Wer schreibt? Gender und das autobiographische Schreiben

Rezension von Aleksandra Bednarowska

Renate Hof, Susanne Rohr (Hg.):

Inszenierte Erfahrung.

Gender und Genre in Tagebuch, Autobiographie, Essay.

Tübingen: Stauffenburg Verlag 2008.

314 Seiten, ISBN 978-3-86057-164-4, € 39,50

Abstract: Die literarischen Genres Tagebuch, Essay und Autobiographie stehen zwischen Fakt und Fiktion und spiegeln eine spezifische Art der Relation von Erfahrung und Schreiben wider. Die Frage, inwieweit die Strategien, mit denen Authentizität sowohl in den erwähnten Genres als auch im Film und Musik als Darstellungseffekt erzielt wird, genderspezifisch sind, soll im Zentrum dieses interdisziplinär angelegten Sammelbandes stehen. In den im Band versammelten fünfzehn Beiträge wird untersucht, wie in den jeweiligen Gattungen die Wechselbeziehung zwischen Fakt und Fiktion die Rezeption der Leserin bzw. des Lesers und damit die Wahrnehmung – hier als soziale und individuelle Praxis verstanden – der dargestellten Realität mit strukturiert. Nur aus einzelnen Beiträgen ergibt sich dabei ein neuer methodischer Zugang zu Problemen der Autobiographik.

Die thematische Breite des Bandes

Mit der Vorstellung einer Vielzahl von Beispielen literarischer Autobiographien, Tagebücher, Essays und anderer Medien wie Dokumentarfilmen, Filmtagebüchern und Songs (vorwiegend aus Amerika und Großbritannien, aber auch aus Frankreich und Deutschland) leisten die Herausgeberinnen des Bandes sowohl einen Beitrag zur Gattungsgeschichte der autobiographischen Literatur als auch zur Geschlechterforschung.

Der Band enthält Beiträge von deutschen und österreichischen Wissenschaftler/-innen aus den Bereichen Germanistik, Amerikanistik, Kultur- und Filmwissenschaft. Neben älteren Texten von Frauen, z. B. autobiographischen Texten aus dem 18. und 19. Jahrhundert (speziell von der deutschen Autorin Sophie von La Roche und der Amerikanerin Margaret Fuller) sowie den Tagebüchern von Virginia Woolf und Sylvia Plath, werden auch Autobiographien von obdachlosen Männern aus New York aus den 90er Jahren des 20. Jahrhunderts, autobiographische Texte von Philip Roth sowie Essays von Virginia Woolf, Susan Sontag, Gertrude Stein und Annie Dillard dargestellt und analysiert.

Zusätzlich werden auch andere Medien einbezogen; dies aufgrund der Prämisse, dass die Korrelation zwischen der Art der Darstellung der eigenen Person und dem Umgang mit der Möglichkeit von Selbsterkenntnis, also die Frage nach der Authenzität der dargestellten Erfahrung, nicht nur für literarische Texte, sondern auch für neuere Medien, in denen das ‚Ich‘ sich selbst betrachtet, relevant ist. Die Beiträge aus dem Bereich der Filmwissenschaft bieten u. a. Analysen der autobiographischen Dokumentarfilme von drei amerikanischen Filmemachern und des feministischen Filmtagebuchs Gently down the Stream von Su Friedrich.

Das dem Band zugrunde liegende Konzept der Interdisziplinarität scheitert jedoch erstens an diffusen Auswahlkriterien für die Beiträge, die eine Zusammenstellung von Texten von La Roche mit Songs von Björk oder PJ Harvey in einem Sammelband erlauben, und zweitens an der Auslassung der postkolonialen Forschungsansätze, die seit Jahren die amerikanische Literatur- und Filmwissenschaft stark beeinflussen. Obwohl in der Einleitung darauf hingewiesen wird, dass „women of color in Amerika“ (S. 18) über die Interpendenz von Gender mit anderen Kategorien wie race, class und ethnicity geschrieben haben und dass diese Erkenntnisse zusammen mit den neuen Ansätzen von poststrukturalistischen Theorien und New Historicism einen wichtigen Beitrag zum Wandel von Genre-Konzepten beigetragen haben, werden die Kategorien race und class – außer in den Aufsätzen von Dorothea Löbbermann und Susanne Rohr – nicht berücksichtigt. Bei einem interdisziplinär konzipierten Band, der sich so stark auf die Amerikanistik konzentriert, ist die Auslassung der Forschung von bell hooks, Patricia Hill Collins, Gayatri Spivak, Sara Suleri, Nelli Y. McKay und von autobiographischen Texten von people of color problematisch.

