrichtung deutet er die zu dieser Zeit entstehenden Geschlechtersemantiken als Ergebnis der funktionalen Differenzierung der modernen Gesellschaft. Damit wirft er einen neuen Blick auf die Geschlechterdebatten der Aufklärung, der bislang wenig untersuchte Entstehungs- und Begründungszusammenhänge moderner Männlichkeitskonstruktionen sichtbar macht. Kucklicks Behauptung, erstmals aufgedeckt zu haben, dass der aufklärerische Geschlechterdiskurs durch einen historisch neuen Zweifel an Männlichkeit bedingt sei, ist jedoch ebenso wenig haltbar wie seine provokative Forderung, dass die systemtheoretische Perspektive den machttheoretischen Ansatz ablösen solle.

Ursprungserzählung

Christoph Kucklick fragt in seiner Untersuchung nach dem Ursprung des Diskurses negativer Männlichkeit. Die Antwort: Die gegenwärtig beklagte „Herrschaft des antimaskulinen Ressentiments“ (S. 10) ist entgegen landläufiger Meinung „keineswegs eine Erfindung des späten 20. Jahrhunderts, sondern seit Anbeginn in das Gewebe der Moderne geätzt“ (S. 11). Zur Beweisführung rekonstruiert Kucklick in den ersten beiden Teilen seiner Arbeit das „Profil des Mannes“ (S. 198), wie es sich seiner Analyse zufolge in zeitgenössischen Schriften um 1800 darstellt. Demnach wird die Natur des Mannes (erster Teil) als unmoralisch, egoistisch, gewalttätig und triebhaft wahrgenommen. Dies macht den Mann zur Bedrohung für die Menschheit und die gesellschaftliche Ordnung. Zum Ausgleich wird die Frau in einem komplementären Denkmodell zur „Garantin von Sozialität“ (S. 91) erhoben, „zum Fundament von Sittlichkeit und sozialer Ordnung“ (S. 92). Im zweiten Teil arbeitet Kucklick die Komponenten im aufklärerischen Männlichkeitsentwurf heraus und deutet sie als Effekt der arbeitsteilig-differenzierten Gesellschaft. Im dritten Teil will er den Nachweis für die These erbringen, dass der in der Aufklärung entstehende Geschlechterdiskurs, der Männlichkeit negativ fasst, „sich als Korrelat der funktionalen Differenzierung der Gesellschaft verstehen [lässt], also als Effekt der Struktur der modernen Gesellschaft“ (S. 211). Ausgehend von dem Befund, dass die ‚negative Andrologie‘ konstitutiver Bestandteil der Moderne sei, unterzieht Kucklick Fichtes Deduction der Ehe, das „Phänomen des ‚weiblichen Blicks‘ um 1800“ und die „gewaltige Antionaniekampagne, die in der Mitte des 18. Jahrhunderts begann […]“, (S. 239) im vierten und letzten Abschnitt einer Relektüre, die bisherige Lesarten der Geschlechterforschung korrigieren soll.

Unter falscher Flagge

Kucklick behauptet, dass Feminismus und Geschlechterforschung bislang die „historische Tiefendimension des Männlichkeitszweifels in der Moderne“ (S. 11) übersehen hätten. Entsprechend wäre man bei der Betrachtung historischer Geschlechterdiskurse von einer kategorischen Zweiteilung ausgegangen, die einer positiven Männlichkeit eine negativ defizitäre Weiblichkeit gegenüberstellt. Der von ihm erbrachte Nachweis, dass die Genese der negativen Andrologie bereits um 1800 anzusetzen sei, also ca. 100 Jahre früher als es die Ergebnisse der einschlägigen Forschung vermuten ließen (vgl. S. 20), käme damit einer Entdeckung gleich, die „in wesentlichen Punkten der bisherigen Darstellung jener Zeit [widerspricht]“ (S. 13).

