Mechtild Oechsle, Helen Knauf, Christiane Maschetzke, Elke Rosowski:
Abitur und was dann?
Berufsorientierung und Lebensplanung junger Frauen und Männer und der Einfluss von Schule und Eltern.
Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 2009.
347 Seiten, ISBN 978-3-8100-3925-5, € 39,90
Abstract: Mit der Veränderung der Arbeitswelt haben sich auch die Wertorientierungen von Jugendlichen verändert – sie können nicht mehr davon ausgehen, dass sie einen Beruf für das ganze Leben finden, und angesichts drohender Arbeitslosigkeit gewinnt die Familie an Bedeutung. Das hat auch die Berufsorientierungsprozesse verkompliziert: Die Berufswahl muss sich nicht nur an den Vorgaben der Arbeitswelt orientieren, die immer weniger einschätzbar sind und sich im Laufe des Lebens stark verändern können, sondern sie nimmt auch wichtige Fragen der Lebensplanung in den Blick. Die Frage nach dem (unterschiedlichen) Umgang von Mädchen und Jungen mit dieser Situation steht im Mittelpunkt der vorliegenden Studie.
Der Band ist in der sozialwissenschaftlichen Reihe „Geschlecht & Gesellschaft“ erschienen. Nur in wenigen Beiträgen werden aber die Unterschiede zwischen den Geschlechtern explizit behandelt, die meisten Autor/-innen beschäftigen sich mit dem Thema der Berufsorientierung im Allgemeinen. Im Folgenden sollen vor allem diejenigen Beiträge besprochen werden, in denen ein genderorientierter Blickwinkel zugrunde gelegt wurde. Insgesamt weist die Anlage des Bandes wenige Bezüge der Beiträge untereinander auf; nur von einigen Forscherinnen wurden teilweise aufeinander bezogene Studien durchgeführt. Eine Gesamtkonzeption sowie auch ein Fazit für den gesamten Band fehlen leider.
Mechtild Oechsle, Professorin für Sozialwissenschaften an der Universität Bielefeld, bietet einführend eine Problemskizze und einen Forschungsüberblick über „Berufsorientierungsprozesse unter Bedingungen entgrenzter Arbeit und entstandardisierter Lebensläufe“. Sie betont die Komplexität von Berufswahlentscheidungen in der psychisch prekären Lebenssituation der Spätadoleszenz, in der Jugendliche ihre Identitätssuche noch nicht abgeschlossen haben. Es sei demnach Ziel der Untersuchung zu rekonstruieren, wie Jugendliche sich unter dem Einfluss von Geschlecht, Elternhaus und Schule verhalten.
Knauf, Oechsle und Rosowski beschreiben im dritten Kapitel das Forschungsdesign und die Methodik ihrer Untersuchung: Im Sommer 2001 wurden mit einem teilstandardisierten Fragebogen in 74 Schulen im Regierungsbezirk Detmold die Koordinatorinnen und Koordinatoren für Berufsorientierung über ihre Schulen, ihre Berufswahlangebote, die Rahmenbedingungen und ihre Erfahrungen befragt. Es wurden fünf typische Angebotsstrukturen herausgefunden (vgl. Kap. 7), nach denen nun an sechs ausgewählten Schulen 125 Schülerinnen und Schüler zu ihrem Berufswahlprozess kurz in teilstandardisierten Fragebögen befragt wurden. Von diesen wurden dann wieder 60 übernommen (31 Frauen, 29 Männer), mit denen problemzentrierte Interviews durchgeführt wurden. Die Schülerinnen und Schüler wurden nach ihrer Repräsentativität für folgende Merkmale ausgewählt: Nationalität, Bildungsabschluss der Eltern, Schulwechsel, Berufs- und Studienwünsche, Stand der Berufsorientierung. Diese Interviews orientierten sich an einem vorgegebenen Leitfaden, ihnen folgte oft ein informelles Gespräch. Sie enthielten aber auch einen narrativen Teil und ein Postskript der Interviewerin zu den Gesprächsbesonderheiten. Leider werden weder dieser Leitfaden noch andere Fragebögen in dem vorliegenden Band präsentiert, was es teilweise schwierig macht, den genauen Verlauf der Untersuchung nachzuvollziehen.