Genre und Gender

In der Einleitung wird zuerst der Begriff Authentizität in Bezug auf Lebensgeschichten und die Neukonzeption des Genre-Konzepts erläutert. Im zweiten Teil, der dem Zusammenhang von Gender und Genre gewidmet ist, weist Renate Hof darauf hin, dass das Geschlecht der Schreibenden die Wahl literarischer Kommunikationsformen vor allem aufgrund des mehr oder minder offenen Zugangs zu bestimmten literarischen Gattungen beeinflusst.

Weiterhin macht Hof darauf aufmerksam, dass „Genres für alle Beteiligten Kommunikationsmöglichkeiten und Handlungsspielräume“(S. 13) konstruieren und literaturwissenschaftliche Genrekonzepte daher nicht ohne die Berücksichtigung der Korrelation zwischen Autorschaft und Autorität sowie ohne eine Analyse der jeweiligen Funktion von Autorschaft innerhalb gesellschaftlich vorgegebener Schreibpositionen auskommen können.

Während im vorliegenden Band die theoretischen Implikationen dieses neuen Genre-Konzepts intensiv diskutiert werden, werden neue Ansätze zur Gendertheorie kaum berücksichtigt, und die Frage, wie der Begriff Gender von den Autor/-innen dieses Bandes jeweils konzeptionell verwendet oder weiterentwickelt wird, bleibt unbeantwortet. Gender (oder auch: Genderidentität) wird zwar in fast allen Aufsätzen als thematischer Gegenstand und/oder Analysekategorie berücksichtigt. Der Begriff Gender wird jedoch recht unterschiedlich aufgefasst und von manchen Autor/-innen mit ‚Frau‘ gleichgesetzt, was zur Verengung der Kategorie vorwiegend auf weibliche Autorschaft führt. Andere Autor/-innen wie z. B. Anna Babka gehen von der Genderkonzeption Judith Butlers aus und betrachten Geschlecht als (sozial) konstruiert. Die Aufsätze, die sich mit Philip Roth, mit Autobiographien von Obdachlosen und dem autobiographischen Dokumentarfilm beschäftigen, basieren dagegen methodisch ausschließlich auf Konzepten der Männlichkeitsforschung.

Das nicht eindeutige Verständnis von Gender als Analysekategorie und die Unterschiedlichkeit der in den einzelnen Beiträgen behandelten autobiographischen Zeugnisse erschweren die Beurteilung der dem Band zugrunde liegenden Ansätze der Autobiographieforschung. Im Ergebnis machen die Beiträge des Bandes jedoch deutlich, dass die Entwicklung des autobiographischen Schreibens und der Darstellung des ‚Ich‘ in der modernen Kunst eine Modifizierung der wissenschaftlichen Perspektive auf die Interaktion von Genre- und Genderkonzepten erforderlich macht. Leider gibt es in dem Band nur einzelne Beiträge – unter anderem von Hof, Braidt, Löbbermann, Rohr –, die in dieser Hinsicht wirklich neue methodische Ansätze bieten.

Tagebuch und Autobiographie

Auf Grund der thematischen Breite des Sammelbandes würde eine Darstellung aller Einzelstudien den Rahmen sprengen; ich konzentriere mich daher in der Rezension auf die Beiträge zu den zwei Genres Tagebuch und Autobiographie. Die Aufsätze, in denen das Genre des Tagebuches behandelt wird, beschäftigen sich insbesondere mit der Praxis des Tagebuchschreibens, die sowohl von der Mischung aus Erfundenem, literarisch Überhöhtem und spontan niedergeschriebenen Erlebnissen als auch den herrschenden literarischen Mustern und Vorbildern geprägt wird. Am Beispiel der Tagebücher von Sylvia Plath zeigt Arno Dusini, wie durch die Editionspraxis die „Tagebuch-Stimme“ verstellt wird. In breiter, vergleichend angelegter Perspektive behandelt Nicole Seifert die Praxis des Tagebuchschreibens sowie die Diskrepanz zwischen „dem Geschehen und dem das Geschehene beschreibenden Text“ (S. 49) an Beispielen von Tagebüchern von Sofia Andrejewna Tolstaja, Franz Kafka, Johann Wolfgang von Goethe, Virginia Woolf, André Gide, Roland Barthes und Elias Canetti.

