Nationalsozialismus und Geschlecht

Rezension von Veronika Springmann

Elke Frietsch, Christina Herkommer (Hg.):

Nationalsozialismus und Geschlecht.

Zur Politisierung und Ästhetisierung von Körper, „Rasse“ und Sexualität im „Dritten Reich“ und nach 1945..

Bielefeld: transcript Verlag 2009.

456 Seiten, ISBN 978-3-89942-854-4, € 35,80

Abstract: Der vorliegende Tagungsband versammelt 21 Aufsätze, die sich aus sehr unterschiedlichen Perspektiven mit Vorstellungen, Konstruktionen, Konzeptionen und Projektionen von Geschlecht jeweils in Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus beschäftigen.Auch wenn die Fülle des Bandes zunächst erschlägt, lohnt sich die Auseinandersetzung mit einigen Aufsätzen.

Kontext

Der Titel des vorliegenden Tagungsbandes verweist auf eine Vielzahl von Bedeutungsebenen, Bildern und Diskussionen. Geschlecht ist eine Kategorie, die Ordnungsvorstellungen prägt, normative Bilder von Männlichkeit und Weiblichkeit konstituiert, Handlungs-, aber auch Erinnerungsräume definiert. Auch in Bezug auf den Nationalsozialismus wird deutlich, dass der retrospektive Blick auf Geschlecht nicht mit den realen Handlungsräumen übereinstimmen muss. Dies zeigt sich etwa am Bild der weiblichen Unschuld, das der Entlastungsdiskurs der 1950er Jahre produziert hat.

Insofern ist der Titel des Sammelbandes bezeichnend, denn er legt nahe, dass unter anderem diese Differenz zwischen retrospektivem Diskurs und realen Handlungsräumen und die daraus entstehenden Konflikte in der Geschichtsschreibung in den Blick geraten. Die Erwartungen sind also groß. Doch bereits die Einführung der beiden Herausgeberinnen Elke Frietsch und Christine Herkommer enttäuscht, denn eine Vielzahl von Studien, die in den letzten Jahren zu diesen Themenfeldern entstanden sind, bleibt unberücksichtigt. Vor diesem Hintergrund wirkt der Vorwurf an die Mainstreamforschung, sie sei „durchsetzt von Klischees“ und „undifferenziert“, sehr kühn und wird außerdem sehr pauschal und kaum belegt vorgetragen.

Aufgeteilt ist der Band in drei Bereiche: 1. Unterschiedliche Perspektiven der Geschlechterforschung zum Nationalsozialismus, 2. Geschlechterdifferenzen im ‚Dritten Reich‘, 3. Das soziale Gedächtnis und die Identitätspolitik nach 1945. Im Folgenden werde ich einige Aufsätze vorstellen, die mir methodisch aufgefallen sind.

Seit dem Erscheinen des Sammelbandes von Kirsten Heinsohn, Barbara Vogel und Ulrike Weckel Zwischen Karriere und Verfolgung (Frankfurt am Main: Campus Verlag 1998) hat sich in der Forschung längst die Einsicht durchgesetzt, dass eine simplifizierende Opfer-Täter-Dichotomie nicht aufrechtzuhalten ist. Dass das in populärwissenschaftlicher Hinsicht anders aussieht, zeigt Johanna Gehmacher anschaulich in ihrem Beitrag über „populäre Perspektiven auf Frauen der NS-Elite“. Wie prägt die Darstellung von Frauen der NS-Elite das Bild der nationalsozialistischen Herrschaft? Wie werden in Dokumentarfilmen populäre Perspektiven auf die Frauen in der NS-Elite visualisiert? (vgl. zu ähnliche Fragen zu Spielfilmen in diesem Band Annette Dietrich und Andrea Nachtigal). Ihr Fazit ist, dass Frauen in klischierten Darstellungen des Nationalsozialismus allgegenwärtig seien, so z. B. in Guido Knopps Dokumentarfilm Hitlers Frauen. Gehmacher analysiert jedoch nicht nur Bildquellen, sondern auch autobiographische Darstellungen, bspw. Der Preis der Herrlichkeit. Erlebte Zeitgeschichte von Henriette von Schirach. In beiden Quellen erkennt sie eine metaphorische Verflechtung. Die bekannten Repräsentantinnen des Nationalsozialismus werden oft als Geliebte oder Verehrerinnen Hitlers präsentiert und stehen damit für das verführte Deutschland. Gleichzeitig wurde lange, auch schon vor Guido Knopp, angenommen, dass es vor allem die Frauen waren, die Hitler an die Macht gebracht haben (vgl. S. 55). Diese Behauptung impliziert, dass „wer sich vor der verführerischen Frau retten kann, [ ] vor dem Faschismus geschützt“ sei (vgl. S. 64). Gehmacher stellt hier Knopp in einer Reihe mit Joachim Fest (Das Gesicht des Dritten Reiches. München: Piper Verlag 1963). Eine andere Darstellungsform ist das Bild der harmlosen Frau, die dem Mann nur einen geschützten Privatraum gibt, damit dieser sich von den Härten seines Alltags ausruhen kann. Beiden Formen gemeinsam ist die Funktionalisierung von Frauen, die nicht als eigenständig handelnde Subjekte wahrgenommen werden.

