Jochen Grywatsch (Hg.):
Raum.Ort.
Topographien der Annette von Droste-Hülshoff.
Hannover: Wehrhahn Verlag 2009.
310 Seiten, ISBN 978-3-86525-117-6, € 25,00
Abstract: Seit dem so genannten spatial turn ist Raum eine zentrale Kategorie auch der Literatur- und Kulturwissenschaften. Diesem ‚Paradigmenwechsel‘ entspricht der vorliegende Band, in dem neue Fragestellungen an das an Raumschilderungen so reiche Werk Droste-Hülshoffs herangetragen werden. Neben einer thematischen Einführung und einem theoretischen Überblick zu Raumkonzeptionen sind zwölf Beiträge versammelt, die sich u. a. mit Fragen nach einer Poetologie des Raums, nach den Raumkonzepten sowie deren Funktionen im Text beschäftigen. Die Relevanz dieser Fragestellungen für die Droste-Forschung wird überzeugend nachgewiesen. Zugleich kommt aber die theoretische Reflexion etwas zu kurz. Wichtigste und zum Teil einzige Referenz ist Michel Foucaults „Heterotopie“-Begriff – trotz oder wegen mancher Inkonsistenzen dieses Konzepts.
Raum, Ort, Topographien: Der von Jochen Grywatsch herausgegebene Band ist Fragen des Raums im Werk der Droste gewidmet. Dies ist in der Forschung nicht die erste Auseinandersetzung mit diesem Thema, jedoch eine Fokussierung, die nicht nur einem neuen wissenschaftlichen Paradigma Rechnung trägt, sondern auch dem Œuvre der Autorin, das eine besondere Aufmerksamkeit für Orte und Landschaften zeigt.
Seit dem so genannten spatial turn in den 1980er Jahren ist ‚Raum‘ zu einer wichtigen Analysekategorie geworden. In Folge der Auffassung von Literatur als per se ‚unräumlicher Kunst‘ war die literaturwissenschaftliche Diskussion lange Zeit abstinent gegenüber der Frage des literarischen Raums. Dieser wurde, wenn überhaupt, nur als Metapher oder Allegorie erörtert. Heute haben sich die Fragestellungen verändert; die Forschung zum literarischen Raum ist deutlich differenzierter und um wichtige Aspekte erweitert. Ein Umstand, der auch im vorliegenden Band zum Tragen kommt, der die Ergebnisse der gleichnamigen Tagung (18.–20. Mai 2007) dokumentiert.
In der Einführung zum Buch verweist Jochen Grywatsch auf die kulturwissenschaftliche Konzeptualisierung des Raumes, die von dessen Konstruktionscharakter ausgeht. Das Interesse richte sich auf einen „in der sozialen Praxis erschaffenen und gelebten Raum“, auf einen Raum, der „durch spezifische Verortung kultureller Praktiken“ entstehe (S. 9). In Bezug auf den Raum im Werk von Droste-Hülshoff dominierten bislang phänomenologische Studien. Es gelte daher nun, den literarischen Raum in ihrem Werk als „Medium der Selbsterforschung und -verortung des Subjekts“ (S. 11) und als ästhetische Konstruktion zu reflektieren.
Der Band versammelt neben der Einführung und einem Theorie-Überblick zwölf Aufsätze, die sich unter verschiedenen Gesichtspunkten mit Raum, Ort und Topographie im Werk Droste-Hülshoffs beschäftigen – von der Lyrik, über die Erzählungen bis zu den Briefen und Manuskriptblättern. Im Zentrum stehen Fragen nach dem Ort des Schreibens, nach der Positionierung des Autorinnensubjekts, nach einer Poetologie des Raums, nach den Raumkonzepten sowie deren Funktionen im Text.
Claudia Liebrand argumentiert in ihrem Beitrag, dass die Genrediskussion durch die Reflexion des Raums wesentlich bereichert werden könne. Sie identifiziert bei Droste-Hülshoff ein Genre-Amalgam, in dem auch die Dorfgeschichte eine wichtige Gattungsreferenz darstellt. Es sei der Raum, die dörfliche Welt im gebirgigen Westfalen, der genrekonstitutiv wirke (vgl. S. 151). Hier wie auch in anderen Texten zeige sich jedoch, dass Droste-Hülshoff nicht nur um die Gattungskonventionen und Erzähltraditionen wisse, sondern diese auch gekonnt und programmatisch unterlaufe. In Die Judenbuche eröffne sich ein „doppelt kodierter Raum“, in dem „die Idylle von der Anti-Idylle durchzogen ist und in dem Recht und Unrecht in Verwirrung gerathen sind“ (S. 152).
Die entgegen traditioneller Modelle kodierten Räume in dem Tragödienfragment Bertha untersucht Franz Schwarzbauer. Er kommt zu dem Befund, dass das Drama zwar wesentlich durch die Oppositionen Hof/Land sowie männlich/weiblich organisiert ist, aber sowohl die räumliche Ordnung als auch die Geschlechterordnung relativiert werden. Ist der Hof bekannt als Ort der Intrige, so betone Droste den Topos: „der Hof ist nicht mehr selber der Schauplatz, an dem die Intrige spielt, sondern bloßes Bild“, er ist „Schreckens- und Sehnsuchtsort zugleich“ (S. 183).