Diese Hauptthese als wissenschaftliche Sensation zu verkaufen funktioniert nur, wenn man unerwähnt lässt, dass die Entdeckung gar nicht so neu ist, wie es Das unmoralische Geschlecht glauben machen will. Und genau dies tut Kucklick. An keiner Stelle macht er explizit, dass seine Untersuchung auf einem Forschungsstand aufbaut, auf den paradoxerweise die Titelwahl verweist. In Das moralische Geschlecht hat Lieselotte Steinbrügge bereits 1987 die These formuliert, dass die im 18. Jahrhundert entstehenden Geschlechterkonstruktionen maßgeblich von einem historisch neuen Zweifel an Männlichkeit, konkret: an männlicher Vernunft und Moral bestimmt seien. Sie zeigt, dass und wie im Kontext des neuen Differenzdenkens das Weibliche als komplementärer Ausgleich negativer Facetten des Männlichen entworfen, die Frau zur moralischen Instanz der Gesellschaft erhoben und damit erstmals aufgewertet wird.

Wenn Kucklick den Titel Das unmoralische Geschlecht wählt, dann lässt dies seine Studie als ‚männliches‘ Pendant zu Steinbrügges Pionierwerk erscheinen. Dagegen lässt sich insofern nichts einwenden, als Kucklicks Untersuchung an die Überlegungen von Steinbrügge anschließt und den historischen Geschlechterdiskurs nun im ‚männlichen Blick‘ beleuchtet. Unverständlich ist das Vorgehen, diese Grundlagen nicht explizit zu machen, wohl in der fragwürdigen Absicht, den Erkenntnis- und damit den Marktwert seiner Studie zu steigern.

Neue Perspektiven

Dabei liefert Kucklicks Studie auch ohne ‚falsche Flagge‘ Ergebnisse, die die Entstehungs- und Begründungszusammenhänge moderner Geschlechterkonstruktionen in der Aufklärung erhellen. Kucklick betont zu Recht, dass er erstmals die Geburt der Männlichkeitskritik um 1800 systematisch untersucht. Neue Perspektiven auf deren Zustandekommen liefert seine Studie auch aus zwei weiteren Gründen: zum einen, indem für die Beweisführung auch Quellen herangezogen werden, die von der einschlägigen Forschung bislang nicht oder wenig beachtet wurden; zum andern dadurch, dass er einen systemtheoretischen Ansatz verwendet.

Im Hinblick auf das Textkorpus fällt allerdings auf, dass in der Liste der „bürgerlichen Meisterdenker“ (S. 11), zu denen Kucklick Fichte, Wilhelm von Humboldt, Hegel und Kant zählt, ohne jede Begründung ein für den Untersuchungsgegenstand bedeutender Autor fehlt: Rousseau. Entsprechend fehlt auch in der Beweisführung eine systematische, sich auf die Quellen selbst gründende Analyse von Rousseaus Texten. Diese Auslassung blendet einen wichtigen Wissens- und Argumentationszusammenhang aus und lässt sich auch nicht selbstredend mit dem Fokus auf die deutschsprachige Literatur legitimieren. Denn wie kein zweiter hat Rousseau den spätaufklärerischen Geschlechterdiskurs auch über Frankreichs Grenzen hinaus maßgeblich beeinflusst.

Zu den unbestreitbaren Innovationen der vorliegenden Studie gehört die gewählte theoretische Perspektive. Kucklick kritisiert, dass in den Gender Studies die machttheoretische Analyse dominiere, die von der Annahme ausgehe, dass „Männer [...] vor allem ihre Interessenlagen [artikulieren]“ (S. 24). Damit würden „jene Positionen ausgeblendet, die nicht in das Raster der vorgängig als ‚Interessen‘ definierten Zuschreibungen passen“ (S. 24). Hier wird erneut sichtbar, dass Kucklick gerne mal vorhandene Forschungsergebnisse ausblendet, die die eigenen Überlegungen weniger umstürzlerisch wirken lassen könnten. Denn die feministische Repressionsthese wurde von der Frauen- und Geschlechterforschung, von der sich Kucklick so bemüht abzugrenzen versucht, bereits vielfältig durch Ansätze ergänzt und relativiert, die von der Annahme ausgehen, dass historische Weiblichkeitsentwürfe nicht einzig als Produkt patriarchaler Macht- und Herrschaftsinteressen zu verstehen sind (so schon in Steinbrügges oben erwähnter bahnbrechender Studie). Dieser – gewichtige – Einwand soll aber nicht den Blick darauf verstellen, dass Kucklicks theoretische Ausrichtung neue Perspektiven eröffnet.