Die Studie wurde zu einer Längsschnittuntersuchung erweitert: Zum einen wurden die Koordinatorinnen und Koordinatoren im Jahr 2007 noch einmal über Veränderungen befragt, zum anderen wurden in einer Telefonbefragung die Schüler/-innen 2003 (nach 18 Monaten) und 2006 bzw. 2007 (vier bzw. fünf Jahre nach dem Abitur) auf ihre Erfahrungen mit dem Berufswahlprozess oder veränderte Konstellationen angesprochen. Themen hier waren eine Bilanz der Berufswahlentscheidungen und die Einschätzung der aktuellen Situation.
Mechtild Oechsle stellt im vierten Kapitel „Orientierungen und Handlungsstrategien im Übergang von der Schule in Ausbildung und Studium“ vor. Dabei geht es um die grundsätzliche Balancefindung von Abiturient/-innen zwischen der Orientierung am Arbeitsmarkt und den eigenen Neigungen oder Fähigkeiten. Oechsle untersucht insbesondere, was die Berufswahlfindung verzögern kann. Bezogen auf Fragen des Geschlechts lässt sich feststellen, dass gerade die Berufsfindung von jungen Frauen behindert werden kann durch die Widersprüche und Ambivalenzen, die sich aus ihren Versuchen ergeben, Familien- und Berufsleben kompatibel zu gestalten.
Das wohl wichtigste Kapitel zu Geschlechterfragen ist das der Diplom-Soziologin Elke Rosowski: In „Berufsorientierung im Kontext von Lebensplanung. Welche Rolle spielt das Geschlecht?“ (5. Kapitel) greift sie Ergebnisse der Genderstudien auf, die betonen, dass sich zwar der Diskurs bezüglich der Berufswahl von Mädchen verändert habe (alle Mädchen und Jungen betonen, wie wichtig Berufstätigkeit für Frauen ist), tatsächlich aber kaum konkrete Veränderungen bezüglich der gelebten Praxis eingetreten sind – weder was die Verteilung von Haushaltspflichten angeht noch die Bereitschaft zur Übernahme von Erziehungsurlaub. Diese Ergebnisse werden durch die vorliegende Studie bestätigt: Auch hier signalisieren alle (weiblichen und männlichen) Befragten, dass sie die Vereinbarkeit von Familie und Beruf anstreben, bei konkreten Nachfragen finden sich aber wieder traditionelle Vorstellungen oder aber Hilflosigkeit. Rosowski nennt das „Neue Orientierungen und alte Konzepte“. Dabei spielt es eine große Rolle, dass sich die Mädchen zwar von den Lebensentwürfen ihrer Eltern lossagen möchten, sich aber keine Alternativen vorstellen können. Grundsätzlich ist auffällig, dass sich immer noch drei Gruppen unter den Befragten festmachen lassen: Viele Mädchen und nur wenige Jungen verknüpfen berufliche Orientierung mit Lebensplanung, stellen sich also schon früh die Frage, wie Familie und Beruf vereinbar sind. Für eine zweite Gruppe von Mädchen und Jungen stellt diese Frage ein unlösbares Problem dar, das für sie aber keine Auswirkung auf Berufswahlprozesse hat. Eine dritte Gruppe (viele Jungen und nur wenige Mädchen) haben kaum Vorstellungen von ihrer Lebensplanung und wählen ihren Beruf deshalb völlig unabhängig von privaten Lebenszielen.
