Enrico Wolf:
Bewegte Körper – bewegte Bilder.
Der pornografische Film: Genrediskussion, Geschichte, Narrativik.
München: diskurs film Verlag 2008.
342 Seiten, ISBN 978-3-926372-67-3, € 44,00
Abstract: In der als Dissertation an der Universität Leipzig eingereichten Arbeit wird den Fragen nach einem Genreverständnis des pornografischen Films und seinen ästhetischen Formen aus einer filmwissenschaftlichen Perspektive nachgegangen. Der Autor beschreitet neue Wege in der detaillierten Beschreibung und Analyse pornografischer Filme, welche die Entdeckung von ästhetischen Konstituenten und historischen Entwicklungen ermöglicht, und kann damit einen differenzierten Blick auf die in ihrer Ästhetik durchaus nicht homogenen pornografischen Filmbilder leisten. An einigen Stellen wäre es wünschenswert (und lesefreundlicher) gewesen, über die formulierte Untersuchungsperspektive hinauszugehen und Beobachtungen nicht nur zu beschreiben, sondern sie auch weitergehend zu interpretieren.
Pornografische Filme, die seit Beginn des Kinos Teil des filmischen Korpus sind, werden nur zögerlich in die filmhistorische Geschichtsschreibung und in eine filmwissenschaftliche Genrekonzeption aufgenommen. Diskutiert wird und wurde das Thema Pornografie stärker in juristischen und feministischen Kontexten. Gegenstand ist hier häufiger die Frage, ob Pornografie sein dürfe oder nicht, als die Frage, was Pornografie eigentlich ist. Dabei wurde in den unterschiedlichen Diskursen häufig über Pornografie geschrieben und diskutiert, ohne die pornografischen Inhalte zu spezifizieren und deren historische Entwicklungen und Veränderungen zu berücksichtigen.
Wolf, der in seiner Dissertation empirisch arbeitet und für den Zeitraum von 1920 bis 1970 85 pornografische Kurzfilme und für den Zeitraum von 1970 bis 2000 sechs pornografische Filme in Spielfilmlänge untersucht, bricht mit dem Verständnis von Pornografie als „monolithischem Ganzen“ (S. 41) wie beispielsweise schon Linda Williams in Hard Core vor ihm (vgl. Linda Williams: Hard Core. Macht, Lust und die Traditionen des pornographischen Films. Basel 1995). Es ist eine beeindruckende Leistung des Autors, dass er ohne (wertende) Vorannahmen vom filmischen Material ausgeht und dieses offen beschreibt. Dies sollte eigentlich eine wissenschaftliche Selbstverständlichkeit sein, ist aber bei der Beschäftigung mit Pornografie dennoch erwähnenswert, da es sich dabei um ein polarisierendes Thema handelt. Wolf wendet sich den konkreten pornografischen Filmbildern sowie der spezifischen pornografischen Narration und Ästhetik zu und beschreibt diese. Dabei konzentriert sich Wolf auf ‚Mainstream-Pornografie‘, die sich an ein männlich-heterosexuelles Publikum wendet. Obwohl er auf Corinna Rückerts Dissertation (Frauenpornographie: Pornographie von Frauen für Frauen. Eine kulturwissenschaftliche Studie. Frankfurt am Main 2000) verweist, wird Frauenpornografie von Wolf ausgeklammert; auf geschlechterbezogene Unterschiede, welche Produktionsbedingungen, aber auch die Rezeption betreffen, geht er nur gelegentlich ein. Pornografie für ein homosexuell-männliches Publikum findet keine Erwähnung.
Die Schwierigkeit, die sich für das (wissenschaftliche) Schreiben über Pornografie ergibt, dass es nämlich keinen neutralen sprachlichen Code gibt, um über Pornografie zu sprechen oder zu schreiben, reflektiert Wolf zu Anfang. Er versucht zum einen, eine klinische Sprache zu vermeiden, die Sexualität aus dem Bereich des Alltagslebens verbannt, übernimmt aber auch nicht die pornografische Sprache, die nicht die notwendige wissenschaftliche Distanz ermöglichen würde. Wolf findet einen adäquaten Mittelweg; er beschreibt sexuelle Handlungen, wenn es ihm notwendig scheint, häufig verzichtet er dabei aber auf allzu ausführliche Schilderungen. Die konkrete Abfolge unterschiedlicher sexueller Praktiken in den einzelnen untersuchten Filmen wird im eigentlichen Text nicht explizit beschrieben, sondern findet sich im ausführlichen Anhang der Arbeit, in welchem Filmografien und Inhaltsangaben zu allen Filmen aufgeführt sind. Die verwendete Sprache, die sich eines distanzierten, aber nicht klinischen Vokabulars bedient, ist für die Lesenden angenehm.
Nicht thematisiert wird, dass auch oder gerade für Wissenschaftler/-innen eine Schwierigkeit darin besteht, eine reflektierte Haltung gegenüber der Pornografie einzunehmen, wie sie etwa Linda Williams in der Einleitung zu ihrem Buch Hard Core thematisiert: „[I]n dieser Zeit der sich wuchernd vermehrenden Diskurse über Sexualität scheint es mir für uns alle – Männer, Frauen, Feministinnen der Anti-Porno-Kampagne und der Anti-Zensur-Bewegung – hilfreich zu sein, wenigstens zuzugeben, daß uns die Bilder der harten Pornographie treffen, ob sie uns nun ärgern oder erregen, und fortzuschreiten zu einer Analyse der Macht und Lust, die sie für uns enthalten.“ (Linda Williams: Hard Core. Macht, Lust und die Traditionen des pornographischen Films. Basel 1995, S. 9.) Eine persönliche Positionierung zu den pornografischen Filmen, zu deren somatischer Wirkung oder eine Reflexion über sich als männlichen Zuschauer findet sich bei Wolf nicht.
