Angelika Epple, Angelika Schaser (Hg.):
Gendering Historiography.
Beyond National Canons.
Frankfurt am Main u.a.: Campus Verlag 2009.
244 Seiten, ISBN 978-3-593-38960-8, € 34, 90
Abstract: Der Sammelband von Angelika Epple und Angelika Schaser bietet sowohl einen internationalen Überblick als auch detaillierte Einblicke in derzeitige geschlechtergeschichtliche und historiografische Forschungen. Die Beiträge erweitern zum einen den traditionellen historiografischen Kanon und fragen zum anderen nach den geschlechtlichen Grundlagen von In- und Exklusionen in der Geschichtswissenschaft. Dieser Wissenszuwachs treibt aber die nunmehr schon traditionell seitens der Geschlechtergeschichte geforderte Neuformulierung der ‚allgemeinen‘ (Historiografie-)Geschichte nicht merklich voran. Ein erster Schritt in diese Richtung läge möglicherweise in der Formulierung einer Differenztheorie als analytischem Rahmen für eine pluralistische ‚Neu‘erzählung.
Vor mehr als zehn Jahren forderten namhafte Vertreterinnen der Geschlechtergeschichte die Dekonstruktion und Umschreibung der traditionellen historischen master narratives unter geschlechtergeschichtlichem Blickwinkel (vgl. die Beiträge von Lynn Hunt und Karin Hausen in: Hans Medick und Anne-Charlott Trepp (Hg.): Geschlechtergeschichte und allgemeine Geschichte: Herausforderungen und Perspektiven. Göttingen: Wallstein Verlag 1998). Nun legen Angelika Epple (Bielefeld) und Angelika Schaser (Hamburg) einen international ausgerichteten Sammelband vor, der eben diese Forderung nach einer Neuformulierung kritisch aufgreift, bisher Erreichtes reflektiert und neue Ausblicke bietet. Alle Beiträge sind in englischer Sprache verfasst. Multiperspektivität und Pluralität sind Programm der Veröffentlichung: So verschieden die Herkunft der Autor/-innen, so unterschiedlich auch die in den Beiträgen behandelten Themen. Bei aller Diversität einen die Beiträge die Fragen nach Mechanismen der In- und Exklusion, die Prozesse historiografischer Traditionsbildung begleite(te)n, sowie nach Ansätzen zur Erweiterung des historiografischen Kanons.
In ihrer Einleitung, deren erster Abschnitt auch gut als knappe Zusammenfassung der geschlechterorientierten Historiografiegeschichtsschreibung der letzten zehn Jahre im internationalen Kontext gelesen werden kann, formulieren Epple/Schaser die Anliegen des Bandes. Zum einen soll der traditionelle Kanon der Geschichtswissenschaft in Frage gestellt und seine geschlechtliche Fundierung untersucht werden. Durch die Integration nicht nur historiografiegeschichtlicher, sondern auch geschlechterhistorischer Themen soll zum anderen eine Erweiterung dieses Kanons vorgenommen werden. Darüber hinaus fragen die Herausgeberinnen nach der strukturierenden Funktion von ‚Geschlecht‘ in wissenschaftlicher und populärer Geschichtsschreibung, nach Strategien der Grenzziehung zwischen diesen Bereichen sowie nach Möglichkeiten und Grenzen einer genderorientierten Umschreibung der ‚allgemeinen‘ Geschichte. Auf dieser Grundlage erhoffen sich Epple/Schaser eine Diskussion über die Möglichkeiten der Integration verschiedener geschichtswissenschaftlicher Ansätze in eine pluralistische „new ‚master narrative‘“ (S. 16).
Bonnie G. Smith und Maria Grever eröffnen den Beitragsteil mit einer Analyse der Probleme und Möglichkeiten von Geschichtsschreibung im Zeitalter der Globalisierung. Smith zeigt die Hartnäckigkeit gegenderter Historiografie, indem sie aufdeckt, wie die derzeitige US-amerikanische Globalgeschichtsschreibung ihren Anspruch auf Allgemeingültigkeit durch Konzentration auf Entdeckungen weißer Männer zu legitimieren versucht (vgl. S. 34). Dagegen entwirft Smith in aller Kürze und dennoch konkret ein Tableau geschlechtersensibler globaler Netzwerkgeschichte, das für weitere Forschungen anregend sein dürfte. Grever bemerkt in der gegenwärtigen Geschichtspolitik wie der Historiografie Westeuropas einen nationalen backlash angesichts einer noch nie dagewesenen Pluralisierung historischer Sichtweisen im globalen Zeitalter. Grever greift Rüsens Konzept der historical culture auf, um diesen exkludierenden Tendenzen gegenüber eine Erweiterung des bisherigen Kanons der Historiografiegeschichte zu operationalisieren. Für einen ähnlich breiten Historiographiebegriff plädiert später der Beitrag von Tiina Kinnunen, die am Beispiel der Feministinnen Alexandra Gripenberg und Ellen Key die enge Verflechtung von Geschichtsschreibung, Literatur und Theater aufzeigt.
