Viel Mobilität, wenig Gender-Dynamik

Rezension von Carola Bauschke-Urban

Sigrid Metz-Göckel, Mirjana Morokvasic-Müller, Agnes Senganata Münst (Eds):

Migration and Mobility in an Enlarged Europe.

A Gender Perspective.

Opladen u.a.: Verlag Barbara Budrich 2008.

304 Seiten, ISBN 978-3-86649-108-3, € 29,90

Abstract: Die europäischen Grenzen haben sich seit dem Fall der Mauer dramatisch verändert und neuartige Migrationsformen wie die Pendelmigration oder die auf temporäre Arbeitsmärkte exakt zugeschnittene ‚Just-in-Time‘-Migration hervorgebracht. Der sehr empfehlenswerte Band beleuchtet unterschiedliche Dimensionen dieser sozialen Veränderungsprozesse aus einer konsequenten Genderperspektive und macht die Vielfältigkeit der neuen Migrationsströme von Frauen und Männern im Dienstleistungssektor aus und in mittel- und osteuropäischen Ländern sichtbar. Er integriert international vergleichende Perspektiven, die von Feldforschungen in Polen, in der Türkei, in Deutschland, den Niederlanden, Österreich, Italien und Slowenien berichten.

Empowerment durch Migration?

Die Beiträge des Sammelbandes ranken sich um die Frage, ob Migration und Mobilität zu einer Traditionalisierung der Geschlechterverhältnisse führen oder ob die neu gewonnenen – allerdings hoch riskanten – Freiheiten ein Aufbrechen traditionell organisierter Geschlechterverhältnisse nach sich ziehen. Sie beleuchten, wie Migrantinnen aus den ehemaligen sozialistischen Ländern Mittel- und Osteuropas transnationale Lebensformen entwickeln, und zeigen, dass sie v. a. in traditionell weiblich besetzten Arbeitsmärkten wie der Haus- und Pflegearbeit beschäftigt sind. Die Studien nehmen die sozialen Effekte von ungesicherten und zum Teil auch undokumentierten Arbeitsverhältnissen im Hausarbeitssektor in den Blick. Sie untersuchen folgende Perspektiven: Ist transnationale Mobilität eine Ressource im Sinne einer „transnational capability“ (Al-Ali/Koser 2001) und kann transnationale Migration von Haushaltsarbeiterinnen als Mittel zum Empowerment betrachtet werden? Oder sind sie vor dem Hintergrund des Arbeitskräftemangels im Haushalts- und Pflegesektor Ausdruck von sich verfestigenden stereotypen Geschlechterverhältnissen in einem Europa, in dem diese reproduktive Arbeit nach wie vor überwiegend von Frauen erledigt wird?

Einen sehr guten einführenden Überblick über den Wandel von Migrationsmustern von Frauen aus mittel- und osteuropäischen Ländern gibt Kristina Slany. Sie konstatiert eine deutliche Transformation von der historischen Phase vor dem Mauerfall, in der Frauen sich nicht an Migrationsbewegungen beteiligten, hin zu einem wachsenden Migrationsanteil von Frauen ab Mitte der 1990er Jahre; inzwischen ist er höher als der von Männern. Slany spricht von einer hypermobilen und weiblichen Migration und porträtiert die neuen Migrantinnen als überwiegend jung, unverheiratet, flexibel und qualifiziert. Dorota Praszalowicz ergänzt diese Perspektiven mit einem detaillierten Überblick über die Migration aus Polen nach dem Mauerfall und zeigt, dass ein regelrechtes „Migrationsfieber“ ausgebrochen ist, in dem traditionelle Genderrollen jedoch weitgehend reproduziert werden.

Moderne Sklaverei und Migration auf Abruf

Die Entstehung neuer transnationaler Arbeitsmärkte für Migrant/-innen sowie die Rollen von Arbeitgebern und Arbeitsvermittlern wird in einer Reihe von Aufsätzen analysiert. Ludovica Banfi und Ayse Akalin untersuchen beide die Entstehung von neuartigen Ungleichheitsverhältnissen in den Arbeitsbedingungen von Migrantinnen in Italien bzw. in der Türkei. Banfi zeigt, dass in Italien bezahlte Hausarbeit tendenziell zwar abgenommen hat, der Anteil von Migrantinnen, die als Live-ins für die Kinderbetreuung eingestellt werden, jedoch steigt und insbesondere für Haushalte mit berufstägigen Frauen, die über ein höheres Einkommen verfügen, relevant ist. Eine solche Verschiebung der Sorgearbeit auf Migrantinnen zeichnet sich auch in der Türkei ab, in der die Rekrutierung von Haushaltsarbeiterinnen aus Mittelasien (insbesondere aus Aserbaijan, Turkmenistan und Usbekistan) das traditionelle Arrangement zur Kindererziehung in reichen Familien ablöst. Zuvor war diese Haushalts- und Sorgearbeit überwiegend türkischen Frauen übertragen worden, die von den Großmüttern der Familien kontrolliert wurden. Die mobilen Haushaltsarbeiterinnen haben dabei heute in der Türkei einen besonders niedrigen und prekären sozialen Status inne.

