Schnittstellen von Lebenswissen, Gender und Medien

Rezension von Stefanie Retzlaff

Astrid Deuber-Mankowsky, Christoph F.E. Holzhey, Anja Michaelsen (Hg.):

Der Einsatz des Lebens.

Lebenswissen, Medialisierung, Geschlecht.

Berlin: b_books 2009.

207 Seiten, ISBN 978-3-933557-93-3, € 19,00

Abstract: Im vorliegenden Sammelband wird der Frage nachgegangen, welchen Beitrag die Gender Studies und die Medienwissenschaften zur Diskussion um die Lebenswissenschaften im Sinne der „sciences de la vie“ leisten können und sollen. Mit Schwerpunkt auf dem 20. Jahrhundert wird ein großes Feld abgesteckt, und es wird in sehr heterogenen Beiträgen versucht, Schnittstellen dieser drei Bereiche sichtbar zu machen. Wenngleich die gemeinsame Fragestellung dabei teilweise nicht leicht erkennbar ist, sind viele der Beiträge für eine weitergehende interdisziplinäre Auseinandersetzung anregend. Dies vor allem dort, wo es gelungen ist zu zeigen, wie sich das Wissen vom Leben mit der Kategorie Geschlecht etwa im Medium Film verschränkt und mediale Effekte erzeugt sowie biopolitische Dispositive mitgeformt oder irritiert werden.

Der Begriff der Lebenswissenschaften wird in deutschsprachigen Debatten häufig als wissenschaftliches Paradigma des 21. Jahrhunderts bezeichnet und ist dabei in seinen Implikationen ebenso unklar wie umstritten. Im vorliegenden aus einer Ringvorlesung und einem Workshop an der Ruhr-Universität Bochum (unter Mitwirkung des Berlin Institute for Cultural Inquiry [ICI]) hervorgegangenen Band wird der Frage nachgegangen, welchen Beitrag die Geistes- und Kulturwissenschaften zur viel diskutierten sogenannten „lebenswissenschaftliche[n] Wende“ (S. 10) leisten können und sollen. Die Einleitung liefert zunächst eine kritische Auseinandersetzung mit dem Begriff der Lebenswissenschaften, wobei die Autor/-innen für eine Verwendung des Begriffs in französischer Prägung als „sciences de la vie“ plädieren, so dass die Historizität der Lebenswissenschaften wie auch des Wissens vom Leben selbst in den Blick gerückt werden. Mit der Fokussierung auf die Kategorie Geschlecht auf der einen und mit der Frage nach der Medialisierung auf der anderen Seite leistet der Band einen Beitrag zu der bereits durch den von Marie-Luise Angerer und Christiane König herausgegebenen Band Gender goes Life (Bielefeld: transcript Verlag 2008) angeregten Auseinandersetzung mit der Frage, in welcher Weise die Lebenswissenschaften eine Herausforderung für die Gender Studies und für die Medienwissenschaften darstellen.

Instituiertes Geschlecht, instituiertes Leben

Der Band ist in fünf Sektionen gegliedert, aus denen einzelne Teile hier repräsentativ vorgestellt werden sollen. Die erste Sektion „Prekäres Leben“ bündelt eine Replik Monique David-Ménards auf Judith Butlers politische post-9/11-Essays aus Precarious Life: The Powers of Mourning and Violence (London u. a.: Verso 2004) sowie wiederum eine Antwort Butlers auf Monique David-Ménard. Judith Butler knüpft in Precarious Life an einige ihrer älteren Texte an, und so geht es David-Ménard weniger um zentrale Thesen aus Butlers jüngster Publikation als um die Auseinandersetzung mit grundlegenderen theoretischen Annahmen: Sie kritisiert Butlers Auffassung, das biologische Geschlecht sei durch das Imaginäre einer natürlich gegebenen Differenz der Geschlechter instituiert respektive geformt und der lebendige Körper damit Effekt symbolischer Ordnungen. Judith Butler greift in ihrem Beitrag diese Kritik auf und fasst das Verhältnis von Form und Materialität als dynamisches: Materialisierung sei nicht bloß Effekt einer sozialen Konstruktion, sondern „der Prozess der Materialisierung [kann] als eine Verwandlung der Form verstanden werden“ (S. 50). Die These der sozialen Konstruiertheit des Geschlechts wird hier also nicht auf die Gemachtheit des Geschlechts hin akzentuiert, sondern auf eine Kontingenz der Form, die nie abgeschlossen sei und stets Teile produziere, die wahrnehmbar seien oder auch nicht wahrnehmbar bleiben können. Obwohl es in der Debatte David-Ménard – Butler wenig um den Begriff des Lebens selbst und weniger noch um mediale Verfahren geht, ist sie hinsichtlich der Theoriekonzeption Butlers ein recht aufschlussreicher Text.