Die bislang in der Forschung weniger intensiv analysierten Briefe von Annette von Droste-Hülshoff stehen im Zentrum des Beitrags von Cornelia Blasberg. Sie diskutiert den Ort des Subjekts in den Briefen. Raum, hier verstanden als „sprachlich erzeugte und intersubjektiv ausgehandelte Ordnungsvorstellung“ (S. 216), erweise sich als zentrale Kategorie zum Verständnis der Briefe, die Blasberg als „Nahraum symbolischer Kommunikation“ (S. 219) beschreibt. Allerdings gebe es auch hier kein einheitliches Raummodell. Droste-Hülshoff nutze verschiedene Strategien in paradoxer Gleichzeitigkeit: die Nutzung des „traditionellen, raumkonstituierenden Briefdiskurses“ einerseits, eine „Durchstreichung der konventionellen Muster“ andererseits (S. 240 f.).
Heinrich Detering postuliert „metaphysische Landschaften“ in der geistlichen und „realistischen“ Lyrik der Droste. Jochen Grywatsch untersucht das spezifische Verhältnis von Raumdarstellung und Prozessen dichterisch-künstlerischer Imagination. In Gegenüberstellung zu Goethes West-östlichem Divan analysiert Mirjam Springer den Droste’schen Orient. Die Kurzsichtigkeit der Dichterin macht Ulrich Gaier zum Ausgangspunkt für sein Konzept der „konjizierten Wahrnehmung“ der Raumdarstellungen. Mit der Verortung und Entortung des „Ich[s] der Droste“ beschäftigt sich Winfried Woesler, der von dem konkreten „Hier und Jetzt“ der Autorin den Weg zur Fiktion nachzuvollziehen sucht. Rüdiger Nutt-Kofoth widmet sich Droste-Hülshoffs Umgang mit dem Schreibmaterial in seinem Beitrag über ihre Manuskriptblätter. Ernst Ribbat zeigt, dass Imagination und Reflexion der Erzählung Die Judenbuche „in besonderem Maße durch Räume und Orte, durch Topographie geprägt“ (S. 167 f.) ist. Foucaults Begriffe „non-lieu“ und „Heterotopie“ sowie Jurij Lotman sind die theoretischen Referenzen der Auseinandersetzung Lothar Köhns mit Brief und Versepos der Droste. Hinter der binären Struktur eröffne sich ein anderes Raumschema: eine Heterotopie. Ute Obhof schließlich nähert sich dem Thema über den Schwager der Autorin und untersucht „Joseph von Laßbergs Umgang mit literarischen und architektonischen Denkmälern des Mittelalters“.
Den theoretischen Rahmen des Bandes formuliert Kirsten Wagner, indem sie unter dem Titel „Raum, Ort, Lage“ Konzepte des Räumlichen vorstellt. Zweifellos gibt die Autorin hier einen guten Überblick; dass jedoch explizit darauf verzichtet wird, auf die Raumdebatten in der Literatur- und Kulturwissenschaft oder die Raumaspekte bei Droste-Hülshoff einzugehen, ist nicht nachvollziehbar.
Wie wichtig eine solche theoretische Verortung gewesen wäre, zeigt die unübersehbare Tendenz einiger Beiträge zu einer im engeren Sinn hermeneutischen, z. T. stark an der Biografie orientierten Lektüre, die zwar zweifelsohne wichtige Beobachtungen liefert, jedoch komplexere Reflexionen über den Raum in der Literatur vermissen lässt. Zentrale theoretische Referenz ist im gesamten Band Michel Foucaults Text Andere Räume, in dem er das Konzept der Heterotopie formuliert. Zu Recht wurde an diesem Text kritisiert, dass er inkonsistent und widersprüchlich sei. (vgl. Mary McLeod: ‚Other‘ Spaces and ‚Others‘. In: Diana Agrest, Diana/Patricia Conway/Leslie Kanes Weisman (Hg.): The Sex of Architecture. New York 1996, S. 15–28, hier S. 16). Zugleich hat die Offenheit von Foucaults Überlegungen die intensive Rezeption seines Textes begünstigt. Dass Andere Räume damit auch unterschiedliche und nicht immer ganz stimmige Anschlussmöglichkeiten eröffnet, zeigt sich auch bei dem einen oder anderen Beitrag des vorliegenden Bandes. So finden wir verschiedene Deutungen von Heterotopien, die unterschiedlich überzeugend sind: die Leerstelle im Text als Heterotopie (Springer, S. 103), der Baum in Die Judenbuche als Heterotopie (Ribbat, S. 174), Heterotopie als Modell des Versepos Das Hospiz auf dem großen St. Bernhard (Köhn), der heterotopische Spiegel als Modell für die Analyse der Briefe (Blasberg, S. 226 f.), das Manuskriptblatt als Heterotopie (Nutt-Kofoth, S. 251). Kurz: Das Konzept der Heterotopie dient als universelles Modell für alle Raumangaben, die ‚anders‘ sind.
Es wird deutlich, wie schwierig der Umgang mit dem Raumbegriff generell in der Literaturwissenschaft ist. Raum ist im Text, so scheint es, unumgehbar immer (auch) eine Metapher – selbst in der Sprache der Literaturwissenschaft über den Raum im Text.
Raum, Ort, Topographien – die Beiträge in diesem Band demonstrieren trotz der theoretischen Zurückhaltung, wie fruchtbar die Auseinandersetzung mit dem Raum im Werk von Annette Droste-Hülshoff sein kann, und eröffnen neue Perspektiven für die weitere Forschung.
URN urn:nbn:de:0114-qn103117
Susanne Hochreiter
Universität Wien
Institut für Germanistik, Universitätsassistentin
E-Mail: susanne.hochreiter@univie.ac.at
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