Geschlecht als prägende Kategorie?

Inwieweit das „Bild der weiblichen Unschuld“ auch den Blick der Justiz auf die Beteiligung von Frauen an der Gewaltherrschaft bestimmte, beleuchten zwei Aufsätze (Massimiliano Livi und Simone Erpel). Massimiliano Livi, der bereits eine Biographie zu Gertrud Scholtz-Klink verfasste, fragt danach, „wie stark die Vorstellungen von der politischen Partizipation, der Schuld und der Verantwortung der Angeklagten durch die geschlechtsspezifische Deutung ihrer sozialen und politischen Funktionen beeinflusst werden.“ (S. 327) Es gelingt ihm vorzüglich, einerseits die politische Sphäre der Reichsfrauenführerin darzustellen und andererseits zu zeigen, wie schwer sich das Gericht im Entnazifizierungsverfahren damit tat, es mit einer Frau zu tun zu haben, die während der nationalsozialistischen Herrschaft eine aktive Politikerin war und immer noch von der Richtigkeit ihrer Ideologie und ihres Handelns überzeugt war. Dadurch, dass das Gericht ihre Einflusssphäre als sozial und (deswegen) unpolitisch definierte, wurden Entlastungsgründe geschaffen. Genau diese Reduzierung verhinderte eine genauere Untersuchung des Feldes, in dem sich Gertrud Scholtz-Klink bewegte. Livis Beitrag zeigt deutlich die Verschränkungen unterschiedlicher Untersuchungsebenen und Vorstellungen, die sich wie bei einem Palimpsest – einem mehrfach überschriebenen Text – übereinander legen.

Gewalt und Geschlecht

Die österreichische Sozialwissenschaftlerin Brigitte Halbmayer hat einen methodisch sehr instruktiven Beitrag über sexualisierte Gewalt gegen Frauen in nationalsozialistischen Konzentrationslagern verfasst. Dass Frauen oft anderen Praktiken der Gewalt ausgesetzt waren als Männer, macht einen geschlechterdifferenzierenden Blick auf Gewaltformen notwendig. Das mag wie eine Binsenweisheit klingen, ist aber in der Forschung noch nicht umfassend umgesetzt worden. So hat etwa Wolfgang Sofsky in seiner wegweisenden Studie Die Ordnung des Terrors. Das Konzentrationslager (Frankfurt am Main: S. Fischer Verlag 1993) genau diesen Aspekt vernachlässigt. In ihren Ausführungen macht Halbmayer deutlich, dass neben Geschlecht auch der Aspekt des Rassismus und Antisemitismus mit einbezogen werden müssen: „Frau war und ist nicht gleich Frau“, so ihr Plädoyer. Das bleibt nicht nur eine Phrase, sondern wird in ihrer auf Gewaltformen ausgerichteten Untersuchung auch tatsächlich empirisch belegt. Sie sieht vier Gewaltgruppen: sexualisierte frauenfeindliche Gewalt, sexualisiert-antisemitische und rassistische Gewalt, sexualisiert-eugenische Gewalt und schließlich Gewalt gegen homosexuelle Männer und Frauen. Diese Unterscheidung, die, so Halbmayer, „auf die ideologische Verknüpfung von Frauenfeindlichkeit mit Rassismus, Antisemitismus, Antiziganismus, Heterosexismus und Eugenik veweist“ (vgl. S.151), verdeutlicht, dass Geschlecht intersektionell begriffen werden muss. Entgegen des Trends der letzten Jahre innerhalb der Gewaltforschung, dem Gewaltbegriff von Heinrich Popitz zu folgen, der Gewalt als Machtaktion begreift, die „zur absichtlichen körperlichen Verletzung anderer führt“ (Heinrich Popitz: Phänomene der Macht. Tübingen: J.V.B. Mohr 1986, S. 73), folgt Halbmayer dem strukturellen Gewaltbegriff von John Galtung. So ist es ihr möglich, auch Formen der körperlichen Demütigungen – wie bspw. das Haare-Scheren nach der Ankunft im Konzentrationslager – als Gewalt zu fassen und damit auch die symbolische und psychische Dimension von Gewalt zu berücksichtigen.