Leben machen, sterben lassen

Die Sektionen „Biopolitik und Kinematographie“ und „Kontrolle und Produktivität“ stehen unter dem Zeichen von Foucaults Auffassung von Biopolitik als einer Macht, die das Leben nicht nur beherrschbar, sondern auch zu einer optimierenden Produktivkraft macht und im Gegensatz zur Souveränitätsmacht „leben macht und sterben lässt“ (S. 21). Am Beginn stehen zwei Texte, die beleuchten, welchen Beitrag das Medium Film nach 1970 zur Herausbildung des biopolitischen Dispositivs leistet. Anhand so unterschiedlicher Filme wie The Thin Red Line (USA/CDN 1998) oder Dancer in the Dark (DK 2000) zeigt Gertrud Koch, dass Todesangst und Überleben nicht allein Themen des Kinos sind, sondern entscheidend seine Bildstruktur mit bestimmen. Dabei partizipiere der Film an jener biopolitischen Konstellation, die auf die Optimierung des Lebens und die Privatisierung des Sterbens zielt, indem „tote Körper lebendig erhalten werden und lebende Körper einen ewigen Tod erfahren“ (S. 60). Im daran anschließenden Beitrag gelingt es Sabeth Buchmann, auch die Kategorie Geschlecht mit einzubinden, indem sie anhand avantgardistischer Filme der frühen 1970er Jahre zeigt, dass das Leben im Zentrum steht, wenn der vergeschlechtlichte Körper im Hinblick auf die moderne Medienkultur zum Gegenstand wird: In den analysierten Filmen trete durch die provokante Inszenierung des Körpers das Leben als eine „Form der Produktion von Wahrheiten über das Leben (der Körper) in und als Medien“ (S. 79) in Erscheinung.

In der Sektion „Kontrolle und Programm“ folgt der einzige Aufsatz des Bandes, dessen historische Perspektive etwas weiter zurück reicht. In ihrem Beitrag „Emanzipiertes Leben“ zeigt Kerstin Palm, wie in der Frühphase der Biologie im 18. Jahrhundert ein Lebensbegriff entsteht, „der über eine genderspezifische Konstruktionslogik zum Reflexionsmedium für das Selbstverständnis des modernen Menschen wird“ (S. 115). Anhand vitalistischer Zeugungstheorien wird von ihr nachgewiesen, dass sich im Konzept der Epigenese die Auffassung von der lebendigen Zeugungskraft verschiebt: An die Stelle göttlicher Determination trete die männliche Subjektivität als Ursprung – für Palm ein Beleg dafür, dass in diesem Konzept entgegen der meist veranschlagten diskursiven Verschränkung von Weiblichkeit mit Natur und Männlichkeit mit Kultur ein weitaus komplizierteres und widerspruchsreicheres Gendering vorliege.

Abstammung, Verwandtschaft und Geschlecht

In der mit „Überkommene Genealogien“ betitelten letzten Sektion des Bandes sind drei Beiträge versammelt, deren gemeinsamer Fokus die in Filmen und in der Literatur verhandelten Vorstellungen von Verwandtschaft sind, die wiederum seit den 1970er Jahren aufgrund von Gentechnologie oder Organtransplantationen veränderten Geltungsbedingungen unterworfen seien. Anja Michaelsen zeigt, wie die Adoption im Medium Film als „Topos gespaltener Elternschaft und kontingenter Verwandtschaft“ (S. 172) irritierende Effekte erzeugt und so auf fehlende Repräsentationsmodi sowie auf die Notwendigkeit, Verwandtschaft neu zu denken, verweist. Einen schönen Abschluss bildet der Aufsatz von Anja Streiter, der sich mit dem Verhältnis zwischen Jean Luc Nancys Text L'intrus/Der Eindringling (1999), in dem über die Folgen einer Herztransplantation philosophisch reflektiert wird, und dessen gleichnamiger filmischer Adaption von Claire Denis beschäftigt. Sowohl für Nancy als auch für Denis steht die Auflösung natürlich gedachter Gemeinschaften im Zentrum, und der sterbende Körper, „der mit Sinnlichkeit, Sinn und Sinnlosigkeit konfrontiert“ (S. 197), gerät in den Blick. Während Nancy die durch die Transplantation vollzogene Entfremdung vom eigenen Körper nüchtern beschreibe, gelinge es Claire Denis, den Fokus hin zu genealogischen Fragen zu verschieben und so die Auflösung der „als natürlich geltenden Blutsbande“ (S. 201) noch zu steigern.

Fazit

Der Band leistet einen wichtigen Beitrag zu dem bisher noch wenig erschlossenen Feld von Lebenswissen, Gender und Medialisierung. Viele der einzelnen Beiträge sind äußerst lesenswert und eröffnen ein facettenreiches Feld, doch lässt sich insgesamt nur schwer eine gemeinsame Fragestellung erkennen, und das Feld wird kaum systematisch erschlossen. Symptomatisch ist zudem, dass einige der Beiträge nur zwei der Bereiche, also nur Lebenswissen und Geschlecht oder nur Lebenswissen und Medialisierung (und meist in Bezug auf Film) adressieren. Darüber hinaus wird Lebenswissen oft mit Körperwissen enggeführt, so dass sich die Frage anschließen lässt, wie genau das Verhältnis zwischen beiden überhaupt zu denken wäre. Wenngleich der Ausruf einer „lebenswissenschaftlichen Wende“ (S. 29), an welcher der Band partizipieren möchte, im Anschluss an die Reihe der bald unzählbaren kulturwissenschaftlichen turns überflüssig erscheint, ist den Autor/-innen darin zuzustimmen, dass noch Bedarf an einer weitergehenden interdisziplinären Verständigung über das Wissen vom Leben besteht. Zu dieser leistet der Band einen anregenden Beitrag.

URN urn:nbn:de:0114-qn111264

Stefanie Retzlaff (M.A.)

Universität Erfurt

Doktorandin des Forums „Texte – Zeichen – Medien“ der Universität Erfurt sowie assoziiertes Mitglied des PhD-Net „Das Wissen der Literatur“ der Humboldt Universität zu Berlin

Homepage: http://www2.hu-berlin.de/wissen-literatur/data/Stefanie_Retzlaff_Logo.pdf

E-Mail: stefanie.retzlaff@uni-erfurt.de

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