Die formulierte Zielsetzung der Arbeit ist es, ein Genreverständnis des pornografischen Films zu entwickeln und dessen ästhetische Konstituenten herauszustellen. Dies ist nur begrenzt neu, wie auch in dem ausführlichen und profund recherchierten Kapitel zum Forschungsstand deutlich wird. Hier wird ein Überblick über die aktuelle Forschung zu Pornografie gegeben, aber auch ein Abriss der Forschungsgeschichte geleistet. Filmwissenschaftliche Annäherungen an den pornografischen Film gab es beispielsweise aus psychoanalytischer Perspektive von Gertrud Koch in ihrem Aufsatz „Schattenreich der Körper. Zum pornographischen Kino“ (In: Karola Gramann (Hg.): Lust und Elend: Das erotische Kino. Luzern u. a. 1981, S.16–39), Werner Faulstichs Versuch eines Überblicks (vgl. Werner Faulstich: Die Erotik des Blicks. Paderborn 2008) sowie Georg Seeßlens Überblickswerk Der pornografische Film (Frankfurt am Main u. a. 1994). Was Wolfs Arbeit leistet, ist die analytisch enge Arbeit am Film, die in der Untersuchung nah am Bild bleibt und dessen Quellen transparent macht. Der empirische Teil der Arbeit ist überzeugend. Er weist nachvollziehbar die historischen Entwicklungen und Veränderungen des pornografischen Films nach.
Was Wolfs Arbeit ebenfalls leistet, ist, die Zusammenhänge zwischen den ästhetischen Formen der pornografischen Filme und den jeweiligen Produktionszusammenhängen, den Rezeptionssituationen, den technischen Entwicklungen und den juristischen Gegebenheiten zu verdeutlichen. Diese Aspekte arbeitet er als maßgebliche Konstituenten der pornografischen Ästhetik heraus: Es wird klar, welche Folgen die Illegalität und daraus resultierend das lange Zeit fehlende Urheberrecht für den Umgang mit pornografischen Filmen hatten, aber beispielsweise auch, inwiefern sich Produktions- und Rezeptionsbedingungen durch die Entwicklung von handlicheren Filmformaten wie 16mm oder 8mm, welche Privatpersonen den Zugang zur Produktions- und Abspieltechnik ermöglichten, veränderten. Auch die Nummernstruktur der pornografischen Filme und ihre fehlende narrative Geschlossenheit werden als Resultate ihrer spezifischen Rezeptionssituation gedeutet.
Der pornografische Film mit seiner spezifischen Nummernstruktur (vgl. S. 212) weist nach Wolf verschiedene Parallelen zum frühen Kino auf: So charakterisiere ihn – ganz ähnlich wie das Kino der Attraktionen (nach Tom Gunning) eher ein „Zeigegestus“ (S. 212) als ein „Erzählgestus“ (S. 212). Es gelingt Wolf nachzuweisen, dass die Pornografie wie auch das Kino der Attraktionen (und im Gegensatz zum Erzählkino) eher exhibitionistisch ist. Ihm fehlen die voyeuristischen point-of-view-Techniken, die es dem Zuschauer im Erzählkino ermöglichen, sich zu identifizieren und das Filmgeschehen unbemerkt zu beobachten. Der „konspirative Blick“ (S. 215) der Darstellenden in pornografischen Filmen in die Kamera zeuge von dem Wissen um ein anwesendes Publikum und zeige die dargestellten sexuellen Handlungen exhibitionistisch. Die Realismusillusion werde dadurch verweigert.
Trotz sorgfältiger Materialerschließung werden in der vorliegenden Arbeit inhaltliche Aspekte zum Teil nur angeschnitten und nicht ausreichend weitergeführt. So wird die Darstellung weiblicher Homosexualität als häufiger Topos in pornografischen Filmen genannt, aber nicht weiter begründet (vgl. S. 157). Ähnlich erwähnt, aber nicht ausgeführt wird, dass die männlichen Darsteller in pornografischen Filmen häufiger maskiert und somit in ihrer Identität unkenntlich gemacht sind als die weiblichen Darstellerinnen und dass diese deutlich mehr verdienten als ihre männlichen Kollegen, welche zum Teil kein Geld für ihre Rollen bekamen.
An solchen Stellen wäre es wünschenswert, dass die genannten Aspekte weitergeführt und kontextualisiert werden, möglicherweise mittels Verweisen auf andere Forschungsarbeiten (vgl. S. 157). Hier geht Wolf eher beschreibend als erklärend vor.
Neben den genannten Leistungen ist die Arbeit leider zum Teil schlecht lektoriert, so finden sich nicht nur einige Fehler in Fußnoten (z. B. S. 24, S. 133), sondern auch Fehler im Text wie unvollständige Sätze (S. 197) oder grammatikalische Fehler/Flüchtigkeitsfehler (z. B. S. 229).
Wolf beantwortet seine eingangs formulierte Fragestellung und ermöglicht den Leser/-innen einen differenzierten Blick auf pornografische Mainstreamfilme und deren Produktions- und Rezeptionsbedingungen, hinterfragt aber vielfach seine Beobachtungen nicht und bindet diese nicht immer schlüssig ein.
URN urn:nbn:de:0114-qn111102
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