Robert Sommer hat über die Häftlingsbordelle in den nationalsozialistischen Konzentrationslagern (Robert Sommer: Das KZ-Bordell. Sexuelle Zwangsarbeit in nationalsozialistischen Konzentrationslagern. Paderborn: Verlag Ferdinand Schöningh 2009) geforscht. In diesem Aufsatz richtet sich sein Blick jedoch nicht auf die Frauen, die als Prostituierte in den Bordellen arbeiten mussten, sondern auf die männlichen Häftlingen, die die Bordelle aufgesucht haben. Welche Bedeutung hatte dieses Verhalten für deren Sexualität und deren Konstruktion von Männlichkeit? Schwierige und spannende Fragen, bei denen man sich allerdings fragt, auf welcher empirischen Grundlage diese beantwortet werden können. Lange Zeit war dies ein Tabuthema. Zwar liegen sowohl Interviews mit Frauen, die in den Bordellen arbeiten mussten, als auch mit Männern, die diese Bordelle aufsuchten, vor. Es stellt sich jedoch die Frage nach der Validität dieser Aussagen, gerade vor dem Hintergrund der „Selbstzensur und Erinnerungsfilter“ der Aussagen der Männer (vgl. 157). Wenngleich der Autor dies zu Beginn seines Aufsatzes betont, lässt er bisweilen jedoch einen kritischen Abstand zu seinen Quellen vermissen oder greift Gerüchte auf, die zwar jahrelang kolportiert wurden, aber deswegen nicht unbedingt glaubwürdiger erscheinen (vgl. S. 185). Gerade die Frage danach, welchen Narrativen Gerüchte bzw. Erzählungen folgen und welchen Sinndeutungen sie unterworfen sind, wäre an dieser Stelle notwendig gewesen, um deutlich zu machen, dass Gerüchte subjektive Interpretationen sind, in die gesellschaftliche Beurteilungen mit eingeflochten werden.

Wie heikel das Thema Sexualität ist, zeigt auch der Artikel von Patrice Arnaud über „die deutsch-französischen Liebesbeziehungen der französischen Zwangsarbeiter und beurlaubten Kriegsgefangenen im ‚Dritten Reich‘“. Ausgangspunkt seiner Überlegungen ist die Frage, wie die Männer in der Nachkriegszeit diese Beziehungen mit deutschen Frauen beschreiben (S. 180). Bedauerlicherweise erlaubt es die magere Quellenlage nicht, nach der Perspektive der Frauen zu fragen, so dass dieser Teil der Beziehungen ungehört bleibt. Die Männer beschreiben die Beziehungen als sehr gefährlich, nicht zuletzt deswegen, so Arnaud, um sich selbst als heroisch darzustellen. Es seien die Frauen gewesen, die die Initiative ergriffen hätten. Das ist eine spannende und bemerkenswerte Aussage vieler Zwangsarbeiter. Ob die Männer damit aber ein Geständnis abgeben, welches „die gesellschaftliche Hierarchie der Geschlechter in Frage stellt“ (S. 189), wie Arnaud vermutet, ist eine Lesart. Sehr ähnlich ist Sabine Grenz’ Schilderung in ihrem Beitrag über Prostitution im Nachkriegsdeutschland. Auch hier werden die Frauen als die Aktiven dargestellt. Auf der Grundlage von zwei Tagebüchern untersucht Grenz, wie die Beziehungen mit den alliierten Soldaten bewertet wurden. Es mag nicht erstaunen, dass das gesellschaftliche Urteil negativ ausfällt. Moralvorstellungen sind gemeinschaftsbildend, argumentiert Grenz mit Rekurs auf Sonya O. Rose: „Weibliche Sexualität wird immer dann besonders diskutiert, wenn die nationale Identität neu erfunden werden muss“ (S. 425).

Neue Perspektiven

Gerade mit Blick auf die Handlungsräume von Frauen im Nationalsozialismus repräsentiert der Sammelband nicht den aktuellen Forschungsstand (vgl. z. B. Sybille Steinbacher (Hg.): Volksgenossinnen. Frauen in der NS-Volksgemeinschaft. Göttingen: Wallstein Verlag 2007; Franka Maubach: Die Stellung halten. Kriegserfahrungen und Lebensgeschichten von Wehrmachtshelferinnen. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2009). Von dieser Einschränkung abgesehen, bieten einige Aufsätze interessante Perspektiven hinsichtlich weiterführender Fragen, wie die nach Bedeutung und Erfahrung von Sexualität. Gut und anregend wäre es jedoch gewesen, manche Fragen und Probleme miteinander in Beziehung zu setzen und den ganzen Band stringenter zu konzipieren. Doch das ist die Crux vieler Tagungsbände.

URN urn:nbn:de:0114-qn103150

Veronika Springmann

Carl von Ossietzky Universität Oldenburg

E-Mail: veronika.springmann@web.de

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