Die der Autobiographie gewidmeten Aufsätze sind überwiegend enttäuschend. Die Autor/-innen stützen sich vorwiegend auf das Konzept des autobiographischen Paktes von Phillipe Lejeune bzw. die Theorien von Paul de Man und bieten auch in der Auseinandersetzung mit neueren Autobiographietheorien (u. a. von Butler und Derrida) wenig Neues. Eine Ausnahme stellt die interessante Studie über die Autobiographien dreier Obdachloser von Dorothea Löbberman dar.

Der einzige Beitrag aus dem Bereich der deutschen Literaturgeschichte ist die Untersuchung von autobiographischen Texten deutscher Autorinnen an der Schwelle zum 19. Jahrhundert mit besonderer Berücksichtigung des Textes von Sophie von La Roche Mein Schreibetisch (1799), La Roches Text ist keine typische Autobiographie, sondern ein verlängerter Brief, in dem sie ihre Lektüre beschreibt. Man muss sich fragen, warum gerade dieser Text repräsentativ für die weibliche Autobiographie um 1800 sein soll – statt der Autobiographie von La Roche, die am Anfang des Romans Melusinens Sommer-Abende (1806) steht, oder eine von den Lebensbeschreibungen aus dem Band Ich wünschte so gar gelehrt zu werden. Drei Autobiographien von Frauen des 18. Jahrhunderts (Göttingen 1994). Gleichwohl liefert der Aufsatz eine überzeugende diachrone Darstellung der weiblichen Autobiographik und zeigt, wie wichtig es ist, die Texte in historischer Perspektive zu betrachten.

Der Aufsatz von Dorothea Löbbermann, in dem sie Grand Central Winter: Stories from the Street vom Lee Stringer, Travels with Lizbeth von Lars Eighner und My Life on the Street von Joe Homeless analysiert, ist positiv hervorzuheben, weil die Autorin einen Blick auf Texte wirft, die von aus der Mainstream-Gesellschaft Ausgestoßenen stammen. Die Autoren dieser Texte setzen sich aus der Perspektive des Ausgegrenztseins mit dem herrschenden Konzept von Männlichkeit, der Erfahrung von Alterität und der kulturellen und sozialen Fremdheit auseinander. Löbbermanns Textanalysen basieren auf einem innovativen theoretischen Ansatz; gefragt wird nach dem spezifischen Ort der Autor/-innen: „Das Wo des Schreibens […] signalisiert einen räumlichen Abstand des Autors zu seiner Leserschaft, der stärker gesellschaftlich charakterisiert ist als der räumliche Abstand, den andere Autobiographen durch den Rückzug in das Schreibzimmer einnehmen.“ (S. 133)

Fazit

Die im Band versammelten Untersuchungen von unterschiedlichen Formen der Selbstdarstellung, die die Konzepte von gender, class, race und ethnicity berücksichtigen, liefern einen wichtigen Beitrag zur aktuellen Literatur- und Filmwissenschaft. Der zugrunde liegende interdisziplinäre Ansatz erweitert zwar die Forschung um neue Perspektiven, zeigt aber vor allem, dass es nicht genügt, die Vielfältigkeit autobiographischer Zeugnisse nachzuweisen, sondern dass es erforderlich ist, gleichzeitig die Methoden zur Analyse dieser Zeugnisse grundlegend zu modifizieren.

URN urn:nbn:de:0114-qn103197

Dr. Aleksandra Bednarowska

Pädagogische Universität Krakow, Polen

Neophilologisches Institut

E-Mail: abednaro@kent.edu

Creative Commons License
Dieser Text steht unter einer Creative Commons Namensnennung 3.0 Deutschland Lizenz. Hinweise zur Nutzung dieses Textes finden Sie unter http://www.querelles-net.de/index.php/qn/pages/view/creativecommons.