Kucklick schlägt vor, „von Macht auf Semantik um[zu]stellen“ (S. 25). Damit ist ein theoretischer Ansatz bezeichnet, der ausgehend von Luhmanns soziologischer Systemtheorie „Geschlecht und Interaktion/Gesellschaft explizit als Gegenentwurf gegen machttheoretische Positionen“ (S. 30) verbindet. Dieser habe den Vorteil, dass er von der problematischen Annahme abstrahiere, „von vorneherein zu wissen, dass sich alle Geschlechterbeziehungen und -diskurse im Modus der Dominanz vollziehen“ und dass dadurch der Blick frei werde für „andere Beziehungsformen“ (S. 26). In dieser Perspektive will Kucklick nachzeichnen, dass und wie der Diskurs der negativen Männlichkeit um 1800 „strukturgenau auf die funktional differenzierte Gesellschaft der Moderne passt“ (S. 15). Er legt dar, dass der negative Diskurs über Männlichkeit als konstitutiver Bestandteil der in dieser Zeit entstehenden bürgerlichen Gesellschaft verstanden werden kann.

Seine Schlussfolgerung, dass der von ihm nachgezeichnete Umbruch der Moderne „gleichsam hinter dem Rücken der Männer und Frauen stattgefunden [hat]“ und deshalb „nicht als Ausdruck ihrer Interessen“ (S. 28 f.) gedeutet werden kann, leuchtet jedoch nicht ein. Denn auch wenn der Überlegung zuzustimmen ist, dass die hierarchischen Geschlechterbeziehungen nicht einzig durch Machtbedürfnisse der Männer hervorgebracht und begründet werden, so lässt sich daraus nicht ableiten, dass es keine patriarchalen Herrschaftsinteressen gibt. Kucklicks Studie zeigt, dass die Machtanalytik fruchtbar durch neue Theoriemodelle ergänzt werden kann, um historische Geschlechterdebatten in ihrem soziokulturellen Kontext zu erfassen und zu deuten. Ersetzt werden kann sie dadurch aber nicht, wie Kucklick provozierend fordert, weil sonst die Machtverhältnisse, die das Geschlechterverhältnis strukturieren, aus dem Blick geraten.

Fazit

Trotz der hier vorgetragenen Einwände ist festzuhalten, dass Kucklicks Studie einen neuen Blick auf die Entstehungs- und Begründungszusammenhänge der modernen Geschlechterkonstruktionen wirft. Dass seine ‚Entdeckungen‘ nicht immer so revolutionär sind wie er selbst behauptet, wirkt befremdlich. Kucklicks Argumentation ist nicht immer stichhaltig und überzeugend. Letzteres ist u. a. dem offenkundigen Anliegen geschuldet, Grundfesten der Gender Studies erschüttern zu wollen und dafür auch mit Behauptungen zu arbeiten, die nicht haltbar sind. Seine Vorliebe für kernige Formulierungen macht den Text z. T. undifferenziert und dunkel und erschwert die Nachvollziehbarkeit seiner Beweisführung. Kucklicks provozierende Thesen und Behauptungen werden sicherlich Widerspruch hervorrufen. Aber auch darin zeigt sich ihr innovatives Potenzial.

URN urn:nbn:de:0114-qn103124

Dr. Esther Suzanne Pabst

Justus-Liebig-Universität Gießen

wissenschaftliche Mitarbeiterin, Institut für Romanistik, Französische Literatur- und Kulturwissenschaft

E-Mail: esther.s.pabst@romanistik.uni-giessen.de

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