Die Diplom-Soziologin Christiane Maschetzke untersucht in 48 qualitativen Interviews „Die Bedeutung der Eltern im Prozess der Berufsorientierung“ (Kap. 6). Dabei kommt sie zu dem Schluss, dass die Eltern bei Berufswahlentscheidungen eine große Rolle spielen, auf die auch die (außer-)schulische Berufsorientierung genauer eingehen sollte. In unserem Kontext besonders interessant ist die Frage, ob Eltern als Vorbild wahrgenommen werden: Maschetzke zeigt, dass Väter wohl als Vorbilder gelten; dabei problematisieren die Töchter aber auch, dass für sie Nachteile in männerdominierten Berufen entstehen können. Wie die Interviews zeigen, sind die Orientierungen ihrer Mütter für die meisten Mädchen eher abschreckend, weil sie oft noch von traditionellen Lebensentwürfen als Hausfrau und Hinzuverdienerin bestimmt waren.
Die Bildungswissenschaftlerin Helen Knauf untersucht in „Die Schule und ihre Angebote zur Berufsorientierung“ (Kap. 7) die Entwicklung bei den Koordinatorinnen und Koordinatoren für Berufsorientierung. Knauf kommt zu dem Ergebnis, dass die Angebote der Schulen von den Schülerinnen und Schülern bereitwilliger angenommen werden, wenn sie eher auf individuelle Betreuung zielen statt auf die Weitergabe von Informationen. Bezogen auf den Kontext der geschlechterdifferenzierenden Betreuung wurde ermittelt, dass nur 17,6% der Schulen geschlechtersensible Angebote machen. Diese behandeln geschlechterbezogene Fragen oder richten sich in geschlechtergetrennten Gruppen nur an Jungen oder Mädchen.
In einem Schlusskapitel werten Helen Knauf und Elke Rosowski die Ergebnisse der Telefonbefragung, die einige Zeit nach dem Abitur stattgefunden hat, aus. Die jungen Frauen und Männer betonen, dass Berufswahlprozesse auch Jahre nach dem Abitur noch nicht abgeschlossen sind. Die jungen Männer weichen in ihren beruflichen Ambitionen deutlich von denen der jungen Frauen ab: Für sie ist es wichtiger, eine Führungsposition zu erreichen und Karriere zu machen, sie sehen die eigene berufliche Zukunft optimistischer als die weiblichen Befragten.
Die empirischen Studien der vier Sozialwissenschaftlerinnen lassen insgesamt zu viele Fragen offen: Gibt es wirklich eine Annäherung der beiden Geschlechter bezüglich der Frage der Vereinbarkeit von Beruf und Familie, oder lässt sich weiter feststellen, dass das Thema für Jungen kaum Relevanz hat? Inwieweit ist die Berufswahl eine Weichenstellung, die verantwortlich ist für eine spätere traditionelle Rollenaufteilung in Haushalt und Kindererziehung? Welche geschlechterdifferenzierenden Maßnahmen zur schulischen Berufsorientierung werden konkret eingesetzt, welche Erfolge lassen sich finden? Die Ergebnisse aus den problemzentrierten Interviews werden meist nur in Kurzzusammenfassungen durch die Interviewerinnen präsentiert. Dies erlaubt oft, vorliegende Daten nach eigenem Gutdünken zu interpretieren – ohne dass dies für die Leser/-innen immer nachvollziehbar ist. Auch konkrete Hilfen für die berufsorientierende Praxis bietet die Studie nicht. Die Studie hätte an Überzeugungskraft gewonnen, wenn die Anmerkungen zu den Besonderheiten der Geschlechter nicht nur auf das fünfte Kapitel konzentriert geblieben wären bzw. nicht mühselig aus den einzelnen Kapiteln herausgefiltert werden müssten.
URN urn:nbn:de:0114-qn111250
Dr. Annette Kliewer
Universität Koblenz
Privatdozentin an der Universität Koblenz-Landau, Campus Landau, Institut Germanistik und Oberstudienrätin am Gymnasium im Alfred-Grosser-Schulzentrum Bad Bergzabern
E-Mail: annette.kliewer@neuf.fr
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