Aus geschlechtergeschichtlicher Perspektive bestätigen und ergänzen die Beiträge von Irma Sulkunen, Claudia Kraft, Ulrike Gleixner, Ruth Barzilai-Lumbroso sowie Krista Cowman bekannte Beobachtungen zum Verhältnis von Professionalisierung und Ent-Weiblichung der (Geschichts-)Wissenschaft. Im Folgenden sei beispielhaft auf die Beiträge von Kraft, Barzilai-Lumbroso und Cowman eingegangen. In ihrem sehr dichten und informativen Beitrag untersucht Kraft die polnische Geschichtsschreibung zwischen 1772 und dem Ende des 19. Jahrhunderts auf die strukturierende Funktion von gender. Spannend wird das Beispiel der polnischen Historiografie wegen des Fehlens einer staatlichen Grundlage seit den Teilungen Polens im 18. Jahrhundert. Kraft veranschaulicht die unterschiedlichen Integrationen des Traumas der Staatenlosigkeit in zukunftsorientierte Versionen polnischer Geschichte in den historischen Schulen Warschaus und Krakaus sowie auch in nicht-wissenschaftlichen Medien. Ebenfalls populärhistorische Werke und deren Bedeutung für die Etablierung eines neuen nationalistischen (Geschichts-)Diskurses in Gesellschaft und Politik der post-kemalistischen Türkei nimmt Barzilai-Lumbroso in einem vielschichtigen Beitrag in den Blick. Die zur Durchsetzung des neuen Diskurses in Hinblick auf ‚populäres‘ Interesse und Breitenwirkung ausgesuchten ‚Klatsch‘geschichten trugen im Vergleich zur westlichen Historiografie recht frühzeitig zu einer, wenngleich ambivalenten Öffnung der populären Geschichtsschreibung für Frauenthemen bei. Cowman zeigt am Beispiel der britischen Frauenwahlrechtsgeschichte, wie die Bedeutung von Grenzziehungen zwischen akademischer und außeruniversitärer Geschichtsschreibung zur Legitimierung der eigenen wissenschaftlichen Position auch für feministisch orientierte Historikerinnen greift.
Einen Ansatz zur Reformulierung traditioneller historiografischer Narrative stellt Sylvia Paletschek in ihrem Beitrag vor. Nach Paletschek ist die bisherige relative Fruchtlosigkeit geschlechtergeschichtlicher Versuche der Umschreibung traditioneller Historiografie auf eine zweifache, zum Teil durchaus selbst hergestellte Problematik zurückzuführen: so sei die Kategorie ‚Geschlecht‘, aber auch die in der Geschlechtergeschichte untersuchten Themen „still marked as not truly worthy and not important in dominant discourse“ (S. 171; Hervorh. i.O.). Ihr Vorschlag, in Zukunft stärker große Frauen aus Politik, Kultur und Gesellschaft unter politik-, intellektuellen-, aber auch geschlechtergeschichtlichen Fragestellungen zu erforschen, um Ergebnisse sodann passgenauer in den geschichtswissenschaftlichen Kanon einschreiben zu können (vgl. S. 170), wird sicherlich umstritten sein, scheint er doch bisherigen Ansätzen und Forderungen nach einer Neuformulierung oder gar Dekonstruktion des (männlich geprägten) historiografischen Narrativs entgegenzustehen.
Heike Berger geht in ihrer ebenso dichten wie klaren Studie der von Paletschek (S. 174) aufgeworfenen Frage nach, welche Umstände eigentlich einen (berühmten) Historiker ‚machen‘. Berger zeigt, unter welchen Bedingungen Frauen auch im Nationalsozialismus als Historikerinnen Karriere machen konnten: außerhalb des akademischen Rahmens und in neu etablierten Forschungsfeldern. Trotz aller politisch und methodisch-fachlich motivierten Offenheit erfuhren Frauen aber auch in diesen Bereichen im Laufe der Zeit genderspezifische Beschränkungen.
Einen weiterführenden Ansatzpunkt bietet dann abschließend der Beitrag Martina Kessels. Kessel konstatiert die allgemeine Wirkmächtigkeit von Differenzkategorien wie gender, die weiterhin Gesellschaften und deren Wahrnehmungsweisen prägten (vgl. S. 228 und 232). Thematische, diskursive und narrative Legitimationen, insbesondere auch Vorstellungen der wissenschaftlichen persona, verliefen in der Wissenschaft als einem Teilbereich von Gesellschaft dann nach analogen Differenzmustern (vgl. S. 230 f.). Nicht nur mit Blick auf den Sammelband plädiert Kessel daher für eine allgemeine Theorie der Differenz zur Erklärung von In- und Exklusionsmechanismen moderner Gesellschaften. Möglicherweise könnte ein solch umfassend angelegter Theorienentwurf dann auch den Rahmen für eine pluralistische Geschichtserzählung bieten.
„The story of modern historiography’s exclusion of women […] has been told many times.“ (S. 225) Kessels einleitende Worte zu ihrem den Band abschließenden Beitrag fassen recht gut den Eindruck zum Ende der Lektüre zusammen. Wenngleich der Sammelband neben der Exklusion von Frauen auch Versuche der Re-Integration beschreibt sowie theoretische Reflexionen bietet – unterm Strich entsteht dennoch der Eindruck, die hier erzählten Geschichten im Großen und Ganzen schon zu kennen. Der Band bietet neue Details und interessante Verschiebungen, ergänzt und erweitert somit unser Wissen von ‚Geschichte‘ als wissenschaftlicher Praxis, Tradition und Denkmuster. Eine Zusammenführung der bisherigen und teils hier versammelten Forschungsergebnisse hin zu der von den Herausgeberinnen erhofften pluralistischen „new ‚master narrative‘“ (S. 16) bleibt jedoch weiterhin ein Desiderat – für das aber mit dieser Veröffentlichung schon ein gewisses Fundament geschaffen wäre.
URN urn:nbn:de:0114-qn111232
Svenja Kaduk, M.A.
Universität Bielefeld
BGHS, Doktorandin
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E-Mail: svenja.kaduk@uni-bielefeld.de
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