Agnes Senganata Münst betrachtet ein analoges Phänomen im Kontext undokumentierter Pendelmigration von Polinnen in deutsche Privathaushalte. Unter Rückgriff auf eine ego-zentrierte Netzwerk-Analyse und mit engem Anschluss an den Bourdieu’schen Kapitalbegriff weist Münst auf die Zentralität von Mittlerpersonen hin („polish connections“), die auf dem undokumentierten Haushaltsarbeitsmarkt eine bislang wenig erforschte Personengruppe bilden. Offen bleibt in dieser Untersuchung jedoch die Frage, welche ökonomischen Vorteile Vermittlungspersonen aus den Arrangements mit ihren Klientinnen ziehen. Diese Lücke schließt Roos Pijpers in einem Beitrag über die Rollen illegaler Arbeitgeber sowie illegaler Vermittler aus den Niederlanden in der deutsch-niederländischen Grenzregion. Dabei geht es um polnische Wanderarbeiter, mehrheitlich Männer, die im Baugewerbe arbeiten. Die illegalen Arbeitsbeziehungen erscheinen hier als eine Form moderner Sklaverei, in der es den Unternehmern möglich ist, einen maximalen Gewinn bei minimaler Lohnzahlung zu erzielen.

Die außerordentlich große Unsicherheit und Flexibilität von slowenischen Pendelmigrantinnen in der Agrar- und Hotelindustrie Italiens, Deutschlands und Österreichs beschreibt David Karjanen in seiner Analyse des Phänomens der Migration auf Abruf, der ‚Just-in-Time‘-Migration. Auch diese gut qualifizierten und unverheirateten Migrantinnen, die der Erwerbslosigkeit in Slowenien entfliehen, arbeiten überwiegend undokumentiert, und es werden für diese hoch riskanten Arbeitsverhältnisse fast ausschließlich junge Frauen rekrutiert. Diese ‚Just-in-time‘-Migration schreibt traditionelle Rollenmuster in der Arbeitsteilung ebenso fest, wie es auch an den Beispielen der polnischen, aserbaidschanischen, usbekischen und turkmenischen Haushaltsarbeiterinnen sowie in der Analyse der Arbeitsbedingungen von polnischen Wanderarbeitern im Bausektor im deutsch-niederländischen Grenzraum gezeigt wurde.

In ihrem scharfsinnigen Beitrag über Au Pairs als billige Haushaltsarbeiterinnen eröffnet Sabine Hess den Blick auf einen weiteren verdeckten und informellen Arbeitsmarkt für junge Migrantinnen. Sie zeigt darin, wie die Abhängigkeit in Bezug auf ihren Aufenthaltsstatus und die ökonomische Ausbeutung durch diskursive Strategien, in denen die Haushaltsarbeit von Au Pairs als „Hilfe“ und als „kultureller Austausch“ kommunikativen Niederschlag findet, systematisch verschleiert wird.

Dobrochna Kalwa analysiert in ihrem Aufsatz „Commuting Between Private Lives“ eine untypische Gruppe von polnischen Pendelmigrantinnen im Haushaltsarbeitssektor, die zwischen Mitte 40 und Mitte 50 sind. Hier findet sich eine graduelle Verschiebung weiblicher Identitätsmuster, die allerdings keine grundlegende Veränderung in der traditionellen Konstellation der Geschlechterverhältnisse ist. Kalwa beschreibt aber, wie die von ihr untersuchte Gruppe älterer Migrantinnen traditionelle Rollenmuster und ihre kulturelle Herkunft als Ressource nutzen, um durch ihre neu gewonnenen finanziellen Spielräume ihre Position in ihren Familien in Polen dauerhaft zu stärken.

Fazit

Die sorgfältig zusammengestellten Beiträge des Sammelbandes eröffnen spannende Perspektiven auf neue geographische und soziale Konstellationen und Migrationsformen in und aus den postsozialistischen Staaten in Ost- und Mitteleuropa und zeigen vor allem Verharrungen und nur wenige Transformationen der Geschlechterverhältnisse in diesen neuen transnationalen sozialen Konstellationen und Arbeitsmärkten auf. Die weitgehende Beschränkung des Bandes auf mobile Arbeitsverhältnisse im Haushalts- und Dienstleistungssektor klammert die Migration von Hochqualifizierten sowie von Studierenden aus. Deren weitere Erforschung bleibt damit ein Desiderat für die Zukunft.

URN urn:nbn:de:0114-qn103256

Dr. des. Carola Bauschke-Urban

TU Dortmund

Post-Doc Researcher, Center for Higher Education Research and Faculty Development (HDZ)

E-Mail: carola.bauschke-urban@tu-dortmund.de

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